Am 14. Juni verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine lange erwartete Entscheidung. Er erklärte, dass die geltende Gesetzgebung in Russland für Nichtregierungsorganisationen – konkret, das „Agentengesetz“ – im Widerspruch zur Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten stehe.

Seit Anfang 2013 hatten 73 NGOs beim EGMR gegen das 2012 in Kraft getretene „Agentengesetz“ geklagt, darunter Memorial International, das Menschenrechtszentrum Memorial, das Sacharov-Zentrum, die Assoziation Golos, die Soldatenmütter, das Komitee gegen Folter. u.a. Die Bestimmung, nach der sich jede angeblich „politisch tätige“ NGO, die ausländische Fördergelder erhält, als „ausländischer Agent“ registrieren lassen und alle Publikationen dementsprechend kennzeichnen müsste, lehnten sie als diskriminierend ab. Das Etikett des „ausländischen Agenten“ ist eindeutig negativ konnotiert, ein Agent gilt als Spion und Verräter.

36 der Organisationen wurden infolge der Anwendung des „Agentengesetzes“ bereits zur Auflösung gezwungen (nicht zuletzt die beiden genannten Memorial-Verbände).

Das Europäische Gericht stellte in seinem Urteil fest, dass die Begriffe der „politischen Tätigkeit“ und der „ausländischen Finanzierung“ zu unklar seien und leicht missbraucht werden könnten. In den Augen des Gerichts gab es keinen Grund, den Status des ausländischen Agenten einzuführen. Die betroffenen NGOs werden dadurch in ihrer Tätigkeit extrem eingeschränkt, ihre Aktivitäten in der Öffentlichkeit, ihre Kooperation mit anderen Organisationen und Institutionen sind massiv behindert. Die russische Regierung hätte nicht überzeugend darlegen können, dass die Einführung des „Agenten“-Status für NGOs zur finanziellen Transparenz beitrage. „In einer demokratischen Gesellschaft“ war es daher nicht notwendig, einen solchen Status zu schaffen, so das Gericht.

Juristinnen der inzwischen verbotenen Organisation Memorial International begrüßten das Urteil. Es stütze ihre Position, dass das „Agentengesetz“ internationalem Recht widerspricht und das Recht auf Vereinigungsfreiheit verletzt. Bei der Forderung nach Aufhebung des Gesetzes werde man sich auch auf dieses Urteil stützen. Allerdings wurde bedauert, dass das Urteil sehr spät erfolgt sei (mehr als die Hälfte der klagenden NGOs sind dem Gesetz bereits zum Opfer gefallen), außerdem habe das Gericht das Gesetz nicht im Hinblick auf Diskriminierung (Art. 14) und politische Verfolgung (Art. 18) untersucht. 

Das Urteil des EGMR spricht jeder dieser NGO als Kompensation für den erlittenen moralischen Schaden 10.000 Euro zu ebenso wie einen Ersatz für materiellen Schaden (d. h. der russische Staat müsste ihnen die zahlreichen verhängten Geldstrafen erstatten).

Reale Folgen hat das derzeit nicht. Präsident Putin hatte wenige Tage zuvor Gesetze unterzeichnet, denen zufolge Russland die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die nach dem 15. März 2022 ergangen sind, nicht mehr umsetzen wird. An diesem Tag hatte Russland seinen Austritt aus dem Europarat bekannt gegeben. So erklärte denn auch der Pressesprecher des Präsidenten, Dmitrij Peskov, nach dem Urteil, dass Russland sich danach nicht richten werde.

22. Juni 2022

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