Ein Gericht in Perm hat am 28. September die Klage der Nichtregierungsorganisation (ANO) Perm-36 gegen ihre Eintragung als „ausländischer Agent“ abgelehnt. Diese Eintragung hatte das Justizministerium im April vorgenommen. Die Organisation hatte bereits im März erklärt, ihre Auflösung in die Wege zu leiten. Sie wird derzeit mit mehreren Gerichtsverfahren unter Druck gesetzt.
Das Museum Perm-36 auf dem Gelände des ehemaligen Lagers befindet sich nun in staatlicher Hand. Der politische Strafvollzug wird weitgehend aus der damals offiziellen Sicht – als Umerziehung - dargestellt.
Hierzu der nachfolgende Bericht von Anke Giesen, die kürzlich im Rahmen einer Konferenz an einer Führung dort teilgenommen hat:
Besuch des Museums „Perm-36“ in Kutschino bei Perm
Da ich schon zweimal im Museum war, einmal zu Zeiten der ehemaligen Leitung im Oktober 2013, einmal ein dreiviertel Jahr nach der Änderung der Leitung im Dezember 2014, war ich auf die Veränderungen vor Ort sehr gespannt.
Geführt wurde die deutsche Gruppe von Natalia Vožakova, die russische von Sergej Spodin, dessen Führung ich beim letzten Male schon mitgemacht hatte. Daher entschied ich mich für Natalia Vožakova.
Reihenfolge:
1. Strafisolator incl. Arbeitsplatz: keine Veränderungen. Problematisch war allerdings, dass ständig von „Wir“ gesprochen wurde in Bezug auf die Museumserstellung. Die Nachfrage, wer denn „Wir“ sei, die frühere oder die jetzige Leitung, wurde ausweichend beantwortet.
2. Wohnbaracke: Im Vorraum ist jetzt eine „rote Ecke“. Dort steht ein Tisch, auf dem eine rote Tischdecke liegt und kommunistische Nippesfiguren stehen. Unter Glas ist der Briefwechsel des ehemaligen litauischen Insassen Antanas Terijackas mit dem damaligen Dozenten der Strafvollzugshochschule und jetzigen wissenschaftlichen Berater des Museums Michail Suslov einzusehen, der bis heute den Umerziehungsgedanken des GULAG vertritt. Im Schriftwechsel ging es um grundsätzliche philosophische Fragen, Suslov erklärt dem Häftling, warum der Sozialismus die bessere Gesellschaftsform ist. Zusätzlich gibt es im Regal an der Wand viele Bücher von Lenin und anderen kommunistischen Führern.
3. Erster Schlafraum der Wohnbaracke: hier standen früher die für die GULAG-Lager typischen rohen Holzpritschen. Jetzt befindet sich hier die Ausstellung „Die Evolution der Betten“: Neben zwei rohen Holzpritschen stehen nun zunächst Etagenbetten aus Metall, schließlich Einzelbetten. Während die erste Holzpritsche ganz nackt ist, sind auf der nächsten schon Decken, in den Metallbetten schließlich Bettzeug bis zum hübsch bezogenen Einzelbett. Zwischen den Etagenbetten steht ein Nachtschrank mit einem Schachspiel.
Es wird uns erklärt, dass die Belegung der Kolonie mit den Jahren stetig abnahm, von über tausend Menschen zu lediglich noch 150 Insassen in den Achtzigern. Auch hätten sich die Haftbedingungen ständig verbessert. Da der andere Schlafraum leer war, habe ich gefragt, was sich dort früher befand, zu Zeiten der früheren Leitung. Es kam eine ausweichende Antwort.
4. Vorraum der anderen Seite der Wohnbaracke: Hier steht eine Garderobe mit Filzstiefeln und warmer Arbeitskleidung, eine Ausrüstung, von der die ehemaligen Insassen V. Pestov und N. Braun sagen, dass sie sie nie hatten. Es gibt keine Hinweise, auf welchen Quellen der Nachbau beruht.
5. Erster Schlafraum: Die Austellung der NGO Perm-36 mit Fotos und Artefakten des GULAG ist hier unverändert. Lediglich das Führungsnarrativ beschränkt sich jetzt auf Fakten.
6. Zweiter Schlafraum: Hier befinden sich Teile der Biographien-Austellung, die noch von der NGO Perm-36 erstellt worden und zeitweilig versiegelt war, da sie damals als Auslöser der Konflikte galt. Reste des Siegels kann man an der Tür noch erkennen. Die Biographien von Vasyl Ovsienko, Vasyl Stus, Sergej Kovalev und weitere sind wieder zu sehen.
Allerdings sind die Informationen zum Gesamt-GULAG-Systeman der Stirnwandausgetauscht worden durch Pläne der beiden Lageranlagen (strenge Haftbedingungen und Sonderhaftbedingungen). Außerdem gibt es gegenüberliegend eine neue Bücherwand mit den gesammelten Werken Lenins.
7. Zweite Baracke (ehemalige Krankenstation): Vorraum: Tisch mit Tischtuch. Schlafraum: Hier befand sich früher eine Fotoausstellung zu den Lagern an der Kolyma. Die ist jetzt durch eine andere von dem Fotografen Aleksandr Zelinskij aus dem GULAG-Museum Moskau ersetzt worden, die die Überreste der Zwangsarbeit in den Minen ästhetisierend einfängt.
8. Kinosaal: Das Interieur hat sich nicht geändert. Hier wird jetzt der Film „Vlast‘ Soloveckaja“ (Die Macht der Solovezki) von Marina Goldovskaja aus dem Jahre 1988 über die Solovezki-Lager (1923-1929) gezeigt.
9. Außenanlage: Im Großen und Ganzen keine Veränderungen an den Außenanlagen. Es wurde uns lediglich ein Areal gezeigt, in dem nach Angabe der Museumsführerin „Ausgrabungen“ stattfanden. Zudem wurden inzwischen Plakate aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“ zur Mobilisierung der Bevölkerung aufgehängt und eine Tafel aufgestellt: Links werden Zahlen aufgeführt, wie das GULAG-System als Produktionsfaktor den Sieg unterstützt hat, daneben werden einzelne Personen vorgestellt, die wie der Flugzeugkonstrukteur Tupolev während ihrer Lagerhaft Bedeutendes zum Sieg beigetragen haben (s. hier).
10. Ehemaliger Lagerraum, in dem sich heute eine nachgebaute „Krankenstation“ befindet: Die Austattung der Krankenstation übertrifft im Hinblick auf die Freundlichkeit die Ausstattung vieler gegenwärtiger Krankenstationen in der russischen Provinz: blütenweiße Laken, Bilder an der Wand etc. Wieder keine Angabe von Quellen, auf denen der Nachbau beruht. Es wird erzählt, die Dinge habe man auf der mit dem GULAG-Museum Moskau gemeinsam durchgeführten Exkursion gefunden. In einem Nebenraum befindet sich ein Schrankt mit abschließbaren Fächern, in denen sich Seife, Zigaretten, Zahnbürsten udn andere Kleinigkeiten befinden. Es wird dazu erklärt, dass hier die Gefangenen ihre persönlcihen Sachen aufbewahren konnten.
11. Garage: Austellung mit dem Titel „Zerbrochen durch Sturmbruch“ über den Beitrag der GULAG-Insassen und Spezialumsiedler zum Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“: Große Fotos, auf denen fröhliche, gutgenährte Menschen in warmer Kleidung abgebildet sind, die sich im Wald ihrer Tätigkeit in der Holzverarbeitung erfreuen. Nach Feierabend gehen sie fischen. Fazit: „Wir im GULAG unterstützen glücklich die Soldaten an der Front!“ Es wurde zwar auf die Archive verwiesen, aus denen die Fotos stammten, nicht aber, um welche Menschen es sich darauf tatsächlich handelte.
Die Baracke mit den Sonderhaftbedingungen wurde uns nicht gezeigt, weil sie angeblich gerade repariert würde.
Auf der nachfolgenden Versammlung im Kinosaal waren neben der Direktorin Natalja Semakova und ihrem Stellvertreter Grigorij Sarantscha auch Michail Fedotov, der gegenwärtige Vorsitzende des Menschenrechtsrates, Andrej Sorokin, der Direktor des Archivs für politische und soziale Geschichte, und Anatolij Machovikov, der Leiter der Gouverneursverwaltung, anwesend.
Auf die Fragen der anwesenden Konferenzteilnehmer, warum Dinge ausgestellt werden, die ehemalige Gefangene als geschichtsverfälschend bezeichnet hätten, antwortete der stellvertretende Direktor Grigorij Sarantscha ausweichend: Es ginge um andere Zeitpunkte, und wenn zwei das genau Gleiche erzählten, würde es sowieso nicht stimmen.
Eine Übersetzung des Einführungstextes der Ausstellung findet sich hier.
Fotos: Liisa Savolainen
Eine weitere Schilderung des Museums Perm-36 von russischen Wissenschaftlern finden Sie hier (deutscher Übersetzung von Enrico Heitzer hier), eine ausführliche Beschreibung (russisch) auch hier.