Nachrichtenarchiv

2011

Presseerklärung Amnesty International: Fall Chodorkowski - Russland von Rechtsstaatlichkeit weit entfernt

Anlässlich des Urteils gegen den früheren Vorstandsvorsitzenden des russischen Öl-Konzerns Yukos, Michail Chodorkowski, hat amnesty international (ai) erhebliche rechtsstaatliche Defizite in Russland bemängelt. "Russland ist von einem Rechtsstaat weit entfernt", sagte Peter Franck, Russland-Experte der deutschen ai-Sektion. "Immer wieder entsteht der Eindruck einer Justiz, die sich mehr den Interessen der politischen Macht als den Prinzipien des Rechts verpflichtet fühlt."

Im Fall Chodorkowski lasse vieles auf eine politische Motivation der strafrechtlichen Verfolgung schließen, kritisierte ai-Experte Franck. Dieser Eindruck habe sich im Laufe des Prozesses durch eine Vielzahl im einzelnen dargelegter Verfahrensverstöße verstärkt. "ai kann die Stichhaltigkeit der gegen Chodorkowski erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe nicht abschließend beurteilen, doch wir haben uns wegen Verletzungen der Grundsätze über ein faires Verfahren an die russischen Behörden gewandt." Chodorkowski war offen gegen die Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin aufgetreten und hatte oppositionelle Parteien sowie Organisationen der Bürger- und Menschenrechtsbewegung finanziell unterstützt.

ai wies darauf hin, dass das Urteil gegen Chodorkowski in einer Linie mit weiteren Verfahren, wie die gegen den russischen Atomphysiker Igor Sutjagin oder die Tschetschenin Sara Murtasalijewa, zu sehen sei. Murtasalijewa wurde im Januar 2005 auf der Grundlage sehr fragwürdiger Beweismittel wegen "terroristischer Aktivitäten" zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. "Die Urteile erscheinen wie politische Botschaften: Einflussreiche Unternehmer sollen sich nicht politisch betätigen, Wissenschaftler dürfen selbst öffentlich zugängliche Informationen nur unter staatlicher Kontrolle austauschen und die staatlichen Organe präsentieren Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus," sagte Franck.

Die in Tschetschenien stationierten russischen Truppen hingegen genießen weitgehend Schutz vor Strafverfolgung. "Diejenigen, die sich schwerer Verbrechen schuldig machen, müssen die russische Justiz kaum fürchten", sagte Franck. "Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in sechs Fällen zu Tschetschenien festgestellt, dass von einer wirksamen Strafverfolgung nicht die Rede sein kann."


Für Nachfragen und Interviewwünsche wenden Sie sich bitte an die ai-Pressestelle, Dawid Bartelt, Tel. 030 - 420248-306

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Versuche einer politischen Rehabilitierung Stalins - Aufruf der Gesellschaft MEMORIAL

In letzter Zeit sind in Russland erneut Aufrufe zu vernehmen, "die Verdienste Stalins anzuerkennen" und seinen "Namen in ewigem Angedenken zu ehren". Büsten des Generalissimus stehen bereits in Ischim (Gebiet Tjumen), in Tscheljabinsk und im Tscheljabinsker Gebiet. In Machatschkala wurde eine neue Gedenktafel aufgestellt, wo Stalin als "großer Führer der Völker" bezeichnet wird. Auch die Behörden von Volgograd, Mirnyj (Jakutien), Narym (Gebiet Tomsk), Vologda, des Gebiets Belgorod, Krasnojarsk und Kaliningrad erklärten die Absicht, zu Ehren Stalins Denkmäler, Büsten und Gedenktafeln zu errichten. (In Kaliningrad wurde schon 1999 eine Büste des "Führers der Völker" aufgestellt, dann jedoch wieder entfernt.)

Bisher wurde versucht, die Bedeutung dieser Aufrufe zu verschleiern, indem man sich auf unterschiedliche Umstände berief. Das ging von lächerlichen Beschwörungen des ästhetischen Werts von Surab Zeretelis Skulpturen bis zu der Behauptung, es sei notwendig, unsere Vergangenheit "ohne Vorurteile" zu betrachten und allen Personen der vaterländischen Geschichte eine ausgewogene und angemessene Bewertung zuteil werden zu lassen.

Der Stadtrat von Orel schließlich richtete einen Appell an den russischen Präsidenten, die Bundesversammlung der Russischen Föderation sowie verschiedene repräsentative Machtorgane ihrer Subjekte und an russische Stadtverwaltungen. Ohne Umschweife forderte er offen Stalins politische Rehabilitierung. Wer sich dem widersetzt, wird von vornherein zum Vaterlandsverräter erklärt.

In den nächsten Tagen dürfte es noch in anderen russischen Regionen zu einer Kampagne für die "Wiederherstellung des guten Namens" des verblichenen Diktators kommen. Die Stalinisten berufen sich meist auf die Tätigkeit Stalins als Oberster Befehlshaber im Großen Vaterländischen Krieg.

Stalin als Haupturheber des Sieges und als Banner des sowjetischen Volkes in den Kriegsjahren hinzustellen hieße, die Heldentat des gesamten Volkes und deren sittliche Bedeutung bewusst zu entwerten. Nicht Stalin hat den Krieg gewonnen, sondern das Volk, das gegen den Nationalsozialismus nicht "für Stalin" gekämpft hat, sondern für die Rettung des Vaterlandes und der ganzen Welt.

Selbst wenn Stalin wirklich der "genialste Feldherr aller Zeiten und Völker" gewesen wäre, wenn unter seiner Führung die UdSSR einen schnellen und leichten Sieg über Deutschland errungen hätte, "mit wenig Blut, durch einen mächtigen Schlag" - auch dann bliebe er einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts, der Initiator und Leiter eines im Ausmaß präzedenzlosen staatlichen Terrors.

Indes geht es gar nicht darum, ob Stalin ein guter oder schlechter Befehlshaber war, nicht darum, welchen Beitrag er zum Sieg 1945 geleistet hat, ja nicht einmal darum, dass gerade er die militärischen Aktionen während der katastrophalen Niederlagen der Roten Armee im Sommer und Herbst 1941 geleitet hat. Ausschlaggebend für seine Rolle im Großen Vaterländischen Krieg sind andere Umstände.

Stalin ist es, der die Verantwortung für die falsche Beurteilung des Zeitpunkts eines möglichen Angriffs der Wehrmacht auf die UdSSR trägt. Aufgrund dieser Fehleinschätzung konnte Hitler unser Land völlig unvorbereitet überfallen. Dieser Fehler hängt untrennbar mit Stalins zynischer und kurzsichtiger Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland von 1939 bis 1941 zusammen. Die riesigen menschlichen und territorialen Verluste der UdSSR zu Kriegsbeginn waren der Preis dafür.

Gerade Stalin hat Millionen sowjetischer Soldaten verraten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Der Oberste Befehlshaber sagte sich öffentlich von ihnen los, erklärte sie zu Feiglingen und Verrätern und tat nichts, um das Los der sowjetischen Gefangenen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu erleichtern. In der Folge starben über drei Millionen unserer Landsleute in der Gefangenschaft an Hunger, Krankheiten und übermäßig schwerer Arbeit.

Der Sieg des sowjetischen Volkes im antifaschistischen Befreiungskampf wurde von Stalin zynisch dazu genutzt, um seine persönliche Macht in der UdSSR zu stärken und sie auf viele osteuropäische Länder auszudehnen. Dort setzte er Marionettenregime ein, die ihm und seinen Nachfolgern im Kreml gefügig waren und die die Völker dieser Länder bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abschüttelten.

Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Vorkriegspolitik Stalins - die Entkulakisierung, die in der Vernichtung und Versklavung der Bauernschaft endete, die durch Verschulden der Stalinschen Regierung ausgelöste Hungersnot, die sechs bis zehn Millionen Menschenleben kostete, die politischen Repressionen, von denen Millionen unserer Mitbürger betroffen waren, die Aufteilung Polens im Abkommen mit Hitler, die Annexion des Baltikums - dass diese Vorkriegspolitik nicht nur an sich verbrecherisch war, sondern auch empfindlich die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes schwächte. Man bedenke nur, dass sich unter den über 700.000 Personen, die in den Jahren 1937-38 erschossen wurden, viele Tausende Kommandierender der Roten Armee befanden, darunter etwa 80 % des höchsten Kommandobestandes der Roten Arbeiter-und-Bauern-Armee.

Diejenigen, die dazu aufrufen, "die Gerechtigkeit in der Bewertung der historischen Rolle Stalins wiederherzustellen", wissen bestens über seine wahre Rolle in unserer tragischen Geschichte Bescheid und versuchen schon längst nicht mehr, die Fakten zu bestreiten. Sie sind ganz einfach der Auffassung, Dutzende Millionen von Menschenleben und die Zerstörung der Freiheit der Völker seien für die "Größe des Imperiums", die unter Stalin erreicht wurde, kein zu hoher Preis. Heute sprechen bekannte Politiker solche Auffassungen offen aus, sie finden sich sogar in einigen Hochschullehrbüchern für Geschichte.

Gerade deshalb ist die "Wiederherstellung des guten Namens Stalins" heute eine tödliche Gefahr für die Zukunft unseres Landes: Sie würde die moralische Messlatte in der Politik erheblich senken, da sie beliebige Verbrechen sanktioniert, solange sie nur politischen Erfolg garantieren.

Der Vorstand der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL

Quelle: russischer NAchrichtenserver von MEMORIAL: http://www.memo.ru/daytoday/5stalin4.htm

Überstetzung aus dem Russischen: Vera Ammer (MEMORIAL Deutschland)

26.4.2005

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Russische NGOs unter Steuerdruck? (11.04.2005)

Die russische Führung scheint nach den Medien nun auch den NGO-Sektor und dessen Finanzierung unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. Nach einer seit bereits zwei Jahren bestehenden Praxis müssen die Stiftungen sich bei einer Regierungskommission registrieren lassen, damit ihre Zuwendungen an russische NGOs als solche deklariert werden können. Das derzeit der Duma vorliegende Gesetz sieht zudem vor, dass alle Zuwendungen von Stiftungen, die nicht von der Kommission registriert wurden, mit einer Gewinnsteuer von 24,5% belastet werden sollen. Vorbereitet und flankiert wurde dieser Vorstoß durch wiederholte staatliche Kritik der NGOs, die angeblich nicht die Interessen der russischen Gesellschaft, sondern die ihrer ausländischen Geldgeber verfolgen. Andererseits sind diese Pioniere einer russischen Zivilgesellschaft immer noch ganz wesentlich auf die auch finanzielle Unterstützung von außen angewiesen. Die deutliche Einflussnahme des Kreml auf politisch unliebsame Organisationen lässt befürchten, dass auch unsere MEMORIAL-Partner in Russland ihre für die Entwicklung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit unverzichtbare und anerkannte Arbeit in der bisherigen Form nicht fortführen können.

Folgendes Rechtsgutachten wurde in dieser Sache erstellt:

Gutachten zu Artikel 1 Absatz 6 des Entwurfs eines föderalen Gesetzes zur Neufassung der Kapitel 23 und 25 Teil 2 des russischen Steuergesetzbuchs sowie weiterer gesetzlicher Bestimmungen in Bezug auf Steuern und Abgaben
Stand: 23.09.04
Die von der Regierung der Russischen Föderation (RF) vorgelegte Neufassung von Artikel 251 Absatz 1 Unterabsatz 14 Ziffer 5 des russischen Steuergesetzbuchs zeigt auf, welche Ziele mit dem vorgeschlagenen Text verfolgt werden:
1. die Abschaffung der Möglichkeit, gewinnsteuerfreie Spendengelder von natürlichen Personen zu erhalten, deren steuerrechtlicher Wohnsitz nicht in der Russischen Föderation liegt (dabei muss darauf hingewiesen werden, dass die diesbezüglich vorgeschlagene Formulierung " von russischen natürlichen Personen" in den Gesetzestexten zu Steuern und Abgaben nicht enthalten sind und darüber hinaus in keinem der föderalen Gesetze zur Regelung sonstiger gesellschaftlicher Beziehungen Anwendung findet);
2. die Einführung bürokratischer Einschränkungen für russische nichtkommerzielle Organisationen, die als Sponsoren gelten können (neu eingeführt: die notwendige Aufnahme der nichtkommerziellen Spenderorganisationen in eine von der russischen Regierung zu bestätigende Liste);
3. die Verschärfung bürokratischer Einschränkungen für ausländische und internationale Spenderorganisationen (Behandlung steuerfreier Spendengelder als steuerfreie technische und humanitäre Hilfe).
Die im gleichen Artikel Absatz 1 Unterabsatz 14 vorgelegte Fassung von Ziffer 6 des russischen Steuergesetzbuchs zeigt, dass der Staat die Notwendigkeit staatlicher Förderung durch Gewährung steuerlicher Vergünstigungen anerkennt, und zwar nicht nur in den Bereichen Bildung, Kunst, Kultur und Umweltschutz sowie zur Durchführung konkreter Forschungsarbeiten, sondern auch auf den Gebieten öffentliche Gesundheit (gedacht ist an Aids, Drogenkonsum, Krebs bei Kindern, einschließlich Leukämie, Endokrinologie des Kindes, Hepatitis und Tuberkulose), Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten, soziale Betreuung von einkommensschwachen und sozialschwachen Bürgern.
Das Verfassungsgericht der RF hat im Zusammenhang mit der Untersuchung steuerlicher Fragen wiederholt den Rechtsstandpunkt formuliert, dass Steuervorteile und die Begründung ihrer Nutzung durch den Steuerzahler im Rahmen der Steuer- und Abgabengesetze nur in als notwendig erkannten Fällen vorgesehen werden können, da Begünstigungen bei der Festlegung der grundlegenden Elemente einer Steuer nicht zwangsläufig zu gewähren sind. Dabei darf der Gesetzgeber die Grundsätze der Besteuerung nicht verletzen.
Aus dem Regierungsentwurf geht hervor, dass die Gewährung von Steuervorteilen die Arbeit der nichtkommerziellen Organisationen unterstützen soll, die auf die Wahrnehmung sozialstaatlicher Aufgaben der RF ausgerichtet ist. Dies entspricht den als Hauptaufgaben der Haushaltspolitik bezeichneten Vorgaben, die die am 30.05.03 an die Föderalversammlung der RF gerichtete Botschaft des Präsidenten zur Haushaltspolitik 2004 enthält: Verringerung der Armut und Garantie sozialer Stabilität.
Die vorgeschlagenen Mechanismen für die praktisch genehmigungspflichtige Steuerbefreiung von Spendengeldern verletzen jedoch einen der Grundsätze der Besteuerung (Ablehnung von Steuervorteilen aufgrund der Eigentumsform, der Staatsbürgerschaft natürlicher Personen oder der Herkunft des Kapitals), d.h. das Verfassungsprinzip der Rechtsgleichheit.
Sie stehen auch im Widerspruch zu der in der Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung der RF vom 26.05.04 genannten Aufgabe, eine Vereinfachung der Besteuerung durch die Steuerreform zu bewirken, und zwar nicht nur hinsichtlich der Höhe der Steuersätze, sondern auch der Berechnung und der Entrichtung von Steuern, der Verfahren der Steuerprüfung und Rechnungslegung; darüber hinaus enthalten sie Unsicherheitsfaktoren, da keinerlei Kriterien aufgeführt werden, nach denen juristische Personen in entsprechende Listen aufzunehmen oder als Sponsoren zu registrieren sind.
Nach dem Rechtsstandpunkt des Verfassungsgerichts schafft dies die Möglichkeit, das Recht nach freiem Ermessen anzuwenden und führt unvermeidlich zu Willkür, d.h. die Grundsätze der Gleichheit und der Vorherrschaft des Rechts werden verletzt. Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass die neuen Vollmachten, die das Gesetz dem Staatsapparat einräumt, im Widerspruch zu der beabsichtigten Entbürokratisierung der Wirtschaft stehen.
Nach Sponsorenpraxis wird der überwiegende Teil der Gelder nur für den Zeitraum einiger Monate zur Verfügung gestellt. Unter diesen Umständen nimmt das Prüfungsverfahren für Spendengelder im Rahmen der steuerlich freigestellten technischen und humanitären Hilfe (nach rechtlicher Praxis zwei Monate unter der Voraussetzung, dass alle Unterlagen beim ersten Versuch vollständig und korrekt vorgelegt werden) genauso viel Zeit in Anspruch wie der zeitliche Rahmen, der für die Verwendung dieser Gelder vorgesehen ist.
Die Vorschläge zur Neufassung von Artikel 251 Absatz 1 Unterabsatz 14 Ziffer 6 des russischen Steuergesetzbuchs werden also der heutigen Aufgabe einer Reform des Steuergesetzbuchs gerecht. Die Vorschläge zur Neufassung von Artikel 251 Absatz 1 Unterabsatz 14 Ziffer 5 sind aus dem Gesetzesentwurf zu streichen.

Übersetzt aus dem Russischen: MEMORIAL Deutschland e.V.

11.4.2005

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Erklärung von MEMORIAL zur Untersuchung des `Verbrechens von Katyn` in Russland

Vor 65 Jahren, im April und Mai 1940, wurden fast 22.000 polnische Staatsbürger von Mitarbeitern des NKWD der UdSSR erschossen: gefangene polnische Offiziere und andere Gefangene der Kriegsgefangenenlager von Koselsk, Ostaschkowsk und Starobelsk, sowie polnische Gefangene aus den Gefängnissen der westlichen Bezirke der Weißrussischen SSR und der Ukrainischen SSR. Diese "Operation" des NKWD ist unter der Bezeichnung "Verbrechen von Katyn" bekannt geworden (vom Namen des Örtchens Katyn in der Nähe von Smolensk, an dem zuerst die Begräbnisstätten einer Gruppe von Erschossenen gefunden worden waren).

50 Jahre lang hat die Führung der UdSSR die Wahrheit über das Verbrechen von Katyn sorgfältig verborgen, es abgelehnt, auch offensichtliche Beweise anzuerkennen und versucht, die Schuld auf Nazideutschland abzuwälzen. Erst im April 1990 hat die Sowjetunion offiziell anerkannt, dass polnische Staatsbürger vom NKWD erschossen wurden, und der Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow hat dem polnischen Präsidenten Wojciech Jaruselski Archivdokumente übergeben, die eine namentliche Liste mit 14589 hingerichteten Gefangenen enthielten. Kurz darauf hat die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft auf Anordnung des Präsidenten der UdSSR eine Untersuchung des Falls "Über das Schicksal polnischer Offiziere, die in den Lagern Koselsk, Ostaschkowsk und Starobelsk gefangen gehalten wurden" eingeleitet.

Im Oktober 1992 wurden dem polnischen Präsidenten Lech Walesa im Auftrag des Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin neue Dokumente übergeben, darunter der Beschluss des Politbüros des ZK der Kommunistischen Allunionspartei (Bolschewisten) mit den pesönlichen Unterschriften von Stalin, Woroschilow, Molotow und Mikojan und dem Zusatz "haben mit ja gestimmt" zu Kalinin und Kaganowitsch. Diese Dokumente bestätigten, dass der Beschluss zu diesen außergerichtlichen Hinrichtungen polnischer Kriegsgefangener von den höchsten Führern der UdSSR gefasst wurde. Außerdem zeigten diese Dokumente erstmals, dass gleichzeitig mit den gefangenen Offizieren weitere 7.305 Gefangene aus Gefängnissen im Westen Weißrusslands und der Ukraine außergerichtlich vernichtet wurden. Eine Namensliste von 3.435 Gefangenen, die in der Ukraine erschossen worden waren, wurde der polnischen Seite vom ukrainischen Staat im Mai 1994 übergeben. Der weißrussische Teil der Liste wurde bis heute nicht gefunden (die Staatsführung der Republik Weisßrussland behauptet, die Suche in den Archive habe ergebnislos geendet).

In den 62 Jahren, die seit der Entdeckung der Gräber bei Katyn vergangen sind, wurde über das "Verbrechen von Katyn" nicht wenig gesagt und geschrieben, allerdings sind viele wichtige Fragen bis heute unbeantwortet geblieben. Dessen ungeachtet erklärte der Hauptmilitärstaatsanwalt Russlands Alexander Sawenkow auf einer extra anberaumten Pressekonferenz am 11. März 2005, die Untersuchung des "Falls Katyn" sei eingestellt worden, weil der "Tatbestand des Genozids im Verbrechen" nicht festgestellt werden könne und weil die Amtspersonen, die Schuld an dem Verbrechen tragen, inzwischen gestorben seien.

Wir halten die Einstellung der Untersuchungen für nicht hinnehmbar.

Zum ersten: Selbst wenn es keinen Genozid gegeben hat, bleibt es trotzdem notwendig zu sagen, wie die ungerichtlichen Erschießungen zu qualifizieren sind - als Kriegsverbrechen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als geplanter Mord unter erschwerenden Umständen? Den Fall ohne rechtliche Bewertung abzuschließen sieht wie der Versuch aus, jede Verantwortung für das Verbrechen von sich zu weisen.

Zum zweiten: Bis heute ist die Identität eines bedeutenden Teils der Opfer (fast 4.000 Menschen) noch nicht geklärt, eben der Gefangenen, die in Weißrussland erschossen wurden. Die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft beruft sich hier darauf, dass die Verbrechen außerhalb Russlands verübt wurden und deshalb von den Justizbehörden des entsprechenden Landes untersucht werden müssten. Dieser Einwand wirkt allerdings in diesem Fall nicht besonders überzeugend, weil der Beschluss die polnischen Staatsbürger zu erschießen in Moskau getroffen wurde, von hier aus die gesamte Operation gelenkt wurde und hier alle Berichte über ihre Ausführung zusammen kamen (zum Beispiel wird die Liste von Offizieren aus dem Lager Starobelsk, die im ukrainischen Charkow erschossen wurden, im Moskauer Archiv aufbewahrt). Die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft hat die Pflicht zu beweisen, dass sie in russischen Archiven nach der "weißrussischen" Liste gesucht hat. Sie muss nachweisen, dass sie sich an die Justizbehörden der Republik Weißrussland gewandt hat und die Antworten dieser Behörden vorweisen.

Zum Dritten: Die Behauptung des Hauptmilitärstaatsanwalts Russlands, dass mit "absoluter Genauigkeit" nur der Tod von 1.803 Menschen bestätigt werden könne, muss aufgeklärt werden, wenn gleichzeitig allgemein bekannt ist, dass die Zahl der umgekommenen Gefangene höher als 14.500 ist.

Und zum Schluss: Der "Fall Katyn" kann nicht als abgeschlossen gelten, ohne das die Namen aller Personen, die an der Ausführung dieses Verbrechens beteiligt waren, festgestellt und öffentlich zugänglich sind. Das betrift sowohl die Initiatoren, deren Namen bereits bekannt sind, als auch die ausführenden Personen auf allen Ebenen. Wir verstehen, dass es nicht möglich ist, die Verbrecher dem Gericht zu übergeben, wenn sie schon gestorben sind. Ihre Namen müssen aber genannt werden. Das wurde und wird in allen zivilisierten Ländern so gemacht, in der Regel ohne die Einrichtung spezieller Tribunale. Das fordert auch die russische Gesetzgebung, unter anderem das Gesetz der Russischen Föderation "Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung", Teil 2, Absatz 18.

Es ist unmöglich, der Entscheidung der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Rusischen Föderation zuzustimmen, den größten Teil der Untersuchungsmaterialien für geheim zu erklären (unter Einschluss des Beschlusses über die Einstellung der Strafsache selbst). Diese Entscheidung ist völlig rechtswidrig, weil in Übereinstimmung mit dem Gesetz der Russischen Föderation "Über Staatsgeheimnisse" "Informationen über Fakten der Verletzung von Rechten und Freiheiten des Menschen und der Staatsbürger (...) nicht als Staatsgeheimnis geführt oder als geheim eingestuft werden dürfen" (Absatz 7). Die Einstufung von Fällen durch die Staatsanwaltschaft als geheim, die Anzeichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten, wird von der öffentlichen Meinung in Russland und im Ausland unausweichlich als Rückkehr zur alten sowjetischen Politik verstanden werden, die darauf zielte, die verbrecherischen Machenschaften des Stalinregimes zu verbergen und ihre Organisatoren und Initiatoren zu decken. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Reputation des Landes und seine Beziehungen mit anderen Staaten einer korporativen "Ethik" und Amtsnormen zum Opfer gebracht werden.

Ob das die Militärjuristen nun wollten oder nicht, aber die Erklärung zur Einstellung der Untersuchung des "Falls Katyn", noch dazu am Vorabend des 60. Jahrestages des Sieges, erinnert die ganze Welt daran, dass die Sowjetunion nicht nur Mitglied der Antihitlerkoalition war und auf ihren Schultern die Hauptlast des Kampfs gegen den Faschismus getragen hat, sondern auch jene unzweifelhafte Tatsache, dass die UdSSR, nachdem sie im August 1939 mit Hilterdeutschland einen Pakt geschlossen hatte, eine Reihe von Annexionen vornahm und sich die östlichen Gebiete des damaligen polnischen Staates, Litauen, Lettland, Estland, die Nordbukowina und Bessarabien einverleibte. Und dass in diesen Gebieten unverzüglich der Massenterror einsetzte, dessen Bestandteil, in einer Reihe mit Verhaftungen und Deportationen, die "Sonderorperation" zur Vernichtung der polnischen Kriegsgefangenen und Häftlinge war.

Das Gedächtnis an den Sieg 1945 ist untrennbarer Bestandteil des Gedächtnisses an alle Menschen, die durch die totalitären Regime des XX. Jahrhunderts vernichtet wurden - von den an den Fronten Gefallenen bis zu den in den Folterkammern Umgekommenen des Zweiten Weltkriegs. Versuche, dieses Gedächtnis zu beschweigen oder zu schwächen sind Angriffe auf Sinn und Ziele des großen antifaschistischen Krieges.

Wir rufen die oberste Führung des Landes auf, die Politk der Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow und des Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin fortzusetzen, die Wahrheit über die Ereignisse des Jahres 1940 aufzudecken und alles Notwendige zur Wiederaufnahme der Untersuchungen der "Verbrechen von Katyn" zu unternehmen. Das Verbrechen muss juristisch bewertet werden. Die Namen aller Opfer müssen herausgefunden werden. Die Namen aller Schuldigen und Ausführenden müssen veröffentlicht werden. Alle Untersuchungsmaterialien müssen nach ihrem Abschluss der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht werden, vor allem aber der polnischen und der russischen Öffentlichkeit. Wir sind davon überzeugt, dass nur diese Handlungen einem großen Land würdig sind, einem Land, das den Faschismus besiegt hat, dass sich vom Kommunismus losgesagt hat und das einen demokratischen Entwicklungsweg gewählt hat.

Wir sind ebenso von der Notwendigkeit überzeugt, alle Opfer des "Verbrechens von Katyn" zu rehabilitieren und wir wenden uns, in Übereinstimmung mit Absatz 6 des Gesetzes der Russischen Föderation "Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung" vom 18. Oktober 1991, mit der Forderung an die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, sie zu rehabilitieren.


Vorstand der Internationalen Gesellschaft Memorial


Quelle: russischer Nachrichtenserver von MEMORIAL (http://www.memo.ru/daytoday/5katyn.htm)


Übersetzung: Jens Siegert, Moskau

4.4.2005

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Neonazistische Szene in Petersburg - gewaltsame Übergriffe auf Nichtregierungsorganisation MEMORIAL

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde von Memorial!


In Petersburg häufen sich gewaltsame Übergriffe auf Mitarbeiter und
Einrichtungen der Nichtregierungsorganisation MEMORIAL. Von
Untersuchungsbehörden wird zumeist "Rowdytum" als Tatmotiv angegeben, die
Täter selbst nur selten gefunden bzw. rechtskräftig verurteilt. Dass die
eigentlichen Hintergründe dieser Gewaltakte jedoch politischer Natur sind
und die Täter der neonazistischen Szene entstammen, wird jedoch allzu häufig
verschwiegen.

Der jüngste Überfall fand auf das Wissenschaftliche Informationszentrum
MEMORIAL in St. Petersburg (uliza Rubinstejna, 23) in der Nacht auf den
19.02.2005 statt: 3 Unbekannte geben sich als Kollegen von MEMORIAL Moskau
aus und schlagen nach Öffnen der Tür den Mitarbeiter Emmanuil Lazarewitsch
Poljakow brutal zusammen. Der 59-jährige Übersetzer erleidet eine
Gehirnerschütterung und liegt seitdem mit Kiefer- und Knochenbrüchen im
Krankenhaus. Ob er aufgrund starker Augenverletzungen seine volle
Sehfähigkeit wieder zurück erhält, wird von einer dringend notwendigen
Operation abhängen.

Über die Herkunft der Täter kann noch keine genaue Aussage getroffen werden.
Das Büro wurde nicht ziellos verwüstet, vielmehr gezielt durchsucht und
ausgeraubt: aus einer großen Anzahl von Ordnern wurden zwei mit der
Aufschrift "Neonazismus" und "Chodorkowskij" durchwühlt. Entwendet wurden
keine Computer, kein Geld, sondern transportable Geräte wie ein
Multimedia-Projektor, Kopierer, Kommunikationstechnik etc. Die Polizei geht
- wie bereits bei früheren Überfällen - von "Rowdytum" als Tatmotiv aus.
Gerade aber die Wiederholung derartiger Überfälle lassen politische Gründe
für diese Gewalttaten immer realistischer erscheinen, zumal MEMORIAL St.
Petersburg seit Jahren Projekte zu Antirassismus und Neonazismus durchführt
sowie mit öffentlichen Aktionen und Publikationen für eine politische Lösung
des Tschetschenienkonfliktes eintritt:

14.08.2003:
2 Männer überfallen das Büro von MEMORIAL St. Petersburg (uliza Rasjeshaja,
9) und fesseln die anwesenden Mitarbeiter - darunter den Geschäftsführer
Wladimir Schnitke. Entwendet werden weder Geld noch Wertgegenstände, sondern
ausschließlich Computer mit entsprechenden Daten. Die polizeilichen
Untersuchungen verlaufen erfolglos, als Tatmotiv wird "Rowdytum" angegeben.
Nur durch Hilfe einer privat engagierten Detektei wird einer der Täter
ausfindig gemacht: Vladimir Goljakov, der sich als Führer einer
heidnisch-nazistischen Sekte ausgibt. Goljakov wird am 18.06.2004 zu 5
Jahren Haft verurteilt. Einen Tag später ereignet sich die Ermordung des
Wissenschaftlers und MEMORIAL-Mitglieds Nikolaj Girenko.

19.06.2004:
Nikolaj Girenko - Wissenschaftler des St. Petersburger Museums für
Ethnografie und Anthropologie und langjähriges Mitglied von MEMORIAL - wird
durch seine Wohnungstür hindurch erschossen. Girenko hatte vor Jahren
bereits eine Methode entwickelt, mit der ethnisch motivierte Gewalttaten von
"gewöhnlichen" Delikten unterschieden werden können. Rassistische
Gewalttaten wurden bis dahin aufgrund fehlender wissenschaftlicher Kriterien
zumeist nur als "Rowdytum" eingestuft. Girenko hat ferner zahlreiche
Gutachten über neonazistische Gruppierungen erstellt, die bei der
Verurteilung von Tätern aus der rechten Szene von Bedeutung waren. Die
Staatsanwaltschaft wollte auch in diesem Mordfall "Rowdytum" als Tatmotiv
nicht ausschließen, bis kurz nach dem Mord eine Gruppe namens "Russische
Republik" ein so genanntes Todesurteil gegen Girenko veröffentlichte, der
als "Feind des russischen Volkes" verurteilt worden sei. Girenko, so der
Vorwurf, habe dabei geholfen, "russische Patrioten" zu inhaftieren.

11.12.2004:
Vor seiner Wohnungstür wird Wladimir Schnitke, Geschäftsführer von MEMORIAL
St. Petersburg, von hinten auf den Kopf geschlagen und bricht bewusstlos
zusammen (bereits vor 1 1/2 Jahren wurde er im MEMORIAL-Büro überfallen). Aus
seiner Tasche werden Computer und Notizbuch entwendet, Geld und Mobiltelefon
hingegen werden nicht geraubt. Schnitke wird mit schwerer
Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert.


MEMORIAL Deutschland bewertet mit großer Besorgnis die zunehmenden Angriffe
auf seine Partnerorganisationen in Russland, die sich für die Wahrung von
Menschenrechten in aktuellen Krisenzonen, den Schutz von Minderheiten
innerhalb der russischen Gesellschaft und die Aufarbeitung totalitärer
Vergangenheit einsetzen.

Kurz nach dem jüngsten Überfall auf das Wissenschaftliche
Informationszentrum MEMORIAL besuchten wir unsere Petersburger Kollegen. Sie
bewerten die Überfälle als massive Bedrohung und Versuch der
Einschüchterung. Ihre Arbeit an den unterschiedlichen Projekten von MEMORIAL
werden sie trotzdem fortsetzen. Mit großer Besorgnis sprechen sie von Ihrem
Kollegen Emmanuil Poljakow, dem 59-jährigen Übersetzer, der nun mit schweren
Verletzungen im Krankenhaus liegt. Eine Augenoperation ist dringend
notwendig, um eine Erblindung zu verhindern. Für eine solche Operation
einschließlich einer möglicherweise langen Nachversorgung werden
entsprechende finanzielle Mittel benötigt, die momentan weder das Opfer
selbst noch das Wissenschaftliche Informationszentrum von MEMORIAL besitzen.
Wir bitten Sie dringend darum, mit einer Spende dazu beizutragen, diese
notwendige medizinische Behandlung zu ermöglichen:

MEMORIAL Deutschland e.V.
Bank für Sozialwirtschaft Berlin
BLZ: 100 205 00
Konto-Nr.: 33200 00
Stichwort: Emmanuil Poljakow

Bitte berichten Sie auch in Ihrem Umkreis von diesen Vorfällen. Wir danken
Ihnen für Ihre Unterstützung!


Sebastian Prieß, für den Vorstand Memorial Deutschland e.V. (Berlin)

Anna Schor-Tchoudnovskaia, Memorial Deutschland e.V. (Frankfurt a.M.)

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Erklärung von MEMORIAL zur geplanten `Gesellschaftskammer der Russischen Föderation`

Die Gesellschaft Memorial ist eine grundsätzliche und konsequente Anhängerin der Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft einerseits und dem Staat sowohl im Ganzen als auch seiner unterschiedlichen Strukturen und Behörden im Einzelnen. Die Gesellschaft Memorial ist unverändert zur Fortsetzung des Dialogs des zivilgesellschaftlichen Sektors mit dem Staat bereit, solange es sich um einen gleichberechtigten und ehrlichen Dialog von zwei voneinander unabhängigen Partnern handelt.

Die "Gesellschaftskammer der Russischen Föderation", die gegenwärtig geschaffen wird, ist unserer Meinung nach weder von den für sie formulierten Zielen und Aufgaben her noch davon, wie ihre Mitglieder ausgewählt werden oder wie stark sie in staatliche Strukturen integriert ist, eine geeignete Plattform für solch einen Dialog. Mehr noch sind wir der Meinung, dass die "Gesellschaftskammer" in der Form, in der sie in dem gegenwärtig in der Staatsduma behandleten Gesetzentwurf beschrieben wird, in der Lage ist, Positives zu bewirken, sondern eher dem notwendigen nationalen Dialog Schaden zufügen wird.

Wir bestreiten nicht das Recht der Staatsmacht, beliebige Beratungs- und Expertenstrukturen aufzubauen, die natürlich auch aus Vertretern der Zivilgesellschaft bestehen können. Wir halten solche Strukturen sogar für nützlich. Vertreter von Memorial arbeiten in vielen solcher Strukturen auf regionaler oder Bundesebene mit und arbeiten dort, so hoffen wir, zum gemeinsamen Wohl.

Die im Gesetzentwurf genannten Ziele der "Gesellschaftskammer" gehen aber weit über die Grenzen von beratenden und Expertenaufgaben hinaus. Allumfassend und unkonkret wie sie sind, stimmen diese Ziele kaum oder gar nicht mit den politischen Realitäten der vergangenen Jahre überein. Das bringt uns zu der Überzeugung, dass die Kammer die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Lenkung des Landes nur imitieren soll und wohl das nächste Instrument zur Manipulation des öffentlichen Bewusstseins werden wird.

Unsere Zweifel werden noch größer, wenn wir uns anschauen, wie die Kammer gebildet werden soll.


Zwei Drittel dieses, wie wir es uns vorstellen, gesellschaftlichen Gebildes werden direkt oder indirekt durch den Präsidenten ausgewählt. Dieses Auswahlprinzip gilt natürlicherweise für beratende Organe beim Präsidenten, aber nicht für ein Organ, dass, wie im Gesetzesentwurf beschrieben, dabei helfen soll, eine gesellschaftliche Kontrolle der Tätigkeit staatlicher Strukturen, darunter auch Bundesbehörden, auszuüben.

Noch größeren Widerspruch ruft der Mechanismus zur Berufung des letzten Drittels der Mitglieder der Kammer hervor. Auf den ersten Blick wirkt er demokratischer, denn die Kandidaten müssen sich Konferenzen stellen, die in den sieben föderalen Bezirken einberufen werden. Unser Widerspruch entzündet sich aber nicht einmal daran, dass sich im Gesetzentwurf keine Regelungen finden, nach denen diese Konferenzen einberufen werden und sich so den regionalen Staatsstrukturen viele Möglichkeiten zur Manipulation der Nichtregierungsorganisationen bieten. Etwas anderes ist viel wichtiger: Für die Zivilgesellschaft ist die Idee selbst unannehmbar, solche Konferenzen durchzuführen, auf denen Künstlervereinigungen und Menschenrechtsorganisationen, Verbraucherschutzverbände und Industrievereinigungen, Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaften, Kosaken und Angler gemeinsam und dauerhaft ihre Vertreter in irgendein höheres Gremium entsenden, dass ihre Interessen dem Staat gegenüber vertreten soll. In der Praxis wird dieser Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit zur Selektion der gesellschaftlichen Organisationen in "saubere" und "unsaubere", in zum Dialog zugelassene und zu ihm nicht zugelassene führen. Und dabei ist es nicht einmal wichtig, ob diese Selektion durch den Staat oder durch die Nichtregierungsorganisationen selbst durchgeführt wird. Beides ist für die Zivilgesellschaft gleich zerstörerisch.

Die Kammer selbst, so sie auf diese Weise gebildet wird, wird vom Staat und einem Teil der Gesellschaft zweifellos als "gesetzmäßige Vertretung" der gesamten Zivilgesellschaft wahrgenommen werden. Die Zivilgesellschaft ist aber, im Gegensatz zum Staat, von Natur aus nicht hierarchisch und jeder Versuch sie zu hierarchisieren ist kontraproduktiv. Die Zivilgesellschaft ist ein prinzipiell horizontales und offenes System. Sie hat keine "Vertretung" und kann keine haben. Sobald in ihr eine "Vertikale" erscheint, hört sie auf sie selbst zu sein und verwandelt sich in eine bürokratisierte Korporation, die leicht durch die Exekutive gelenkt werden kann.

Die Zivilgesellschaft und der Staat müssen unabhängige Partner im nationalen Dialog sein. Alle Versuche, diesen Dialog in einem Organ zu konzentrieren werden lediglich zur Imitation dieses Dialogs führen. In einer Kammer, die in das System der staatlichen Macht eingebaut ist, wird der Staat nur mit sich selbst reden.

Ein anderer Weg wäre produktiver: Der Weg, Bedingungen zu schaffen, unter denen vielfältige und unabhängige Zellen der Zivilgesellschaft zum Wohl der Bürger Russlands und des Landes insgesamt nützliche Arbeit tun können.

Nichts hindert Staat und Gesellschaft daran, die bereits existierenden Kanäle des Zusammenwirkens zu nutzen und die gemeinsame Arbeit anhand vielzähliger Vorschläge gesellschaftlicher Organisationen zur Lösung konkreter und ernsthafter Probleme weiter zu entwickeln. Dabei geht es um das Recht der Bürger, sich an die Staatsorgane zu wenden, um die öffentliche Kontrolle von Gefängnissen, Straflagern und geschlossenen Anstalten, um eine wirksame gesellschaftliche Kontrolle der Einhaltung der Rechte von Soldaten, um eine unabhängige ökologische Expertise, um die Stimulierung von gemeinnützigem Handeln und vielem anderen mehr.

Dazu muss kein neuer bürokratischer Überbau über den Nichtregierungsorganisationen geschaffen werden.

Im Zusammenhang mit dem oben Dargelegten ist für Memorial eine Beteiligung an der "Gesellschaftskammer der RF" nicht möglich.

Wir wenden uns auch an die Kollegen aus anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Hoffnung, dass sie unsere Argumente bei ihrer Entscheidung über eine Beteiligung an der Gesellschaftskammer zu Kenntnis nehmen.


Vorstand der Russischen Gesellschaft Memorial


Quelle: Russischer Nachrichtenserver von Memorial: http://www.memo.ru/daytoday/5palata1.htm

Übersetzung aus dem Russischen: Jens Siegert

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Michail Fedotov zur Zivilgesellschaft in Russland

Michail Fedotov, der Vorsitzende des russischen Menschenrechtsrats, zu Zivilgesellschaft und Menschenrechten in Russland

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MEMORIAL begrüßt Resolution des EU-Parlaments zur Rechtsstaatlichkeit in Russland

Die Gesellschaft „MEMORIAL“ hat die Annahme der Resolution zur Rechtsstaatlichkeit in Russland vom 17. Februar 2011 durch das Europäische Parlament begrüßt.
Die Resolution greife wesentliche kritische Aspekte der Menschenrechtslage in Russland auf, um diese einer genauen und objektiven Beurteilung zu unterziehen. Das Europäische Parlament habe hier zu Themen und Sachverhalten Stellung genommen, die die russische Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren immer wieder zur Sprache gebracht hat.
MEMORIAL appelliert an die Regierungsstellen der Russischen Föderation, den Empfehlungen dieser Resolution Beachtung zu schenken. Diese umzusetzen, könne für Russland nur von Vorteil sein.
Quelle: http://www.memo.ru/2011/02/17/resolution2.htm
Die Resolution finden Sie hier:
http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+20110217+ITEMS+DOC+XML+V0//DE&language=DE#sdocta6

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Chodorkovskij-Urteil/Expertengutachten zu Jukos

Michail Fedotov, Vorsitzender des russischen Menschenrechtsrats, kündigte nach Presseberichten vom 23.03.2011 den baldigen Beginn der Arbeiten zu einem Expertengutachten in der Sache Jukos an. Zu diesen Arbeiten sollen auch Fachleute für russisches Recht aus dem Ausland - Deutschland, Niederlande, USA und Kanada - herangezogen werden. Chodorkovskij und Lebedev wurden Ende Dezember vom Moskauer Bezirksgericht zu 14 Jahren Freiheitsentzug u.a. wegen Diebstahl von Erdöl verurteilt. Dabei soll erheblicher Druck auf das Gericht ausgeübt worden sein.

Die Pressesprecherin des Moskauer Bezirksgerichts, die in einem Interview mit Gazeta.ru zum Zustandekommen des Urteils Stellung nahm (mehr dazu finden Sie in russischer Sprache unter

Platon Lebedev hat in dem Urteil des Moskauer Bezirksgerichts nach Darstellung des russischen Menschenrechtsportals www.hro.org/node/10453 den Hinweis gefunden, dass der Erdöldiebstahl nicht nachzuweisen sei. Dies würde für die Unschuld der Angeklagen sprechen. Auszüge aus dem Urteil veröffentlicht das Chordorkovskij Pressezentrum in englischer Sprache.

Dem Einspruch der Anwälte Chodorkovskijs gegen die Haftbedingungen hat der russische Oberste Gerichtshof inzwischen stattgegeben.
Mehr in englischer Sprache unter (www.khodorkovskycenter.com)

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Russischer Menschenrechtsrat zur Frage des Gedenkens und in Sachen Chodorkovskij

Zum diesjährigen Treffen des russischen Menschenrechtsrats unter Vorsitz von Präsident Medvedev am 01.02.2011 in Jekaterinburg, das der Thematik des Gedenkens an die Opfer des Totalitarismus und der Frage der nationalen Versöhnung gewidmet war, verweisen wir auf die links http://hro.org/node/10209 und http://hro.org/node/10218 in russischer Sprache. Sie finden hier auch den entsprechenden Beitrag von MEMORIAL International.
Die Reaktion von Präsident Medvedev in der Sache Chodorkovskij behandelt der deutsche Beitrag unter www.n-tv.de/politik/Chodorkowski-darf-hoffen-article2506476.html.

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Chodorkovskij-Film in Berlin gestohlen

Nach Mitteilung der Berliner Zeitung vom 5./6.02.2011 wurde der Chodorkovskij-Film des Regisseurs Cyril Tuschi aus dessen Arbeitsräumen in Berlin-Mitte gestohlen. Die Premiere auf der Berlinale am 14. Februar sei jedoch nicht gefährdet, da eine Kopie ohne Untertitel bereits an die Berlinale gegeben worden war.

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Vorübergehende Schließung der Potsdamer Gedenkstätte Leistikowstraße

löste scharfen Protest seitens des Gedenkstättenvereins und der Zeitzeugen-Initiative aus, die am 05.02.2011 zu einer Mahnwache vor der Gedenkstätte aufriefen, um die von September bis Februar 2012 geplante Schließung der Gedenkstätte zu verhindern. Für Februar 2012 ist die Eröffnung der neuen Dauerausstellung vorgesehen. Etwa 25 Personen waren dem Aufruf gefolgt, darunter auch die damalige brandenburgische Ministerin, Prof. Wanka, die sich seinerzeit engagiert für die Gedenkstätte eingesetzt hat. Kulturstaatssekretär Gorholt wandte sich vermittelnd an die Anwesenden und schlug ein Treffen Mitte Februar vor, an dem auch die Diktaturbeauftragte Brandenburgs, Ulrike Poppe, und ein Vertreter von MEMORIAL Deutschland teilnehmen sollen, um eine Interimslösung für die Zeit vom September 2011 bis Februar 2012 zu finden. Einzelheiten zum KGB-Gefängnis Potsdam Leistikowstraße finden Sie auf unserer Projektseite.

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Orlov-Prozess

Das Moskauer Bezirksgericht hatte in seiner Sitzung Anfang März wie vorgesehen die Aussage und Begründung des wegen Verleumdung verklagten Leiters des MEMORIAL-Menschenrechtszentrums, Oleg Orlov, angehört, der sich als nicht schuldig erklärte.
Der als geschädigte Partei geladene tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrov war nicht erschienen und wurde zur darauffolgenden Sitzung am 28. März 2011 erneut geladen. Der Kläger ist jedoch weder zu diesem Termin noch zu der auf den 18. April 2011 anberaumten Verhandlung erschienen. Die einfache Verlesung seiner Zeugenaussage ist nach Strafprozessordnung nicht zulässig. Die Vertretung der geschädigten Partei hat deshalb die Einrichtung einer Videoschaltung beantragt, das Gericht hat dem zum Sitzungstermin am 28. April 2011 zugestimmt.
Über den Ausgang des Verfahrens werden wir zu gegebener Zeit berichten.

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Mitglieder des St. Petersburger Menschenrechtsrats appellieren an Präsident Medvedev

In ihrem Scheiben vom 03.01.2011 weisen die Unterzeichner darauf hin, dass namhafte Vertreter der Opposition wie Boris Nemzov, Ilja Jaschin, Eduard Limonov und andere offensichtlich auf Weisung von oben für Vergehen während der Kundgebungen am 31.12. zur Verantwortung gezogen würden, die sie nicht begangen hätten.

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