Nobelpreisrede

Rede des Friedensnobelpreisträgers von 2022, der Gesellschaft Memorial, vorgetragen von Jan Raczynski am 10. Dezember in Oslo

 

Eure Majestät, Eure Königliche Hoheiten, verehrte Damen und Herren! Liebe Freunde!

 

Gestatten Sie mir zunächst, dem Norwegischen Nobelpreiskomitee im Namen der Gesellschaft Memorial für die Zuerkennung des diesjährigen Friedensnobelpreises zu danken.

Wir sind dem Nobelpreiskomitee besonders dankbar dafür, dass wir diese hohe Ehre mit dem ukrainischen Zentrum für bürgerliche Freiheiten und dem mutigen belarusischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki teilen. Diese Entscheidung des Komitees ist von hohem Symbolwert: Sie unterstreicht, dass Staatsgrenzen die Zivilgesellschaft nicht trennen können und dürfen. Für uns ist diese Nachbarschaft eine zusätzliche Auszeichnung.

Die Gesellschaft Memorial existiert bereits 35 Jahre. Heute sind ihre Verbände in vielen Regionen Russlands, in der Ukraine und in mehreren westeuropäischen Ländern tätig. Der Nobelpreis ist das Verdienst all dieser Organisationen, jedes Einzelnen von Tausenden, die an dieser Arbeit mitwirken, all ihrer Mitglieder, Mitarbeiter, Freiwilligen und Teilnehmer an öffentlichen Aktionen. Es ist auch das Verdienst jener, die nicht mehr bei uns sind, insbesondere derer, die unsere Gesellschaft gegründet und sie zu dem gemacht haben, was sie heute ist: Andrej Sacharov, Arsenij Roginskij, Sergej Kovaljev und vieler anderer. Es ist ihr Preis ebenso wie unserer.

In unserer Arbeit gibt es zwei grundlegende, gleichwertige Themen:

Erstens – die Wiederherstellung der historischen Erinnerung an den staatlichen Terror. Wir recherchieren in Archiven, suchen nach Erschießungsorten und Grabstätten, stellen eigene Archive, Bibliotheken und Museumskollektionen zusammen, veröffentlichen Bücher und organisieren öffentliche Gedenkveranstaltungen. Wir führen Ausstellungen, wissenschaftliche Konferenzen, Seminare und Jugendprogramme durch. Wir richten Datenbanken ein, sowohl über die Opfer des Terrors als auch über die Täter. Wir berichten über die Verfolgungen Andersdenkender, über intellektuellen, zivilgesellschaftlichen und politischen Widerstand gegen den Totalitarismus.

Zweitens – der Kampf für die Menschenrechte in der neuen, postsowjetischen Epoche. Hier geht es um Recherchen, Analyse und Veröffentlichung von Informationen über Menschenrechtsverletzungen an Brennpunkten wie in Berg-Karabach, Transnistrien, Tadzhikistan, der ossetinisch-inguschischen Konfliktzone, in Tschetschenien, im Donbas. Das ist die Suche nach Vermissten, die Untersuchung außergerichtlicher Abrechnungen und des so genannten „Verschwindenlassens“. Es geht um Hilfe für Flüchtlinge und Zwangsmigranten, das Monitoring politischer Verfolgungen und Rechtshilfe für politische Gefangene, von denen es heute in Russland bereits nicht weniger gibt als in der UdSSR zu Beginn der Perestrojka. In gewissem Sinne ist es die Fortsetzung des Kampfes um Freiheit, der auch in den Jahren der Sowjetmacht nicht aufgehört hat — hier kommen Vergangenheit und Gegenwart zusammen.

Ich möchte hier einige allgemeine Fragen ansprechen.

Erstens: Wie verhält sich bei Memorial der Einsatz für Menschenrechte zur historischen Arbeit?

Vor zweihundert Jahren sah Puschkin die Grundlage des „Selbstseins des Menschen“ (самостоянье человека), seiner Würde und persönlichen Freiheit in seiner Teilhabe am Vergangenen, in der Liebe zur „heimatlichen Asche“ und zu den „Gräbern der Vorfahren“. Auf dem unlösbaren Band zwischen der Erinnerung und der Freiheit basiert auch die Arbeit von Memorial.

Das Spezifische dabei ist, dass wir nicht einfach Tragödien der Vergangenheit und heftige gesellschaftliche Kollisionen der Gegenwart erforschen und dokumentieren, sondern Verbrechen - Verbrechen gegen Menschen und gegen die Menschlichkeit, die die Staatsmacht begangen hat und begeht. Die erste Ursache für diese Verbrechen sehen wir darin, dass die Staatsmacht sakralisiert wird und als höchster Wert gilt. Die von dieser Macht verkündeten „Staatsinteressen“ genießen absolute Priorität. Die Persönlichkeit, ihre Freiheit, ihre Würde und ihre Rechte haben das Nachsehen. Dieses umgestürzte Wertesystem, in dem die Menschen lediglich Gebrauchsmaterial für die Lösung von Staatsaufgaben sind, hat in unserem Land siebzig Jahre geherrscht.

Zu den offensichtlichen Folgen der Sakralisierung des Staats gehört die Wiedererstehung imperialer Ambitionen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zeigte sich dies im Überfall auf Polen und Finnland, in der Besetzung der baltischen Länder, der Annexion Bessarabiens und der Nordbukowina. Das Diktat der Nachkriegszeit über die Länder Osteuropas, der Einmarsch in Ungarn 1956, in die Tschechoslowakei 1968, der Krieg in Afghanistan — all dies sind Erscheinungsformen derselben Ambitionen, die auch heute noch lebendig sind.

Eine andere Folge ist, dass nicht nur die Personen straflos davonkommen, die verbrecherische politische Entscheidungen treffen, sondern auch jene, die bei ihrer Ausführung Verbrechen begehen. Ungesühnt bleiben außergerichtliche Hinrichtungen, Morde an Zivilisten, Folterungen und Plünderungen, dagegen wird nicht einmal ermittelt. Wir haben dies in den Kriegshandlungen in Tschetschenien gesehen, und wir sehen es heute in den besetzten Gebieten der Ukraine. Nach den Bombardierungen Groznyjs stellt die Zerstörung von Mariupol kein Novum mehr dar.

Die Kette ungestrafter Verbrechen setzt sich fort, sie wird von selbst nicht abbrechen. Und hier gibt es keine Kompromisslösung. Leider hat die russische Gesellschaft nicht genügend Kraft besessen, um die Tradition der staatlichen Gewalt ein Ende zu bereiten.

Siebzig Jahre hat der Staat jegliche Solidarität unter den Menschen zerstört, er hat die Gesellschaft atomisiert, jede Erscheinung bürgerlicher Solidarität ausgerottet und die Menschen zu einer gehorsamen und stimmlosen „Bevölkerungsmasse“ gemacht. Der heutige traurige Zustand der Zivilgesellschaft in Russland ist die unmittelbare Folge dieser nicht überwundenen Vergangenheit.

Für uns besitzt dagegen der Mensch die höchste Priorität, sein Leben, seine Freiheit und seine Würde. Wir sind Gegner einer Sicht, die dem Menschen nichts und dem Staat alles zukommen lässt. Im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen keine epochalen historischen Ereignisse und keine Fragen der „hohen Politik“ (wenngleich man sich in diesen Fragen zurechtfinden muss, um die Zusammenhänge menschlicher Schicksale zu verstehen). Wichtiger sind uns die Namen und Schicksale konkreter Personen, die einer verbrecherischen staatlichen Politik zum Opfer fielen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Name und Schicksal — das ist die Grundlage, der Bereich, in dem wir arbeiten, was wir dokumentieren oder wiederherstellen.

Die zweite Frage ist die übernationale, universale menschliche Natur der Themen, die Memorial behandelt

Die Menschheit hat schon vor langer Zeit erkannt, dass menschliche Rechte und Freiheiten nichts mit nationalen Grenzen zu tun haben. Hier ist alles klar, und die heutige Entscheidung des Nobelpreiskomitees demonstriert dies eindringlich. Die Idee des Rechtsstaats, der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte spielt eine wesentliche Rolle für das menschliche Zusammenleben, sie ist eine Garantie für Frieden und Fortschritt auf dem Planeten. Das russische Denken hat dazu einen bedeutenden Beitrag geleistet, von dem russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts Vladimir Solovjev bis zu Andrej Sacharov, Jurij Orlov und anderen sowjetischen Dissidenten.

Mit der historischen Erinnerung verhält es sich komplizierter. In jedem Land, in jeder Gesellschaft entstehen eigene historische Narrative, eigene „nationale Bilder der Vergangenheit“, die nicht selten im Widerspruch zu denen der Nachbarländer stehen. Grund für Streit sind dabei gewöhnlich nicht einzelne Fakten, sondern differierende Interpretationen derselben Ereignisse. Verschiedene Völker verstehen und bewerten dieselben historischen Vorgänge zwangsläufig unterschiedlich, zumal sich diese Einschätzungen vor dem Hintergrund ihrer eigenen nationalen Geschichte entwickeln. Man muss sich lediglich über die Ursachen dieser Differenzen klar werden und das Recht jedes Volks auf seine eigene Sichtweise der Vergangenheit respektieren.

Es hat keinen Sinn, die „fremde“ Erinnerung zu ignorieren und so zu tun, als gäbe es sie gar nicht. Sinnlos und höchst gefährlich ist es, ihre Berechtigung in Abrede zu stellen und die dahinterstehende Geschichtsauffassung pauschal für falsch zu erklären. Und es birgt eine tödliche Gefahr, die Geschichte als politisches Instrument zu nutzen und „Kriege der Erinnerungen“ zu entfesseln.

Im sowjetischen Imperium wurden alle Versuche der Völker, für ihre nationale Unabhängigkeit zu kämpfen, ja selbst nur Erscheinungsformen eines nationalen Selbstbewusstseins, die nicht ins ideologische Dogma passten, zu „bürgerlichem Nationalismus“ erklärt und brutal unterdrückt. Nach dem Zerfall der UdSSR entstanden in den neuen Staaten auf ihrem Territorium neue historische Narrative, andere als die der offiziellen sowjetischen historischen Mythologie. Bald nach Vladimir Putins Regierungsantritt setzten die neue russische Führung und ihre ideologische Gefolgschaft wütende und aggressive „Kriege der Erinnerung“ gegen ihre Nachbarn in Gang — Estland, Lettland, die Ukraine — und nutzten dabei in vollem Ausmaße die alten sowjetischen Stereotypen und Diffamierungen. Natürlich geschah dies mitnichten im Sinne der „historischen Wahrheit“, sondern im eigenen politischen Interesse. Schließlich diente der Kampf gegen „Nationalismus“ und „Bandera-Ideologie“ als ideologische Grundlage und propagandistische Unterfütterung des irrsinnigen und verbrecherischen Eroberungskrieges gegen die Ukraine.

Zu den ersten Opfern dieses Irrsinns gehört die historische Erinnerung in Russland selbst. Um die Aggression gegen das Nachbarland als „Kampf gegen den Faschismus“ ausgeben zu können, war in der Tat eine Gehirnwäsche der russischen Bürger erforderlich, indem die Begriffe „Faschismus“ und „Antifaschismus“ gegeneinander ausgetauscht wurden. Russische Massenmedien bezeichnen den bewaffneten Einmarsch in das Nachbarland, das dazu keinerlei Anlass gegeben hatte, als „Antifaschismus“, ebenso die Annexion der besetzten Territorien, den Terror gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Regionen und Kriegsverbrechen. Der Hass gegen die Ukraine wird geschürt, ihre Kultur und ihre Sprache werden öffentlich für „minderwertig“ und das ukrainische Volk für nichtexistent erklärt. Der Widerstand gegen den Aggressor dagegen gilt als „Faschismus“. Dies alles steht in absolutem Widerspruch zur historischen Erfahrung Russlands, es entwertet und verfälscht die Erinnerung an den tatsächlichen antifaschistischen Krieg von 1941-1945, die Erinnerung an die sowjetischen Soldaten, die gegen Hitler gekämpft haben. Die Worte „russischer Soldat“ werden jetzt im Bewusstsein vieler Menschen nicht mehr mit ihnen in Verbindung gebracht, sondern mit jenen, die heute Tod und Zerstörung auf ukrainischem Boden verursachen.

Und schließlich der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte: das Problem von Schuld und Verantwortung

Uns bedrängt die Frage: Hat Memorial wirklich den Friedensnobelpreis verdient?

Nun, wir haben versucht, die historische Erinnerung und das Rechtsbewusstsein vor einer Erosion zu bewahren. Wir haben die Verbrechen der Vergangenheit und der Gegenwart dokumentiert. Wir wollen unser Licht nicht unter den Scheffel stellen – wir haben tatsächlich viel getan und nicht wenig erreicht. Aber konnte denn unsere Arbeit die Katastrophe des 24. Februar abwenden?

Die furchtbare Last, die seit diesem Tag auf unseren Schultern liegt, ist nach der Bekanntgabe der Preisvergabe an uns nicht leichter geworden, sondern noch schwerer.

Nein, das ist nicht die Last einer „nationalen Schuld“. Man sollte überhaupt nicht von einer „nationalen“ oder sonstigen Kollektivschuld sprechen, schon deshalb nicht, weil das Rechtsbewusstsein dieser Konzeption entschieden widerspricht. Die gemeinsame Arbeit in unserer Bewegung basiert auf einer ganz anderen weltanschaulichen Grundlage, nämlich auf der Einsicht in die staatsbürgerliche Verantwortung für Vergangenheit und Gegenwart.

Die Verantwortung des Menschen für alles, was mit seinem Land, ja mit der gesamten Menschheit geschieht, beruht, wie schon Karl Jaspers feststellte, auf universaler bürgerlicher und menschlicher Solidarität. Das bezieht sich auch auf das Verantwortungsgefühl für Ereignisse in der Vergangenheit. Es ergibt sich daraus, dass der Mensch seine Einheit mit vorangegangenen Generationen empfindet und sich als Glied in dieser Generationenkette zu erkennen vermag, das heißt, aus dem Bewusstsein seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die nicht erst gestern entstanden ist und die hoffentlich nicht morgen verschwindet. Die Bereitschaft zur Verantwortung ist ausschließlich persönlich: Der Mensch selbst übernimmt freiwillig die Verantwortung für das, was früher geschehen ist und für das, was jetzt geschieht, woran er aber selbst nicht unmittelbar beteiligt ist. Niemand anders kann ihm diese Last auferlegen. Und das Wichtigste: Das Gefühl der bürgerlichen Verantwortung, im Unterschied zum Schuldgefühl, erfordert keine „Reue“, sondern Arbeit. Es zielt nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft.

Memorial ist ein Bündnis von Menschen, die die bürgerliche Verantwortung für Vergangenheit und Gegenwart freiwillig auf sich nehmen und für die Zukunft arbeiten. Vielleicht müssen wir diesen Preis nicht nur als Wertschätzung für das auffassen, was wir in 35 Jahren tun konnten, sondern auch als eine Art Vorschuss. Denn wir werden die Hände nicht sinken lassen, sondern unsere Arbeit fortführen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

10. Dezember 2022

Die Nobelpreisrede, die Oleksandra Matvijtschuk für das Zentrum für bürgerliche Freiheiten / Ukraine vorgetragen hat, finden Sie in deutscher Übersetzung hier, die von Natalja Pintschuk für ihren Mann Ales Bjaljatski / Belarus auf Deutsch ist hier.

 

 

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