Sie wäre bald 53 Jahre alt geworden. Ein Bewohner von Trostjanez über die Verhaftung und Ermordung seiner Frau

Denys Volocha 

 

Ihor Ivanov, Bewohner von Trostjanez, kann bis heute nicht glauben, dass seine Frau nicht mehr da ist. Während der russischen Okkupation der Stadt wurde seine Frau unerwartet festgenommen, danach gab es lange keine Nachricht von ihr. Nach der Befreiung von Trostjanez entdeckten Ordnungskräfte einen in der Erde vergrabenen Leichnam, der nach Ihors Worten, kaum noch zu identifizieren war. 

Ihor, erzählen Sie bitte, wie hat sich die Okkupation von Trostjanez abgespielt? 

Unerwartet. Ich schaue morgens aus dem Fenster, und da fahren vor meinen Fenstern Panzer vorbei. Wir wohnen in der Lunin Straße und fünf bis sechs Meter von uns fahren Panzer, Militärtechnik, gepanzerte Fahrzeuge, Tankwagen. Unsere Kinder wohnten in der Parallelstraße, und wir in einem anderen Haus. Und wir gingen durch den Garten hin und her, von da aus war nichts zu sehen, und so habe ich auch nicht gesehen, wie sie [die Ehefrau] hinausging, wohin sie ging und wozu. Dann brach die Verbindung zusammen. Drei Tage gab es überhaupt keine Verbindung. Der Strom wurde abgeschaltet, die Mobilfunkmasten waren außer Betrieb. Ich suchte sie überall, wo es nur möglich war. Als die ukrainischen Truppen kamen und etwa nach drei Tagen bei uns die Polizeistation wieder so halbwegs funktionierte, gab ich eine Vermisstenanzeige auf. Es vergingen etwas mehr als zwei Monate, dann riefen sie mich an und luden mich zur Identifizierung vor. Sie hatten sie zufällig entdeckt, einen halben Meter unter der Erde vergraben. Es war schwer, sie zu identifizieren, aber sie hatte charakteristische Merkmale, die ich kenne.

 

 

Ihor Ivanov. Foto: Denys Volocha 

Video: https://www.youtube.com/watch?v=eTpUYzbWPXk

 

Also hatten sie Ihre Frau festgenommen? 

Ja. An diesem Abend wurde nicht nur eine Person festgenommen, genau weiß ich es nicht, wahrscheinlich so 10 – 15. Was dort passierte, weiß ich nicht. Sie wurde mit einem Kopfschuss getötet. Es gibt ein ärztliches Gutachten. Was passiert ist, weiß nur der Schütze. 

Wo wurde sie festgehalten? 

Im Getreidelager hier bei uns in Trostjanez, da sind Trockenanlagen, Lagerhäuser und Getreidespeicher. 

Wo hat Ihre Frau gearbeitet? 

Sie hat im Handel gearbeitet, zu der Zeit mit Blumen: Blumen gezüchtet und verkauft. Wir hatten ein Blumengeschäft. Kein besonders großes, es begann gerade, sich zu entwickeln Aber ganz Trostjanez kennt sie. Sie hat auch lange in einem Baumarkt gearbeitet. Ich selbst habe früher in der städtischen Gasgesellschaft gearbeitet. 

Was für Gründe konnte es überhaupt für ihre Festnahme geben? 

Ich weiß es nicht. Vielleicht war schon Ausgangssperre, keine Ahnung. Sie ging etwa um 16:00 Uhr weg, und die Ausgangssperre begann damals während der Okkupation um 17:00 Uhr. Ich erinnere mich nicht wie lange, wahrscheinlich bis morgens um 8:00. Bewegungen waren ganz allgemein unerwünscht, möglich, dass sie irgendwo aufgehalten wurde, ich weiß es nicht. 

Warum haben Sie sich entschlossen, in der Stadt zu bleiben und haben nicht versucht wegzukommen? 

Ich hatte gehofft, dass sie zurückkommt. Ich habe gewartet. Und wo sollte ich auch hin? Wohin denn? Meine Heimat ist im Ural. Meine Mutter lebt noch dort. Da fahre ich bestimmt nicht hin. Aber wohin könnte ich denn sonst noch? Irgendwie werde ich hier schon zurechtkommen. Vielleicht kommen die Kinder zurück. Vielleicht, wenn der Frühling kommt. Sie sind evakuiert worden, sind sogar auf der Nordhalbkugel.

 

Haus in Trostjanez. Foto: Denys Volocha

 

Wie war das Leben unter der Okkupation? Gab es zum Beispiel Engpässe bei der Lebensmittelversorgung? 

Anfangs bewegten sich die Besatzer tagsüber, damit es keine Probleme gab. Soweit ich weiß waren da Wehrpflichtige. Man konnte sehen, dass es junge Burschen waren. Etwas über 20 und noch etwas ältere. Vielleicht gibt es wirklich einige solcher Fälle: Am ersten Tag wurde bei uns am Bahnhof ein Auto beschossen. Das Auto stand da drei Tage so, man konnte niemanden rausholen und beerdigen, sie ließen niemanden hin. Mal war irgendwo eine Granate steckengeblieben, mal irgendwo ein Blindgänger. Wir versuchten nach Möglichkeit nur dann nach draußen zu gehen, wenn wir etwas einkaufen mussten. An den ersten Tagen konnte man noch etwas kaufen, aber nach einer Woche hatten die Leute alles weggekauft. Danach waren die Geschäfte leer. 

Gingen sie auch von Haus zu Haus? 

Davon habe ich nicht gleich gehört, das war nicht so. Es fuhren nur Kolonnen herum. Am 16. dann, glaube ich, kamen schon die Donezker. Sie kamen rein, überprüften meinen Pass, mein Telefon und Fotos. Sie besetzten Anhöhen in der Stadt. Da saßen Scharfschützen, heißt es. Das habe ich selbst nicht gesehen. Aber in der Nachbarschaft bei uns waren Soldaten, das habe ich gesehen. Und die kamen in die Häuser. Aber bei uns kann man sagen, lief das „freundschaftlich“ ab. Es war ruhig. Übergriffe gab es keine, da werde ich nicht lügen. Aber ich habe gehört, dass in anderen Städten Menschen schikaniert wurden. Es kam vor, dass sie kamen und irgendwas mitnahmen, weil sie schlecht versorgt waren. Aber was soll man schon mitnehmen, wenn alles so unerwartet beginnt und die Leute auch keine Vorräte haben. Nur das, was im Keller war: Kartoffeln, Möhren und Eingemachtes. Und das war's. Die Menschen waren doch nicht auf Aktionen wie diese vorbereitet. Sie waren nicht vorbereitet. 

 

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe hat Ihor Ivanov materielle Hilfe geleistet und Dokumente mitgenommen, um sie internationalen Gerichtsinstanzen zuzuleiten. Während ihres Besuchs in Trostjanez haben mehr als fünfzig Personen ihre Anwälte aufgesucht, die Angehörige verloren haben oder deren Häuser zerstört wurden oder die durch das russische Vorgehen bleibende Schäden und Behinderungen davongetragen haben.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Ein Video-Interview mit Ihor Ivanov finden Sie hier.

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

27. Februar 2023

 

 

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