Ein zerstörter Arbeitsplatz und eine erschossene Mutter. Die Folgen der russischen Okkupation für Serhij Pentin aus Trostjanez

 

Denys Volocha

 

Serhij Pentin arbeitete in der Schokoladenfabrik „Mondelis Ukrajina“ in Trostjanez. Nach der Okkupation wurden russische Truppen in dem Unternehmen stationiert. Schließlich brannte die Biskuit-Abteilung, in der Serhij als Kalkulator gearbeitet hatte, vollständig ab und Serhij verlor seine Arbeit.

Und unter anderem erschossen die Russen Serhijs sechzigjährige Mutter Olena, als diese versuchte, ein Krankenhaus zu erreichen. Olena hatte über zwanzig Jahre als Leiterin eines örtlichen kommunalen Unternehmens gearbeitet. 

 

„Am 19. März waren meine Mutter und mein Vater in Trostjanez im Dorf Mykytivka. Meine Mutter war krank und sie mussten ins Krankenhaus, um Hilfe zu bekommen. Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, dass sich neben dem Krankenhaus Wachposten und Soldaten aufhielten. Die beiden gingen zum Krankenhaus, und die Soldaten feuerten aus einem Schützenpanzer auf sie. Mama starb an einem Schuss aus einer Kleinfeuerwaffe noch dort an der Stelle.“, erzählt Serhij Pentin. 

Serhij denkt, die Russen hätten einfach auf jeden geschossen, der sich auf sie zubewegte, ganz gleich, wer sich ihrer Position näherte.

Serhij Pentin. Foto: Denys Volocha / KHPG (Charkiver Menschenrechtsgruppe)

„Völlig wahllos, ob Zivilisten oder Soldaten, sie schossen einfach auf alle, die sie sahen. Leider haben meine Eltern, als sie unterwegs waren, die russischen Soldaten nicht gesehen, diese befanden sich hinter Bäumen. Aber meine Eltern waren zu sehen – und sie begannen einfach, auf sie zu schießen.“ 

Der ukrainischen Armee gelang es unter Einsatz der 93. Selbständigen Mechanisierten Brigade sowie der Territorialverteidigung und anderen Einheiten, die Russen aus Trostjanez zu vertreiben: Bereits am 26. März 2022 wurde über der Stadt die ukrainische Flagge gehisst. Obwohl die Schokoladenfabrik ihren Betrieb wieder aufgenommen hat, ist an eine Wiederherstellung der Biskuit-Abteilung nicht zu denken. 

Was haben sie in der Fabrik gemacht? War das ein Militärstab? Wurde dort Munition gelagert? 

Kein Militärstab, sondern eher ein Umschlagplatz, also sie sammelten dort Munition, brachten Ausrüstung auf dem Gelände unter, versteckten sich. Das ist ein großes Gebäude, wo man viele Menschen unterbringen und Ausrüstung verstecken kann. Sie hatten mit niemandem verhandelt, sondern einfach die Tatsache genutzt, dass das Fabrikgelände leer war, sie fuhren mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen hinein, durchbrachen den Zaun, und „verwalteten“ sich dort selbst. Es gibt keine Notwendigkeit mit irgendwem zu verhandeln, wenn man eine Waffe in der Hand hat.

Trostjanez. Fotos: Denys Volocha / KHPG

Während wir das Interview aufnahmen, erhielt Serhij noch Gehalt von seinem ehemaligen Arbeitgeber, wofür er sehr dankbar war. Während der Besatzung gab es in Trostjanez Stromausfälle, und die Kommunikation brach zusammen. Laut Serhij war gerade das Fehlen von Informationen eine der schlimmsten Erfahrungen. „Wenn man nicht weiß, was um einen herum geschieht, wenn niemand raus auf die Straße geht, es nur Gerüchte gibt. Das Fehlen von Kommunikation ist das Schwierigste bei einer Besatzung. Gott sei Dank dauerte sie im Vergleich zu anderen Fällen nicht so lang.“ 

Obwohl sich die Russen der 4. Gardepanzerdivision nur einen Monat in der Stadt aufhielten, sind die Spuren ihrer Anwesenheit bis heute sichtbar: Die Hauptstraße und der Bahnhof sind völlig zerstört. Ein durch das Feuer verformter Eisenbahnwaggon steht bis jetzt neben den Zügen, die in den Bahnhof einfahren. 

Fotos: Denys Volocha / KHPG

Haben Sie anfangs nicht daran gedacht, die Stadt zu verlassen? 

Wir haben bis zum Schluss nicht daran gedacht, ich habe es dann aber doch getan. Aber meine Eltern wollten nicht und sind in Trostjanez geblieben. Sie haben sich durch nichts überreden lassen. 

Was empfinden Sie jetzt den Russen gegenüber, der Armee, die Ihre Mutter getötet hat? 

Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Tatsächlich ist das schwer zu sagen. Ich will nicht verallgemeinern, aber in diesem Fall gibt es da eine kollektive Verantwortung aller Russen, so ist es wohl. Es sind die Soldaten, die töten, die hierher kommen und schießen. Aber sie tun es mit dem Geld vom Staat, mit dem Geld der Menschen, die das alles passiv unterstützen. Indem sie denen freie Hand geben, die die Befehle erteilen. Generationen von Menschen werden kommen und gehen müssen, damit sich das Verhältnis der Ukrainer zu den Russen verändern kann. Damit der Schmerz in den Herzen der Menschen nachlassen kann, die unter Bombardierungen und Tod gelitten haben. 

 

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe hat Serhij Pentin, Ihor Ivanov und anderen Opfern des Krieges aus Trostjanez materielle Hilfe geleistet und Dokumente zur Übergabe an internationale Gerichtsbehörden gesammelt. Im Laufe eines Tages kamen 40 Personen - Einwohner, die am meisten gelitten hatten - in die mobile Sprechstunde. Jeder von ihnen hatte einen nahen Menschen, sein Zuhause verloren. Einer wurde nach der De-Okkupation durch eine Mine in die Luft gesprengt.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Ein Video-Interview mit Serhij Pentin finden Sie hier.

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

28. März 2023

 

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