Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial
Vor 12 Jahren wurde Natascha Estemirova, unsere Kollegin, Mitstreiterin und Freundin entführt und ermordet. Natascha, Lehrerin aus Groznyj, kämpfte seit Beginn der 1990er Jahre für Gerechtigkeit – zunächst als Gewerkschaftsaktivistin, dann als Menschenrechtlerin und Journalistin. Seit September 1999, von Anbeginn des Zweiten Tschetschenischen Kriegs, arbeitete sie mit Memorial zusammen und wurde sehr schnell Herz und Motor unserer Arbeit.
Natascha schützte unerschrocken Opfer des Kriegs. Während der „Anti-Terror-Operation“ dokumentierte sie Menschenrechtsverletzungen, also im Kern Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vor allem Entführungen. Diese Arbeit erregte selbstverständlich den Zorn derjenigen, die diese Verbrechen verübten – zunächst den der föderalen, später den der tschetschenischen Sicherheitskräfte. Natascha wurde immer wieder mit Drohungen konfrontiert, einschließlich von Seiten Kadyrovs.
Am Morgen des 15. Juli 2009 wurde Natalja Estemirova, als sie in Groznyj das Haus verließ, entführt, von Tschetschenien nach Inguschetien gebracht und in der Nähe des Dorfes Ali-Jurt ermordet. Für uns ist offensichtlich, dass Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitsstrukturen dieses Verbrechen begangen haben. Oleg Orlov, zu dem damaligen Zeitpunkt Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial, machte Ramzan Kadyrov direkt für den Tod Nataschas verantwortlich und vertrat diese Position auch vor Gericht.
Die offizielle Version der Ermittlung lautete, dass Estemirova von Kämpfern auf Befehl von Doku Umarov, Führer der in Russland verbotenen terroristischen Organisation „Imarat Kavkaz“, umgebracht worden sei, wobei der direkte Täter kurz nach dem Verbrechen selbst getötet wurde. Diese Version hält keinerlei Kritik stand. Dies belegt vor allem der Bericht „Zwei Jahre nach dem Mord an Natalja Estemirova: „Die Ermittlungen laufen in die falsche Richtung“, den die International Federation for Human Rights (FIDH), die Novaja Gazeta und das Menschenrechtszentrum Memorial 2011 erstellt haben. Seitdem sind zehn Jahre vergangen, doch weder die Drahtzieher, noch die Organisatoren und Ausführenden dieses politischen Mordes wurden gefunden.
Aber das ist nicht verwunderlich: Politische Morde und Attentate auf Oppositionelle, gesellschaftliche Aktivisten, Menschenrechtler und Journalisten unabhängiger Medien bleiben in Russland in der Regel unaufgeklärt, wenn hinter ihnen Personen stehen, die an der Macht sind oder dieser nahestehen. Man kann die Täter für solche Morde finden, so wie zum Beispiel die an dem Anwalt Stanislav Markelov und an Anastasija Baburova. Diese Verbrechen, wie auch andere, die auf das Konto des Russischen Nationalsozialistischen Terroristischen Untergrund gehen, wurden erfolgreich aufgeklärt und die Schuldigen vor Gericht gestellt. Der Nationalsozialistische Untergrund wurde zerschlagen, aber nur weil Beamte und Sicherheitskräfte in ihm eine reale Bedrohung für sich selbst sahen und den politischen Willen dazu hatten. Zuvor hatte man mit dieser Untergrundbewegung kokettiert und versucht, sie für eigene Ziele zu nutzen.
Diesen politischen Willen gab es bei der Aufklärung anderer politischer Morde nicht. Vielmehr hatten die Machthaber in der Regel selbst die Opfer dieser Morde zuvor zu „Feinden“ und damit zu einem „erlaubten Ziel“ erklärt. Als Ergebnis fanden sich im besten Fall einige Ausführende auf der Anklagebank wieder, aber niemals die Drahtzieher.
Das letzte Jahr gab uns neue Erkenntnisse darüber, wie in Russland Morde an denjenigen vorbereitet und durchgeführt werden, die den Machthabern missliebig sind: Es gibt keinen Zweifel, dass dahinter staatliche Sicherheitsstrukturen stehen, die im Anschluss selbst an den Ermittlungen beteiligt sind. Unter diesen Umständen wäre es naiv anzunehmen, dass der Mord an Natascha Estemirova von den offiziellen Organen untersucht werden wird und die Auftraggeber, Organisatoren und Ausführenden zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden.
Aber wir sind sicher: Früher oder später wird die Wahrheit über dieses Verbrechen an die Öffentlichkeit gelangen und in Groznyj ein Denkmal für die unerschrockene Natascha stehen.
15. Juli 2021