Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 05.02.2023 – 12.02.2023 

 

„Ewiges Gedenken an die unschuldig ermordeten Ukrainer.“ Levaschovo Gedenkfriedhof St. Petersburg.

 Einzelkundgebungen, Festnahmen, Geldstrafen, Verhaftungen 

Jelena G. aus Tver (Zentralrussland) wurde zu 30.000 Rubeln (ca. 2 monatliche Mindestlöhne) Geldstrafe wegen „Diskreditierung der Russischen Armee“ [Art. 20.3.3 Ordnungsstrafrecht RF] verurteilt, weil sie Blumen am Mahnmal für die in Dnipro getöteten Ukrainer niedergelegt hatte. Zuvor war nach der Anzeige eines örtlichen Beamten ein Protokoll gegen sie aufgenommen worden, dieser hatte am 21. Januar bei der Polizei angerufen und von zwei Frauen berichtet, die an dem spontan entstanden Mahnmal Blumen niedergelegt hatten. Im Februar wurde bekannt, dass Sicherheitskräfte zu der Frau nach Hause gekommen waren und von ihr eine Erklärung verlangt hatten. 

In St. Petersburg nahm die Polizei Andrej Masljak fest, der auf dem Palastplatz eine Einzelkundgebung mit dem Plakat „Frieden für die Welt“ abgehalten hatte. 

In Moskau wurde in der Nacht zum 11. Februar der Bürgerrechtler Fedor Protaschtschik festgenommen, er hatte „Ruhm der Ukraine!“ gerufen. 

Ebenfalls in St. Petersburg wurde Ivan Popov, Einwohner von St. Petersburg, am Denkmal „Der Eherne Reiter“ mit dem Plakat „Nein zum Krieg“ festgenommen.

 

Nein zum Krieg

 

In Vladivostok (Ferner Osten) wurde ein Bewohner namens Aleksey wegen einer Einzelkundgebung gegen den Krieg festgenommen. Aleksey hatte sich mit einem Plakat mit der Aufschrift „Töte nicht“ auf einen zentralen Platz gestellt. Die Polizei fuhr ihn auf die Wache, nach drei Stunden traf dort ein psychiatrisches Rettungsteam ein und brachte ihn in eine psycho-neurologische Ambulanz, wo man versuchte herauszufinden, was genau er mit dem Plakat zum Ausdruck bringen wollte. 

In Moskau wurde in einem Schwimmbad Dmitrij Rumschinskij festgenommen, weil er ein T-Shirt mit ukrainischer Symbolik getragen hatte, wie seine Frau berichtete. Ein Wachmann hatte die Polizei gerufen. 

Das Novomoskovkij-Bezirksgericht im Gebiet Tula (Zentralrussland) verhängte eine Geldstrafe von 45.000 Rubel (ca. 3 monatliche Mindestlöhne) wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ [Art. 20.3.3 Teil 1 Ordnungsstrafrecht RF] gegen Stanislav Jermakov, der Putins Neujahrsansprache vor dem Hintergrund des ukrainischen Musik-Duos „Potap und Nastja“ aufgenommen hatte. Zuvor war bekannt geworden, dass ein ähnliches Verfahren gegen einen DJ eingeleitet worden war, der das Lied eingeschaltet hatte. 

Vitalij Votanovskij, Aktivist aus Krasnodar (Nordkaukasus), erhielt Todesdrohungen, weil er Fotografien von einer Vielzahl frischer Gräber auf einem Friedhof der Wagner-Gruppe veröffentlicht hatte. 

In Moskau nahm die Polizei ein Protokoll wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ [Art. 20.3.3 Ordnungsstrafrecht] gegen Leonid Simonov, Konzertmeister in einer Bildungseinrichtung für Kinder, auf. Simonov wird beschuldigt, im Februar 2022 zweimal Covers des englischen Daily Stars bei VKontakte gepostet zu haben, das eine zeigte Putin im Hitler-Stil, das andere die Festnahme einer Frau, die die Belagerung Leningrads überlebt hatte, mit dem Plakat „Nein zum Krieg“. Außerdem sind die Sicherheitskräfte der Meinung, dass Simonov in seinem Unterricht Informationen verbreitet, die die russischen Streitkräfte diskreditieren, und er zudem die militärische Spezialoperation als Krieg bezeichnet. 

In Tschuwaschien (Zentralrussland) schnitten Partisanen aus einem Plakat an einer Moschee ein Stück eines Textes zur Unterstützung des Krieges heraus

Im Gebiet Vladimir (Zentralrussland) wies das Gericht die Eingabe des Reserveoffiziers Farchad Dzhabbarov ab, der gefordert hatte, ihm seinen Dienstgrad zu entziehen und ihn aus dem Militärregister zu streichen, weil er nicht Teil einer Armee sein wolle, die einen Nachbarstaat überfällt

Ein Bezirksgericht im Gebiet Moskau wandelte eine zweieinhalbjährige Bewährungshaftstrafe gegen den Oberst der Reserve Michail Schendakov in eine reale Haftstrafe um. In einer weiteren Verhandlung gegen Schendakov am 20. Februar soll eine zweite Bewährungsstrafe – 3 Jahre für ein Video mit einer Anekdote über einen Nationalgardisten und einen Chirurgen – in eine reale Gefängnisstrafe umgewandelt werden. 2022 war Schendakov zweimal wegen Diskreditierung der Armee [Art. 20.3.3 Teil 1 Ordnungsstrafrecht] zur Verantwortung gezogen und wegen Veröffentlichungen gegen den Krieg in dem Sozialen Netzwerk „Odnoklassniki“ [Klassenkameraden] zu 30000 Rubel Geldstrafe [ca. 2 monatliche Mindestlöhne] verurteilt worden. 

 

Mahnmale für die beim Beschuss ukrainischer Städte Getöteten 

Trotz Festnahmen errichten Russen weiterhin Volksmahnmale zur Erinnerung an die getöteten Menschen in Dnipro. An diese Aktionen zur Erinnerung an die Opfer schließen sich neue Städte an: Velikij Novgorod (Zentralrussland), Vladikavkaz (Nordkaukasus), Uchta und Naberezhnye Tschelny (Wolgaregion). Weiterhin werden auch Blumen zum Solowezki-Stein in Moskau gebracht, zum Denkmal von Kapitän Yakov Diachenko in Chabarovsk (Ferner Osten) sowie an Denkmäler von Taras Schevtschenko in Novosibirsk und Omsk (Sibirien). Bewohner von Izhevsk (Vorural) legten Blumen am Denkmal für die Opfer von Strahlenunfällen nieder. Ein neues Mahnmal entstand in Svetlogorsk im Gebiet Kaliningrad am Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkrieges.

 

Aufschriften: „Wir trauern“, „Den Getöteten in Dnipro“, „Krieg ist ein Verbrechen“.

 

Brandstiftungen 

In Burjatien (Ferner Osten) setzte der 56-jährige Oleg Aleskandrov das Gebäude des Ermittlungskomitees in Brand

In Omsk (Sibirien) warf der 32-jährige Anton P. einen Molotov-Cocktail auf das Gebäude des Militärkommissariats. Der Versuch, das Gebäude in Brand zu setzen, misslang. 

Im Gebiet Amur (Ferner Osten) zündete der 29-jährige Roman P. die Militärkommissariate der Bezirke Magdatschinskij und Skovorodinskij an. Ein Archivraum und eine Kartothek mit Namen Wehrpflichtiger wurden beschädigt. 

In Moskau zerstörten Partisanen einen Schaltkasten, was zur Einstellung des Eisenbahnverkehrs führte. 

Im Bezirk Bessonovskij (Gebiet Pensa) am Knotenpunkt Grabovo-Bessonovka (Zentralrussland) musste der Eisenbahnverkehr wegen eines ausgebrannten Schaltkastens eingestellt werden.

Im Gebiet Moskau beschädigte ein Unbekannter eine Weiche in Richtung Kursk.

 

Weiteres

Die Staatsduma hat Änderungen im Ordnungsstrafrecht der RF vorbereitet, die zusätzliche Grundlagen schaffen sollen, Personen wegen Diskreditierung von Teilnehmern an Kampfhandlungen zur Verantwortung zu ziehen, dies soll auch für Kämpfer in Freiwilligenverbänden gelten. Diese Änderungen können zur Verheimlichung von Verbrechen führen, die von Söldnern der Wagner-Gruppe begangen wurden. 

Die Redaktion des Orthodoxen Journals „Blagodatnyj Ogon“ [Segensreiches Feuer; Anm. Übers.] hat vorgeschlagen, 293 Geistlichen, die Anfang März 2022 einen Aufruf den Krieg zu beenden veröffentlicht hatten, ihre geistlichen Ämter zu entziehen

Auf der Seite der Propaganda-Zeitung „Komsomolskaja Pravda“ tauchten Artikel über den Krieg in der Ukraine auf. Diese hatte der ehemalige Journalist der Zeitung Vladimir Romanenko, der inzwischen das Land verlassen hat, auf die Webseite gesetzt. Romanenko nannte seine Aktion „Sühnung der Schuld“. Der frühere Zustand der Seite wurde mittlerweile wiederhergestellt. Auf der Serviceseite „Webarchiv“ kann man sehen, wie diese Seite aussah. Die Überschriften der Artikel waren folgende: „Putin befahl Bombardierung friedlicher Städte in der Ukraine“, „Wie viel kostet Putins Krieg in der Ukraine“, „Das Kreml-Regime lässt Häftlinge mit Waffen frei“, „Die RF hat Verbrechen in Butscha, Isjum und Hostomel begangen“, „Russland ist Opfer der Okkupation von Putins Regime geworden“, „Russische Aktivisten kämpfen trotz Repressionen weiter gegen das Putin-Regime“.

 

Die Verwaltung des Moskauer Theaters „Sovremennik“ [Zeitgenosse] sagte die  Aufführung eines Theaterstücks mit der bekannten Schauspielerin Lija Achedzhakova ab, die sich seit 2014 mehrfach für ein Ende des Krieges ausgesprochen und außerdem die Menschen dazu aufgerufen hat, nicht zu schweigen, wenn sie gegen den Krieg sind.

 

Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen 

Die Herbst-Einberufung endete am 31. Dezember und ging mit einer noch nie dagewesenen Anzahl an Gesetzesverstößen vor sich. Die Wehrpflichtigen wurden innerhalb eines Tages  auf der Straße, in der Metro, im Kaffee oder in Wohnheimen aufgegriffen, in die Militärkommissariate und danach unmittelbar zu Sammelplätzen gebracht. Dennoch gab es auch Widerstand von Wehrpflichtigen gegen derart unverblümte Willkür und Gewalt und nicht selten erfolgreich. Das Internetmedium „Meduza“ hat fünf Geschichten von Wehrpflichtigen veröffentlicht, denen es gelang, die illegale Einberufung in die Armee zu verhindern. 

Des Weiteren wurden Aussagen des Offiziers Dmitrij Vasilez veröffentlicht, Oberleutnant aus Petschenga im Gebiet Murmansk, der fünf Monate im Krieg war und nach einem Urlaub nicht dorthin zurückkehrte. Nach der Verkündung der Mobilmachung und den Änderungen im Strafgesetz wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, weil er sich geweigert hatte, an Kriegs- und Kampfhandlungen teilzunehmen. Vasilez erklärte seine Gründe offen und konsequent mit Gewissensüberzeugungen. Das, was er im Krieg gesehen, gefühlt und verstanden habe, hätten seine Ansichten verändert und er sei nun der Meinung, er habe kein Recht, jemandem das Leben zu nehmen. Dies sind die wortwörtlichen Aussagen Dmitrijs mit minimalen Korrekturen. Dieser Text ist für uns das Dokument des Jahres. 

Im Gebiet Volgograd wurde der gläubige Wehrdienstverweigerer Anton Kuznetsov "innerhalb eines Tages" zur Armee geschickt, derzeit klagt er gegen die Einberufung zum Kriegsdienst vor Gericht. Auf der Plattform „Zaodno“ [Gemeinsam] gelang es, 60.000 Rubel [ca. 750 Euro] zu sammeln, um die Dienste seines Anwalts zu bezahlen. 

Das Nachrichtenpodcast „Novosti 26“ befragte vier junge Männer, denen es mit Unterstützung der Vereinigung „Aufruf an das Gewissen“ gelang, die Wehrpflicht durch alternativen Zivildienst zu ersetzen.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

2. März 2023 

 

 

 

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