Zum Tod von Wladimir Schnittke

Wladimir Schnittke (1939-2022)

Ein Nachruf von Uta Gerlant

Viele Menschen in Berlin und darüber hinaus erinnern sich an Wladimir Schnittke: den kleinen, agilen weißhaarigen Herrn, der bei Benefizkonzerten zugunsten von Überlebenden sowjetischer Lager (GULag) die Situation der Betroffenen eindrücklich schilderte. Fast unmerklich brachte er Menschen zusammen; so auch in den letzten Tagen, in denen viele seiner Weggefährten aus Deutschland – fast alle eine Generation jünger als er – Erinnerungen an ihn austauschten, traurig über seinen Tod und dankbar für sein Leben, für die Begegnungen mit ihm.

Quelle: https://hro.org/node/18825?fbclid=IwAR2HQY4ZBehLbJvc-o2L2h0W9As1P6cv4dTaOCGy43jGauPQVRC0sj7q674

Am 12. Januar 2022 ist Wladimir Eduardowitsch Schnittke in Sankt Petersburg gestorben. Geboren am 27. Februar 1939 in Leningrad, wie die Stadt damals hieß, erlitt er als kleines Kind die Leningrader Blockade – 900 Tage, in denen die deutschen Truppen die Stadt vom Kontakt zur Außenwelt und damit von der Versorgung mit Lebensmitteln abschnitten. Täglicher Hunger prägte seine Kindheit. Sein Vater starb während der Blockade.

Seine Eltern waren Mediziner und überzeugte Bolschewiki, die den Entwicklungen unter Stalin kritisch gegenüber standen. Nach dem Tod seines Vaters lebte Wladimir Schnittke mit seiner Mutter zusammen, ein Leben lang. Er studierte am Leningrader Technologischen Institut und arbeitete danach als Chemie-Ingenieur in unterschiedlichen leitenden Positionen.

Nach dem Studium, das Wladimir Schnittke 1963 abgeschlossen hatte, waren einige der Absolventen zur Arbeit in unterschiedliche Industriestädte vermittelt worden. Da sie untereinander weiterhin Kontakt hielten erfuhren sie von Ereignissen, über die in keiner Zeitung berichtet wurde. Besonders erschütterte die ehemaligen Studienfreunde die Nachricht über die blutige Niederschlagung des Streiks von Nowotscherkassk, die sich bereits 1962 ereignet hatte. Daraufhin gründeten Valerij Ronkin und Sergej Chachajew eine marxistische Gruppe, die sich gegen eine Restalinisierung wandte. Sie verfassten die programmatische Schrift „Von der Diktatur der Bürokratie zur Diktatur des Proletariats“, nannten sich später „Bund der Kommunarden“, gaben in der Tradition Alexander Herzens an der Zensur vorbei eine Zeitschrift namens „Kolokol“ (“Die Glocke“) heraus und verteilten Flugblätter. Wladimir Schnittke schloss sich 1964 der Gruppe an. 1965 wurden zahlreiche Mitglieder verhaftet; neun von ihnen wurde der Prozess gemacht. Wladimir Schnittke wurde aus Mangel an Beweisen freigelassen, aber administrativ bestraft und aus der Polymerforschung in eine Fabrik versetzt. In den darauffolgenden Jahren unterstützte er die Familien der inhaftierten Freunde und besuchte die Freunde im Lager.

Seit 1965 widmete sich Wladimir Schnittke außerdem einer Leidenschaft: der Erforschung des Tunguskischen Phänomens. 1908 hatte sich mitten in Sibirien eine gewaltige Explosion ereignet, welche die Wissenschaft vor viele Rätsel stellte. Wladimir Schnittke beteiligte sich an selbst organisierten Expeditionen in das Krasnojarsker Gebiet, um der Sache auf den Grund zu gehen – und genoss die Freiheit, die solche Forschungsreisen in die einsame Natur boten.

1989 gründete Wladimir Schnittke gemeinsam mit anderen Dissidenten Memorial in Sankt Petersburg. Seit 1991 Vorstandsmitglied, leitete er seit 1993 die soziale Kommission. Ab 1994 war Wladimir Schnittke Vorstandsmitglied des russischen und des internationalen Memorialverbandes.
Er organisierte für die GULag-Überlebenden in Sankt Petersburg finanzielle Unterstützung, Medikamente und Zusammenkünfte mit kulturellem Programm sowie Ausflüge. Außerdem unterstützte er auch die Überlebenden des Nationalsozialismus und bot verschiedenen Opferorganisationen wie den ehemaligen KZ-Häftlingen, minderjährigen NS-Opfern und Zwangsarbeitern bei Memorial ein Dach. 1996 bis 1998 war Wladimir Schnittke Vorstandsmitglied der Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“ in Moskau und 1997 Mitbegründer des wissenschaftlich-aufklärerischen Zentrums „Holocaust“ in Sankt Petersburg. Wladimir Schnittke förderte auch das Engagement von Jüngeren bei Memorial – so entstand die antifaschistische Gruppe mit ihrer Zeitschrift „Tumbalalajka“, die sich besonders für Roma im Leningrader Gebiet einsetzte. Wladimir Schnittke machte das, womit man nicht im Rampenlicht steht und wofür man keine Lorbeeren erntet: er kümmerte sich um arme, alte und kranke Menschen und setze sich für die Rechte von Strafgefangenen ein – bescheiden, freundlich und energisch. Er war ein Menschenrechtler, der in Kommissionen an Papieren schrieb, aber vor allem ganz praktisch wirkte. Mehrmals war er Angriffen ausgesetzt: Im August 2003 wurde er zusammen mit anderen Memorialmitarbeitern bei einem Überfall gefesselt; die Angreifer nahmen die Computer mit. Im Dezember 2004 wurde Wladimir Schnittke vor seiner Wohnungstür bewusstlos geschlagen und musste mit einer schweren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Über seine Mitarbeit in den Vorständen von Memorial Sankt Petersburg, Russland und International hinaus engagierte sich Wladimir Schnittke auch in der Kommission zur Wiederherstellung der Rechte rehabilitierter ehemaliger politischer Gefangener. Seit 2001 war er Mitglied der Menschenrechtskommission der Region Sankt Petersburg und seit 2005 stellvertretender Vorsitzender der Sankt Petersburger Menschenrechtskommission. Seit 2008 leitete er die Sankt Petersburger gesellschaftliche Beobachterkommission zur Verwirklichung der Menschenrechte in Hafteinrichtungen. In den letzten Jahren arbeitete er für den Menschenrechtsbeauftragten in Sankt Petersburg.

Nachdem Wladimir Schnittke mit einer Memorialgruppe 1990 auf Einladung der Evangelischen Akademie in Berlin gewesen war, beteiligte er sich an mehreren deutsch-russischen Kooperationen: einer Sprachenschule, einem Beratungsunternehmen für gemeinnützige Organisationen und dem Deutsch-Russischen Austausch. Nachdem er bei Memorial 1991 erstmals Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) aufgenommen hatte, gründeten diese zusammen mit ehemaligen Sprachenschülern und -lehrern 1993 in Berlin den Förderverein für Memorial Sankt Petersburg, der sich ein paar Jahre später in Memorial Deutschland umbenannte. Sie alle waren begeistert von der Programmatik von Memorial, die Geschichtsaufarbeitung, Menschenrechtsarbeit und Fürsorge für die Überlebenden staatlicher Repressionen miteinander verband. Noch vor Gründung des deutschen Memorialablegers hatte Wladimir Schnittke die Idee, russische Musikstudenten zu Benefizkonzerten nach Deutschland zu bringen. So kam es zu ungezählten Begegnungen, die Memorial in Deutschland bekannt machten. Noch prägender waren die Freiwilligenjahre oder die Sommerlager von ASF, die viele vor allem junge Leute bei Memorial in Sankt Peterburg absolvierten.

„Für mich war er wie ein Vater“, sagt einer der ehemaligen Freiwilligen. Wladimir Schnittke war vieles: moralische Respektperson, zivilgesellschaftlicher Partner, landeskundlicher Mentor, Freund und – ja auch eine Vaterfigur. Ein Menschenfreund, der sich immerzu verausgabte. Der hinter seinem Schicksal zurückstand und nicht als Zeitzeuge - Blockadekind, Jude, Dissident – auftrat, sondern unermüdlich Benachteiligten half. Er war vielseitig interessiert, konnte so vieles erklären und liebte die Musik (der Komponist Alfred Schnittke war sein Cousin). Er verband uns über Grenzen und Generationen hinweg – und tut es auch jetzt, während wir uns an ihn erinnern. Wir sind traurig, aber das, was Wladimir Schnittke uns mitgegeben hat, werden wir lebendig halten.

16. Januar 2022

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