Anfang November 2022 führte Sergej Dmitriev ein Interview mit Jewgenij Sacharow (Charkiver Menschenrechtsgruppe), das wir nachstehend (mit einer aktualisierten Zahlenangabe) veröffentlichen, da die diskutierten Probleme nichts an Aktualität eingebüßt haben.

 

In Paris fand vom 23. bis 27. Oktober der 41. Kongress der Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme (Internationale Föderation von Menschenrechtsorganisationen, FIDH) statt – aus Anlass ihres hundertjährigen Bestehens. Der russische Dienst von RFI (Radio France Internationale) sprach mit Kongressteilnehmern aus Armenien, Russland und der Ukraine über den Krieg und die Menschenrechte, darüber, wie sich das letzte halbe Jahr auf die Zivilgesellschaft ausgewirkt hat, warum es wichtig ist, dass Menschenrechtler aus verschiedenen Ländern der Welt ihre Erfahrungen austauschen. Über die Menschenrechtsarbeit unter Kriegsbedingungen, die Dokumentierung von Kriegsverbrechen und die Bedeutung des Friedensnobelpreises berichtet Jewgenij Sacharow, der Vorsitzende der Helsinki-Union für Menschenrechte und Direktor der Menschenrechtsgruppe Charkiv, im Gespräch mit Sergej Dmitriev von RFI.

 

Sergej Dmitriev: Jewgenij, wie scheint es Ihnen, wie weit ist es überhaupt möglich, ein so umfassendes Thema wie „Krieg und Menschenrechte“ zu formulieren, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich die Situation in den kriegführenden Ländern ist, sowohl hinsichtlich der Lage der Zivilgesellschaft als auch ihrer Rolle im Krieg? Oder gibt es da doch gemeinsame Probleme und Herausforderungen?

Jewgenij Sacharow: Es gibt einige allgemeine Prinzipien der Menschenrechtsarbeit, die, vielleicht mit ein paar Einschränkungen, in jeder Situation umgesetzt werden müssen. Das gilt auch für den Krieg, obwohl der Krieg schon einige Veränderungen mit sich bringt. So habe ich bis zum 24. Februar ohne weiteres unsere ukrainischen Stellen für Maßnahmen kritisiert, die ich für schädlich und unvernünftig halte oder die die Menschenrechte verletzen. Ich habe mich dazu öffentlich geäußert, wenn ich es für notwendig hielt. Und jetzt kann ich das nicht tun. Denn der Feind, der angreifende Staat, kann sich dies zunutze machen, und alles, was ich schreibe oder sage, kann so verdreht werden, dass es nur noch mehr Schaden anrichtet. Deshalb wenden wir uns in manchen Fragen jetzt unmittelbar an die involvierten Behörden, jedoch nicht öffentlich. 

Öffentlich äußern wir nur in solchen Fällen, in denen die Maßnahmen unserer Regierung dem Aggressor-Staat in die Hände spielen. Ich kann da konkrete Beispiele nennen. Als auf Grund einer Entscheidung von Präsident Selenskyj, praktisch auf seinen Befehl, die digitale Fernsehübertragung von drei oppositionellen Kanälen abgeschaltet wurde (betroffen waren der „fünfte“ Kanal, die Kanäle „Direkt“ und „Espresso“) – war dies ausgesprochen unklug, es war eigentlich ein Skandal und hatte überhaupt keinen Sinn. Man beraubte die Sender 60% ihres Publikums, und das war in keiner Weise zu rechtfertigen. Dann hat man, als die Menschenrechtsbeauftragte Ljudmyla Denysova entlassen wurde, diese unabhängige Institution komplett zerstört. Jetzt haben wir einen neuen Beauftragten, aber er ist de facto nur eine weitere Regierungsstimme, die vollständig unter der Kontrolle des Präsidentenbüros steht. Das ist ausgesprochen fatal, und wir haben das auch offen gesagt.

Ehrlich gesagt, bedaure ich meine russischen Freunde und Kollegen mehr als uns selbst, die ukrainischen Menschenrechtler. Denn wir wissen, wofür wir kämpfen. Wir sind sozusagen im Recht, unsere Position ist in gewissem Sinne völlig sauber. Wir arbeiten jetzt mehr mit dem Staat zusammen, wir unterstützen ihn. Und in Russland ist alles umgekehrt. Salopp ausgedrückt, wurde Russland „degradiert“. Die Menschen, die sich für die Menschenrechte eingesetzt haben, werden verfolgt, sie können strafrechtlich belangt werden, sie sind gezwungen zu emigrieren und vieles mehr. Deshalb habe ich Verständnis für meine Freunde und Kollegen in Russland und fühle mit ihnen. Ihre Situation ist alles andere als einfach.

Die Prinzipien des Einsatzes für Menschenrechte, die ich vor vielen Jahren formuliert habe und zu denen ich nach wie vor stehe, gelten auch in Kriegszeiten. Aber die Situation der Zivilgesellschaft insgesamt und der Menschenrechtsorganisationen im Besonderen ist jetzt natürlich doch eine andere.

Sergej Dmitriev: Zu Ihren Kollegen in Russland würde ich Sie gerne dann noch extra befragen, aber wie hat sich unmittelbar für Sie und die Charkiver Menschenrechtsgruppe seit Februar 2022 die Arbeit verändert?

Jewgenij Sacharov: Erstens arbeite ich seitdem auch als Freiwilliger, ehrenamtlich, was ich vorher viel weniger getan habe. Das ist jetzt eine typische Erscheinung, viele Menschenrechtler tun das. Einfach weil sich sehr viele Menschen sozial in einer schwierigen Situation befinden und Hilfe brauchen: Umsiedler (aus besetzten und umkämpften Gebieten), Verletzte, kinderreiche Familien, Familien, in denen jetzt die Männer, die früher Geld verdient und die Familie ernährt haben, im Krieg sind. Ich spreche jetzt gar nicht von der enormen Unterstützung für unsere Streitkräfte, die ebenfalls notwendig ist. Obwohl erhebliche Mittel zugeteilt werden, ist das immer noch nicht genug. Deshalb spielt die ehrenamtliche Arbeit seit Kriegsbeginn im Februar 2022 eine so große Rolle in der Zivilgesellschaft. Genauso war es bereits 2014-2015.

Zweitens sind wir jetzt gezwungen, Kriegsverbrechen zu dokumentieren, die in großer Anzahl seit den ersten Kriegstagen bezeugt sind. Wir haben sie in eine Datenbank eingetragen. Glücklicherweise haben wir diese noch im vorigen Kriegsstadium eingerichtet. Unsere Methode fand bei unseren Kollegen Anklang, und wir haben uns in der so genannten Initiative „Tribunal für Putin“ (T4P) zusammengeschlossen. Wir haben das ganze Land unter uns aufgeteilt, um die Verbrechen in jeder Region zu erfassen. Zum heutigen Stand (15.2.2023) haben wir etwa 32.000 Tatbestände verzeichnet, die wir als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewerten. Natürlich ist diese Einstufung vorläufig, aber immerhin nehmen wir diese Bewertung nach den Kriterien des Römischen Statuts vor. Wir haben 26 Kategorien von Verbrechen gezählt, die bisher bereits begangen wurden. Das ist sehr viel Arbeit, die viele Ressourcen und Zeit in Anspruch nimmt.

Für die Dokumentation haben wir uns anfangs auf offene Quellen gestützt. Allmählich verlegt sich der Schwerpunkt jedoch auf unmittelbare Kontakte mit Opfern und Zeugen von Verbrechen. In solchen Fällen können wir die persönlichen Angaben zu Opfern und Zeugen in die Datenbank eintragen, manchmal auch über die Personen, die diese Verbrechen begangen haben, wenn sich das feststellen ließ. Wir wollen erreichen, dass Strafverfahren gegen sie eingeleitet werden. Besonders schwere Verbrechen bringen wir vor internationale Instanzen wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bei Vorfällen, die sich vor dem 16. September zugetragen haben, ist das noch möglich. Und anzeigen kann man diese Fälle noch bis zum 16. März. [Die Russische Föderation ist seit dem 16.9.2022 nicht mehr Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention.] Außerdem informieren wir das UN-Komitee für Menschenrechte, das UN-Komitee gegen Folter und die UN-Arbeitsgruppe zum gewaltsamen Verschwindenlassen.

In den besetzten Gebieten kommt es sehr häufig dazu, dass Personen verschwinden, gewaltsam mit unbekanntem Ziel weggebracht werden. Wir haben bisher über 900 (Stand Mitte Februar 2023) solcher Fälle in unserer Datenbank verzeichnet. Insgesamt werden dort über 2.800 Personen vermisst, und das sind ausschließlich Zivilisten. Das ist eine sehr hohe Zahl. Man kann sagen, dass das Teil der Besatzungspolitik ist. Wir bereiten diese Fälle für UN-Organe oder für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGh) vor. Wir arbeiten bereits daran und werden das intensivieren. Auf dieser Grundlage werden wir mit dem IStGh kommunizieren und mehrere Kategorien von Kriegsverbrechen beweisen, darunter auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid. Wir haben dazu schon viele Daten gesammelt. Bisher veröffentlichen wir dazu immer wieder analytische Aufsätze, in denen wir nachweisen, dass diese Kriegsverbrechen systematisch und in großem Umfang verübt werden.

Nicht weniger wichtig ist es, diese Dinge so weit wie möglich bekanntzumachen. Es reicht nicht, sich dabei nur auf Experten zu beschränken oder auf Personen, die mit der Untersuchung von Verbrechen in unserem Land sowie im Ausland betraut sind. Es kommt darauf an, das normale Publikum im In- und Ausland zu erreichen. Deshalb haben wir eine Website eingerichtet, die die Kriegsverbrechen thematisiert und die in sieben Sprachen vorliegt – auf Ukrainisch, Russisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch. Wir haben sie im September 2022 gestartet, ergänzen sie jetzt regelmäßig und werden sie so gut wie möglich bewerben. Außerdem führen wir Interviews mit Personen durch, die Opfer oder Zeugen von Kriegsverbrechen geworden sind. Wir haben schon über hundert Interviews auf der Website, sie sind informativ und beschreiben sehr gut, was sich bei uns abspielt. Sie zeigen, wie sich die Ukrainer verhalten, das Ausmaß der gegenseitigen Hilfeleistung usw. Aber sie geben auch Auskunft darüber, was Russland bei uns anrichtet, wie es mit der Zivilbevölkerung umgeht. Mit solchen Dingen hatten wir vor dem Krieg nichts zu tun, das ist in unserer Arbeit ein Novum.

Außerdem sind wir vermutlich die einzige Organisation in der Ukraine, die regelmäßig über russische Proteste gegen den Krieg in der Ukraine berichtet. Seit Mitte März veröffentlichen wir darüber einen wöchentlichen Digest auf Ukrainisch und Englisch.

Es ist im Übrigen völlig klar, dass es in der Ukraine zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist und immer noch kommt. Das Land konnte sich nicht in kürzester Zeit vollkommen umgestalten. Korruption gibt es nach wie vor. Die Haftbedingungen in unserem Strafvollzug sind immer noch sehr schlecht. De facto wird keine ärztliche Hilfe geleistet. Und unter Kriegsbedingungen haben sich die früheren Probleme nur noch verschärft. Mit diesem Thema haben wir uns früher befasst, und wir tun dies auch weiterhin.

Sergej Dmitriev: Ich möchte noch auf eines zurückkommen – Sie hatten gesagt, dass die bürgerlichen Freiheiten wegen des Krieges eingeschränkt werden. Wenn man diese Frage in die Zukunft projiziert, bedeutet das nicht zwangsläufig einen Rückschritt für die Ukraine?

Jewgenij Sacharov: Das glaube ich nicht. Kriegsbedingte Einschränkungen der Menschenrechte sind ganz selbstverständlich und legitim, allerdings müssen sie verhältnismäßig sein. Die Schließung dreier oppositioneller Kanäle ist zum Beispiel überhaupt nicht verhältnismäßig. Das ist in der Tat eine Fortsetzung der Politik, die schon vor dem Krieg bestand. Und leider verfolgt das Präsidialbüro die Linie, dass alle ihm gegenüber loyal und gehorsam zu sein und seine Anweisungen auszuführen haben. Das Büro bemüht sich sogar, die Gerichte zu dirigieren, und zwar ziemlich ungeniert. Derartige autoritäre Tendenzen verstärken sich natürlich in Kriegszeiten.

Aber diese stillschweigende Verabredung, die Regierung zu Kriegszeiten nicht anzugreifen, an die sich die Zivilgesellschaft jetzt bis zu einem gewissen Grade hält, bedeutet keineswegs, dass die Ukrainer bereit wären, auf ihre Freiheit zu verzichten und sie dem Staat zu opfern. Im Krieg gibt es auch eine Kehrseite, nämlich die, dass sich die Gemeinschaft der Menschen enorm konsolidiert und sich eine wesentlich stabilere politische Nation bildet. Viele Menschen, die früher die Augen vor der politischen Entwicklung verschlossen, die gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine waren, sehen das jetzt völlig anders. Sie beobachten die komplexen ukrainischen Probleme jetzt viel genauer. Das Niveau des Vertrauens innerhalb der Ukraine, die gegenseitige Hilfe und Unterstützung und der gegenseitige Respekt sind inzwischen viel stärker geworden. Deshalb denke ich, dass die Freiheitsliebe bei den Ukrainern nach dem Krieg noch deutlicher in Erscheinung treten wird. Ich glaube, wir können ein noch freieres Land werden, ein wirklich europäisches: Aber darum müssen wir zweifellos kämpfen, denn von selbst wird das nicht kommen.

Sergej Dmitriev: Sie sind auch Vorstandsmitglied der Gesellschaft Memorial, die den Friedensnobelpreis bekommen hat. Diesen Preis teilt sich Memorial mit Ales Bjaljatski und dem ukrainischen Zentrum für bürgerliche Freiheiten. Das ist bei einigen ukrainischen Politikern auf Kritik gestoßen, das Nobelpreiskomitee habe mit dieser Entscheidung das Opfer mit dem Aggressor auf eine Ebene gestellt. Wie stehen Sie zu dieser Entscheidung des Nobelpreiskomitees?

Jewgenij Sacharov: Ich sehe diese Entscheidung sehr positiv. Wenn bei uns gesagt wird, dass Vertreter von Staaten ausgezeichnet werden, die die Ukraine überfallen haben, und dass wir hier wieder in eine Gemeinschaft - die Ukraine, Russland und Belarus – gedrängt werden, dann ist das alles Demagogie. Es wurden ja nicht die Vertreter der Staaten, sondern der Zivilgesellschaft dieser Länder - Russland und Belarus - ausgezeichnet, die sich gegen die Politik dieser Staaten positionieren und dafür grausam verfolgt werden. Und dafür erhielten sie ja auch den Preis, um sie zu unterstützen und zu zeigen, wie die Zivilgesellschaft in Europa und in anderen Ländern zu ihnen steht und dazu, wie die russische und belarusische Regierung mit ihnen umgehen.

In der Ukraine war und ist das Zentrum für bürgerliche Freiheiten dem Staat gegenüber ja auch kritisch, wenn er die Menschenrechte verletzt. Aber außerdem arbeiten die ukrainischen Menschenrechtler unter Kriegsbedingungen, und ihre Arbeit ist keineswegs einfach. Das Zentrum für bürgerliche Freiheiten gehört mit der Charkiver Menschenrechtsgruppe (deren Direktor ich bin) und der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte zu den drei Organisationen, die eben jene Initiative „Tribunal für Putin – T4P“ ins Leben gerufen haben. Wir arbeiten also eng zusammen. Was ich vorher über uns gesagt habe, gilt weitgehend auch für das Zentrum für bürgerliche Freiheiten sowie für die Helsinki-Union für Menschenrechte.

Daher ist die Entscheidung des Nobelpreiskomitee für mich völlig klar. Es wollte Vertreter der Zivilgesellschaft dreier Länder auszeichnen, die sich in einer schwierigen Lage befinden. Das Zentrum für bürgerliche Freiheiten arbeitet unter Kriegsbedingungen, und ich freue mich sehr, dass es diesen Preis bekommt, dass sein wirklich außergewöhnlicher Einsatz in der internationalen Arbeit zum Schutz der Menschenrechte und für unsere politischen Gefangenen zur Kenntnis genommen wird. Die Auszeichnung von Memorial und Ales Bjaljatski, der schon zum zweiten Mal in Belarus für seine prinzipielle Haltung als Gegner des belarusischen autoritären Regimes in Haft sitzt, unterstütze ich aus vollem Herzen.

Sergej Dmitriev: Um das Gespräch über die drei Länder – Belarus, Russland und die Ukraine – fortzusetzen, würde ich Sie gerne als jemanden fragen, der bereits zu Sowjetzeiten ein Dissident war, warum diese Länder nach dem Zerfall der Union so unterschiedliche Wege beschritten haben? Wo waren hier die Scheidewege?

Jewgenij Sacharov: Ich arbeite auch zur Geschichte der Dissidentenbewegung, schon viele Jahre, und war tatsächlich selbst involviert. In der Ukraine gab es in allen Republiken die stärkste Dissidentenbewegung, sie war wesentlich stärker als in Russland. Dort konzentrierte sich das vor allem auf die Intelligenz. In der Ukraine war das sozial viel breiter aufgefächert, die Bewegung erfasste breite Teile der Bevölkerung. In den politischen Lagern stellten die Ukrainer immer die Mehrheit, alle Aufstände im GULag der Stalin-Zeit wurden von Ukrainern organisiert und geleitet – in Workuta, Kengir, Norilsk. Das sind alles Hinweise darauf, dass die Freiheit für die meisten Ukrainer der höchste Wert ist.

In Belarus gab es so gut wie keine Dissidentenbewegung. Es gab dort einen einzigen politischen Gefangenen – Michail Kukobaka. Wenn man all die dazurechnet, die die Belarusen zu Dissidenten erklärt haben, dann müsste man die gesamte nationale ukrainische Intelligenz dazuzählen, die so genannten „bewussten Ukrainer“, denen sich um die ukrainische Sprache, ihre Bewahrung und Erforschung bemühten. Darum war es in Belarus, einem kleinen, ziemlich friedlichen und wohlhabenden Land, im Vergleich zur Ukraine so leicht, das autoritäre Regime Lukaschenkas zu errichten und zu halten. In der Ukraine wäre das völlig unmöglich. Alle Versuche, in der Ukraine eine autoritäre Regierung zu etablieren, sind gescheitert.

In Russland war die Dissidentenbewegung eine der Intelligenz. Sie war signifikant und stark, aber abgehoben von der durchschnittlichen Bevölkerung. Und das ist das ewige russische Problem, wenn sich eine sensible, gebildete, intelligente Schicht stark von der allgemeinen, schlummernden Mehrheit des Volkes entfernt. Alle Versuche, Russland „zu verwestlichen“, sind leider gescheitert. Sämtliche Hoffnungen, dass es in Russland zu einer Modernisierung kommen könnte, haben sich als illusorisch erwiesen. Dafür gibt es offenbar wesentliche objektive Gründe.

Sergej Dmitriev: Diesmal konnten Sie nicht am FIDH-Kongress teilnehmen, aber insgesamt, nach Ihrer Erfahrung – worin liegt der Nutzen solch großer internationaler Begegnungen von Menschenrechtlern? Inwieweit kann die Erfahrung anderer Länder allgemeingültig sein, wenn man bedenkt, dass „jedes unglückliche Land (nach dem Klassiker) auf seine eigene Façon unglücklich ist“?

Jewgenij Sacharov: Es gibt so etwas wie die internationale Solidarität, und das spielt eine große Rolle. FIDH hat 193 Mitglieds-Organisationen in 122 Ländern. Die Möglichkeit, Menschenrechtler aus verschiedenen Ländern zu treffen, Probleme miteinander zu besprechen, die Schutzmechanismen für Menschenrechte zu diskutieren, die es in verschiedenen Ländern gibt, Erfahrungen auszutauschen, gemeinsame Aktionen zum Schutz Verfolgter abzusprechen – diese Möglichkeit ist sehr wichtig. Deshalb haben dieser Kongress und solche Vereinigungen eine große Bedeutung. Personen, die sich für Menschenrechte einsetzen, stehen sich wirklich in vielem nahe, ungeachtet einschneidender Unterschiede, die trotz allem bestehen. Diese horizontalen Kontakte unter den Menschenrechtlern aus verschiedenen Ländern sollten weiter ausgebaut werden.

5. November 2022/15. Februar 2023

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