The Insider lässt Menschenrechtler, Aktivisten und Journalisten zu Wort kommen, die ihre Tätigkeit unter den derzeitigen Bedingungen in Russland schildern. Wir bringen den Bericht von Oleg Orlov leicht gekürzt. 

 

Oleg Orlov

Vorstandsmitglied des liquidierten Menschenrechtszentrums Memorial, seit über 30 Jahren als Menschenrechtsaktivist aktiv, mehrfach als Beobachter in Gebieten mit bewaffneten Konflikten im postsowjetischen Raum, wurde seit dem 24. Februar wegen Einzelkundgebungen gegen den Angriffskrieg in der Ukraine mehrfach verhaftet, Mitbegründer des Rats russischer Menschenrechtsaktivisten, der am 25. März 2022 ein Humanitäres Manifest gegen den Krieg veröffentlichte.

Am 24. Februar waren wir im Ausland. Wir hatten dort ein Seminar, auf dem wir unser zukünftiges Leben diskutierten. Als wir erfuhren, dass der Angriff begonnen hatte, waren wir entsetzt. Wir verstanden im Gegensatz zur Mehrheit unserer Mitbürger, dass dies ein bestimmter Meilenstein war. Ich erinnere mich an einige solcher Meilensteine und das hier ist ein solch schrecklicher und fürchterlicher.

Alle Memorialer, die an diesem Seminar teilgenommen hatten, kehrten nach Russland zurück, keinem kam es in diesem Moment in den Sinn, dortzubleiben. Wir hatten doch unser zukünftiges Leben erörtert und wir mussten zurück, um wenigstens alles zu tun, damit Memorial unter den neuen Bedingungen weiterarbeiten und das tun kann, was es bisher getan hat. Seit dem Krieg sind einige meiner Kollegen weggegangen, andere sind geblieben. Es gab nicht nur einmal Momente, in denen gesagt wurde, man müsse ausreisen und dass es hier immer schlimmer würde. Ich habe immer gedacht, dass ich nirgendwo hin will. Das ist mein Land. Ich habe vor 30 Jahren für mein Land angefangen, bei Memorial zu arbeiten und ich will in meinem Land leben und sterben. Ich arbeite um seinetwillen. Ich kann aber nicht beschwören, dass ich in jedem Fall hier bleiben werde. 

Noch geht man mit mir ziemlich zivilisiert um. Na gut, sie haben mich eben verhaftet und auf die Polizeiwache gebracht. Übrigens nicht nur mich, auch meine Kollegen, und ich habe im Gefangenentransporter und auf der Polizeistation richtig gute Leute kennengelernt. Nichts dergleichen ist passiert, was es auf anderen Polizeistationen gegeben hat, wo es nicht nur zu Drohungen, sondern auch zu physischer Gewalt gekommen ist. Alles verlief nach dem Gesetz, wenn man das Gesetz nennen kann. Aber alles, was passierte, war absolut nicht im Rahmen des Rechts.

Die Behörden haben etliche drakonische Gesetze erlassen, die die Redefreiheit praktisch vernichtet haben. Dazu gehört das Verbot der „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über das Vorgehen der Armee der Russischen Föderation und deren Diskreditierung“, worunter man alles mögliche verstehen kann. Auch die Aussage "Der Faschismus wird nicht durchkommen" wird als Diskreditierung der Streitkräfte angesehen. Natürlich drohen jedem, der gerade etwas über den Krieg sagt, Repressionen. 

Ganz offensichtlich ist die absolute Mehrheit der Menschen nicht bereit, zu protestieren. Viele unterstützen in der Tiefe ihrer Seele zwar nicht, was passiert, denken aber, es sei besser zu schweigen. Sie haben Angst, wollen keine Schwierigkeiten, und überhaupt herrscht bei einem bedeutenden Teil der Gesellschaft Gleichgültigkeit. Es ist vollkommen klar, dass unsere russische Gesellschaft nicht normal ist, sie ist schwer krank, und zwar schon lange. Diese Krankheit der Gleichgültigkeit, das ist wahrscheinlich das Schrecklichste und Schlimmste. Die Menschen verstehen einfach nicht, dass dieser Krieg unweigerlich Auswirkungen auf sie haben wird. 

Ich bin sicher, dass man die Regierung hätte beeinflussen können. Wäre es so gekommen, wie auf dem „Bolotnaja“-Platz (den Kundgebungen 2011 und 2012 auf dem Bolotnaja-Platz, The Insider), wären 100 000 Menschen auf die Straße gegangen, hätte sich die Regierung womöglich anders verhalten. Möglich, dass sie schnell dazu übergegangen wäre, ein Ende dieses Kriegs einzuleiten. Natürlich hätte sie ihn nicht sofort beendet, hätte sich nicht schuldig bekannt, ihre Truppen nicht aus Donezk und Luhansk abgezogen. Aber wenigstens hätte das Grauen nicht dieses Ausmaß angenommen. Sehr wahrscheinlich hätte sich unsere Regierung bei den Verhandlungen gesprächsbereiter gezeigt und einen Kompromiss gesucht. 

Um welch schrecklichen Preis, gebe es Gott, wird unsere Regierung dann doch noch auf einen Kompromiss eingehen! Um den Preis des Lebens unserer Mitbürger und in weit höherem Ausmaß um den des Lebens ukrainischer Bürger, vor allem der friedlichen Zivilbevölkerung. Und um den Preis furchtbarer wirtschaftlicher Verluste.

Natürlich dringen keinerlei alternative Sichtweisen zu den russischen Bürgern durch. Das wurde ja bewusst so gemacht, damit es keine Proteste gibt. Das zeigt in gewisser Weise die Schwäche der Regierung, sie hat große Angst vor möglichen Protesten. Und das zeigt wieder, dass die russische Gesellschaft die Möglichkeit hatte, zu verhindern, dass der Krieg derart hochkocht, wie es jetzt geschehen ist. Aber die Gesellschaft hat diese Möglichkeit nicht genutzt.

Man könnte die Menschen wahrscheinlich aufwecken, wenn es alternative Informationen gäbe und die Leute beginnen würden zu verstehen, was passiert. Mir scheint, dass es unweigerlich durchdringen wird und wahrscheinlich schon durchgedrungen ist. Sogar auf unseren Propaganda-Kanälen – ich schaue sie normalerweise nicht an, aber jetzt schon, weil ich verstehen muss, was dort gesagt wird – sogar da sagt man, dass die Soldaten auf erbitterten Widerstand stoßen, dass sie Ortschaften nur unter großen Schwierigkeiten einnehmen. Unweigerlich wird es die Menschen erreichen, dass der „kleine siegreiche Krieg“ sich in etwas sehr Übles verwandelt. 

Ich wurde mehrmals gefragt: Wo warst du acht Jahre lang und warum hast du nichts zum Beschuss von Donezk gesagt? Wir sind vor acht Jahren häufig auf beide Seiten der Front gereist. Wir waren in der sogenannten LNR und DNR und auch auf der ukrainischen Seite. Wir haben alles dort gesehen, all das Grauen beschrieben. Wir haben über dieses Pseudoreferendum [gemeint ist das Referendum über die Selbstbestimmung der „Volksrepublik Donezk", das am 11. Mai 2014 stattfand; The Insider] in dem Bericht „Das Referendum, ,das nicht stattgefunden hat“ geschrieben, und absolut eindeutig dokumentiert, dass dieses Referendum eine Farce war, es hat gar kein Referendum gegeben. Zu berechnen, wie viele Menschen gewählt hatten, war unmöglich.

Dann als die Kämpfe losgingen [2014] fixierten wir diese. Ich war selbst in Donezk, als dort von ukrainischer Seite Geschosse einschlugen, als Wohngebiete unter Beschuss gerieten. Wir haben dies auch unseren ukrainischen Kollegen gesagt und in unserem Bericht geschrieben und auf internationaler Ebene erklärt, dass dies ein Verbrechen ist und dass Wohngebiete nirgends beschossen werden dürfen. Unsere ukrainischen Kollegen haben uns gesagt, und wir haben es auch selbst gesehen, dass „DNR“- und „LNR“-Kämpfer in diesen Wohngebieten Gefechtspositionen hielten und von dort Gefechte führten. Aber das rechtfertigt keine Angriffe, bei denen Kinder umkommen und Geschosse in Krankenhäusern landen. Das unsere Propagandisten die ganze Zeit über diese Seite berichteten, aber verschwiegen, dass Wohngebiete der Gebiete Donezk und Luhansk auch von der anderen Seite zerstört werden, nämlich von den Beschüssen der Separatisten und unserer Armee, die mehrfach dort ein- und ausmarschierte. Wir haben die Ergebnisse dieser Beschüsse gesehen, waren dort, wo die Menschen in dieser Zeit umkamen und wir sehen das jetzt auf den Fernsehbildschirmen.

Von einem bestimmten Zeitpunkt an wollte man uns Memorialer nicht mehr sehen. Die DNR und LNR sagten: „Unsere Sicherheitsdienste erklären euch zu Personen non grata!“ Leider wurde einer unserer Berichte, den wir mit unseren ukrainischen Partnern herausgegeben hatten, vom Innenministerium der Ukraine ebenso negativ bewertet. Sie wollten ebenfalls, dass wir nur über eine Seite sprechen. Jede der Seiten wollte das, deshalb ließ man uns ab einem bestimmten Zeitpunkt weder hier noch dort zu.

Einen Monat nach dem aggressiven Krieg in der Ukraine haben wir, eine Reihe russischer Menschenrechtler (nicht im Namen unserer Organisation, die zum Teil schon liquidiert wurde) von sich aus persönlich ein Manifest veröffentlicht, das wir „Humanitäres Manifest“ genannt haben. Darin haben wir die Dinge sehr klar beim Namen genannt: den Krieg, die Aggression, die zivilen Toten und die furchtbaren Folgen für Russland aus all dem. Wir haben in diesem Manifest auch die Gründung eines Rates russischer Menschenrechtler erklärt, um unsere Aktionen unter diesen äußerst schweren Umständen zu koordinieren. 

Gerade läuft die Frühjahrseinberufung und eine große Menge junger Menschen könnte einberufen werden. Wenn sich die Dinge weiter so entwickeln wie jetzt, dann kann man absolut nicht ausschließen, dass dort Wehrpflichtige hingeschickt werden. Deshalb ist der alternative Zivildienst die Möglichkeit, alle gesetzlichen Rechte zu nutzen, um sich vor der Einberufung zu schützen. Wir müssen das ermöglichen. Weiter sind da die Flüchtlinge. Ihnen muss geholfen werden, wir helfen schon und sind bereit, diese Hilfe zu verstärken. Dann geht es weiter mit denen, die kämpfen. Ihre Angehörigen haben das Recht von ihrem Schicksal zu erfahren, ein Teil von ihnen ist spurlos verschwunden. Sie haben das Recht auf ihre Leichen, wenn bekannt wird, dass sie umgekommen sind. Sie haben das Recht, einen Austausch zu verlangen, wenn ihre Angehörigen in Gefangenschaft geraten sind. Eine weitere große Sache ist die Hilfe für Opfer politischer Verfolgung. Ihre Zahl steigt, und es wird zwangsläufig zu weiteren repressiven Gesetze kommen. Außerdem ist da der Schutz von Medien und Journalisten. Natürlich gibt es bei fehlender Redefreiheit nur minimale Möglichkeiten, Medien und Journalisten zu schützen, trotzdem kann und muss man in dieser Richtung etwas tun. 

Ich denke, dass es angesichts der allgemeinen Angst, der Lähmung der russischen Zivilgesellschaft sehr wichtig war, öffentlich zu erklären, dass wir nicht paralysiert sind und unsere Arbeit fortsetzen werden.

4./19. Mai 2022

 

 

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