In den letzten Tagen ist in den sozialen Netzen eine heftige Auseinandersetzung um die Wand des Gedenkens entbrannt, die am 27. Oktober 2018 in Kommunarka bei Moskau eingeweiht worden war. An diesem Ort wurden 1937-1938 die sterblichen Überreste von 6609 Personen beigesetzt, die im Laufe des Großen Terrors erschossen worden waren.
Die Wand des Gedenkens besteht aus etlichen Ständen mit darauf befestigten Tafeln, auf denen die Namen ALLER hier beigesetzten Personen verzeichnet sind, unabhängig von ihrer Biographie, Tätigkeit, Rehabilitierung und weiteren Umständen. Diese Namen wurden aus den Erschießungsakten ermittelt, die im Zentralarchiv des FSB aufbewahrt sind. Das Konzept für die Wand hat der Künstler Petr Pasternak im Jahre 2014 entworfen. Es wurde nach langen Diskussionen angenommen, an denen folgende Gruppen beteiligt waren: die Initiativgruppe von Angehörigen der Erschossenen, die Russische Orthodoxe Kirche, MEMORIAL International, das GULAG-Museum und die Moskauer Kommission zur Wiederherstellung der Rechte rehabilitierter politischer Repressionsopfer. Finanziert wurde das Projekt von der Stiftung „Bewahrung des Gedenkens an die Opfer politischer Verfolgungen“.
Ursache für die heftige Reaktion von Teilen der Öffentlichkeit ist die Tatsache, dss sich unter den 6609 Namen auf der Wand des Gedenkens auch die ranghoher NKVD-Funktionäre befinden, die die Massenrepressionen organisiert oder an ihnen mitgewirkt haben und dann ihrerseits während des Terrors hingerichtet wurden. Darunter sind Genrich Jagoda, Eduard Bersin, Terentij Deribas, Leonid Sakovskij und Lev Mironov. Dies stieß auf harsche Kritik, die so weit ging, dass MEMORIAL und das GULAG-Museum bezichtigt wurden, die „Täter rehabilitieren“ zu wollen. Gemäßigtere Kritiker vertreten die Auffassung, dass man keinesfalls alle Namen in einem einzigen Verzeichnis hätte auflisten dürfen, man hätte zwei separate Listen erstellen müssen – eine für „Opfer“ und eine für „Täter“.
Wir glauben – wir hoffen zumindest -, dass die scharfen Äußerungen in den meisten Fällen ein aufrichtiges Gefühls zum Ausdruck brachten, das damit zusammenhängt, dass die Öffentlichkeit in keiner Weise darauf vorbereitet ist, sich ernsthaft mit der Aufarbeitung der tragischen russichen Geschichte zu befassen. Deshalb hält es der Vorstand von MEMORIAL für notwendig, seine Position in dieser Frage klar zu artikulieren.
Erstens. Ein symbolischer Grabstein an einer Grabstätte von Hingerichteten ist keine Kanonisierung, keine Rehabilitierung und keine Absolution. Er ist keine Bewertung, sondern eine Feststellung: Hier ruhen diese und jene Personen. Jeder hat das Recht auf einen Namen und auf ein Grab, unabhängig davon, ob er ein gerechter Mensch, ein Verbrecher oder ein „gewöhnlicher“ Mensch ist. Die Sowjetmacht wollte auch Tote bekämpfen, sie strich die Namen derer aus dem öffentlichen Gedächtnis, die sie als ihre Feinde ansah. Sollen wir diesem Beispiel folgen?
Zweitens. Die Wand des Gedenkens in Kommunarka ist nicht nur ein Gedenkzeichen für konkrete Personen. In erster Linie ist sie ein Gedenken an das reine Faktum von Massenmorden, die die Staatsmacht verübt hat, an die Zeit der Willkür und Gesetzlosigkeit, die unter anderem auch diejenigen betraf, die den Terror selbst durchgeführt hatten. Es ist die Geschichte, die ihre Überreste mit denen ihrer Opfer vermengt hat, und wir haben nicht das Recht, das zu korrigieren, zu vereinfachen und zu retuschieren. (Zudem sind die Namen der Tschekisten auf dem Denkmal in Kommunarka darüber hinaus eine wichtige anschauliche Lehrstunde für jene, die heute Willkür und Gesetzlosigkeit initiieren und durchführen.)
Drittens, das Wichtigste. Die Toten in „Opfer“ und „Täter“ einzuteilen führt fast zwangsläufig zu Relativierung, Schematismus und Willkür, sobald es um reale menschliche Schicksale geht. In unserer Geschichte sind seit der Opritschnina „Täter“ immer wieder zu „Opfern“ geworden, auch umgekehrt wurden ehemalige Gefangene zu Tätern. Aber es geht nicht einmal so sehr darum.
Sollte man „zwei Listen“ erstellen? Jagoda, Sakovskij und andere sind zweifellos Verbrecher, die für den Tod Zehntausender ihrer Mitbürger verantwortlich sind. Wie aber soll man mit Hunderten von anderen, weniger bekannten NKVD-Mitarbeitern verfahren, die aktiv am Terror beteiligt waren und niedere Ränge in der Tscheka bekleideten? Zudem ist zu bedenken, dass die Terror-Kampagnen der Tscheka-OGPU-NKVD-KGB immer auf eine Initiative der obersten Parteiführung zurückgingen und unter Kontrolle von Parteifunktionären durchgeführt wurden. In welche Liste soll man die Sekretäre der Gebiets-, Regional- und Republik-Komitees der Partei eintragen, die an den Trojka-Sitzungen teilgenommen, die Erschießungslisten unterzeichnet haben und die später selbst in diese Listen gerieten? Soll man schließlich die zahllosen Propagandisten, Journalisten, Publizisten und Aktivisten inner- und außerhalb der Partei, die in der Presse in Pogrom-Artikeln „Volksfeinde“ entlarvten, bis sie selbst verhaftet wurden, oder die Massenkundgebungen organisierten, auf denen die Todesstrafe für die wegen politischer Verbrechen Angeklagten gefordert wurde, zu den „Guten“ oder „Schlechten“ zählen? Und was sagen wir zu denen, die an diesen Kundgebungen teilgenommen haben?
Wir wollen hier keineswegs die Verantwortung für den Terror verwischen, indem wir sie allen gleichermaßen zuteilen. Wir stellen lediglich fest, dass sich aus den Angaben in einem Fragebogen – Beruf, Dienststellung, Parteimitgliedschaft und ähnlichem – kein einheitliches formales Kriterium ergeben kann, das dem sittlichen Empfinden genügt und das „automatisch“ bestimmen würde, wie weit jemand in Verbrechen involviert ist. Das Nürnberger Tribunal, das eine Reihe von Organisationen und Behörden des nationalsozialistischen Deutschland für verbrecherisch erklärte, hat besonders hervorgehoben, dass damit nicht zwangsläufig alle Mitglieder dieser Organisationen und Behörden als Verbrecher einstuft werden. Zugleich hat es viele Personen individuell zur Verantwortung gezogen, die ihnen angehörten, und ebenso Personen, bei denen dies nicht der Fall war.
In keinem Fall kann das Vorliegen einer juristischen Rehabilitierung als Kriterium dienen (gerade dies möchte die heutige Regierung häufig als Bedingung für das Gedenken durchsetzen). In welche Liste sollte man dann den bereits in den 1950er Jahren rehabilitierten Robert Eiche eintragen, den ersten Sekretär des Partei-Regionalkomitees für Westsibirien, der das so genannte „ROVS“-Verfahren (Russische All-Militärische Union – 1924 in der Emigration gegründet, A. d. Ü.) initiiert hat, in dessen Verlauf Zehntausende erschossen wurden? Von 30 hingerichteten Gebiets- Parteisekretären, die in Kommunarka beigesetzt sind, gehörten 16 besonderen NKVD-Trojkas an. Sie sind alle rehabilitiert. Die Mitwirkung an der Kollektivierung, auch an den OPGU-Trojkas, die die „Entkulakisierung“ betrieben, stand einer Rehabilitierung überhaupt nicht im Wege. Andererseits wurde Personen, die sich am bewaffneten Kampf gegen das verbrecherische Regime beteiligten oder auch nur diese Möglichkeit erwogen, sehr häufig die Rehabilitierung verweigert (im Übrigen hätten diese Personen ihre Bezeichnung als „Opfer“ schwerlich akzeptiert).
Es gibt noch ein technisches, aber nicht unwichtiges Problem: Das Fehlen vollständiger Informationen, die überhaupt erst ein Urteil darüber erlauben, wer von den Toten und in welchem Maße an Terrorkampagnen teilhatte. Da es keinen Zugang zu den Archiven gibt, kennen wir nicht einmal alle Mitglieder der Trojkas der Jahre 1937-38, von den außergerichtlichen Organen früherer Jahre ganz zu schweigen. Zudem wissen wir von 2000 Personen der 6609 in Kommunarka nichts außer ihren Namen und dem Erschießungsdatum. Selbst wenn man dem Vorschlag etwas abgewinnen könnte, mehrere Listen zu erstellen – diese Namen könnten wir in keine einzige Liste aufnehmen.
Abschließend sei festgehalten, dass die Vorwürfe und Anklagen gegen Memorial und das GULAG-Museum bei all ihrer Oberflächlichkeit, Hitzigkeit und naiven Kompromisslosigkeit eine Ursache haben, die zur Kenntnis genommen und respektiert werden muss – die Notwendigkeit, die tragische sowjetische Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Gesellschaft hat bisher keine Kriterien und Mechanismen entwickelt, um konkrete Verbrechen der Sowjetregierung objektiv historisch und rechtlich zu bewerten und für konkrete, darin involvierte Personen das Maß ihrer Schuld zu bestimmen. Natürlich sind Massengräber nicht der geeignetste Ort für Auseinandersetzungen über die persönliche Verantwortlichkeit für Taten eines verbrecherischen Regimes. Dessen ungeachtet hofft der Vorstand der Gesellschaft MEMORIAL, dass die jetzt in Gang gekommene Diskussion, wenn sie denn eine zivilisiertere und fundiertere Form annimmt, den ernstzunehmenden und gehaltvollen Dialog über diese Themen fortsetzen wird.
Der Vorstand der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL
13. November 2018