„Ich sah einen russischen Panzerwagen und blieb wie angewurzelt stehen.“

Halyna Bulgakova, Künstlerin aus Charkiv

 

Taras Sosulinskyi

Die Architektin und Künstlerin Halyna Bulgakova hat in ihrer Heimatstadt Charkiv alles zurückgelassen: eine Wohnung, Bilder, die sie für eine Ausstellung vorbereitet hatte, halbzerstörte Häuser im Bezirk Saltivka, die sie einst entworfen hat. Nach Lviv kam die Künstlerin mit ihrem Enkel. Das Interview wurde von dem Lviver Journalisten Taras Zozulinskyi vorbereitet.


Halyna Bulgakova

Ich wohne schon viele Jahre dauerhaft in der Ukraine. Obwohl ich gebürtige Russin bin, vom Don. Es hat sich so ergeben, dass ich mein ganzes bewusstes Leben in Charkiv verbracht habe. Ich hatte schon verschiedene Unternehmen. Sogar eine Aktiengesellschaft. Ich habe viele Länder gesehen. Aber ich bin trotzdem in die Ukraine zurückgekehrt.

Von Beruf bin ich Architektin und Künstlerin, habe viele Häuser in der Ukraine gebaut. Genauer gesagt in Charkiv. Hauptsächlich war das in Saltivka, das jetzt völlig zerstört ist. Meine Diplomarbeit war der Anbau am Bahnhof von Charkiv. Das Hochhaushotel – das ist meine Diplomarbeit. Wirklich. Die haben sie von mir übernommen und sofort angefangen zu bauen. Das ist also mein Beitrag zu Charkiv, ich weiß gar nicht ob er groß oder klein ist, aber es gibt ihn. Und ich bin stolz auf ihn. Ich bin schon lange Rentnerin. Witwe. Mein Mann war Chirurg, aber er lebt schon zehn Jahr nicht mehr. Von meiner ganzen Familie ist mir nur der Enkel geblieben.

Hätten Sie geglaubt, dass es eine flächendeckende Invasion Russlands geben würde?

Ich hatte eine Vorahnung. Innerlich spürte ich, dass sie kommen würde. Als der Krieg losging, glaubte mein Enkel das nicht. Er ist Student an der Universität von Charkiv, ist im zweiten Semester an der Philosophischen Fakultät, Hauptfach Kulturwissenschaft. Er ist jetzt zwanzig und sagte ständig: „Das ist doch Unsinn, was für ein Krieg denn?“

Das alles fing früher an, im Jahr 2014. Und hing in der Luft. Diese Aura mit unweiblichem Gesicht.

Wie verlief Ihr erster Tag des flächendeckenden Angriffs?

Ich wohne im Stadtzentrum, genau neben dem Palast der Arbeit. Und als diese Explosionen los gingen… . Direkt in der Nähe sind viele Restaurants, zum Beispiel das „Panorama“. Und dort gab es häufig Feuerwerk. Aber dieses Mal dachte ich morgens, sie wären früh dran. Genauer gesagt, dass sie spät angefangen hätten. Und ich hörte, dass das kein Feuerwerk war. Da beschossen sie schon Saltivka. Aber ich hatte geglaubt, dass sei nur eine vorübergehende Erscheinung. Na, das konnte doch nicht sein, dass unsere Brüder, die Russen, uns plötzlich aus heiterem Himmel angreifen. Was hatten wir ihnen denn Schlimmes getan?

Wir waren in Charkiv, warteten, bis es nachlassen würde. Aber es ließ nicht nach. Wir wohnen in einem kleinen Haus im Zentrum der Stadt im zweiten Stock. Über uns wohnt niemand mehr. Im Erdgeschoss sind nur Büros. Mein Enkel und ich wohnen zu zweit. Es gibt keinen Luftschutzkeller. Man kann nur auf dem Platz der Verfassung in die Metrostation gehen. Es gab Momente, in denen wir gehen wollten, aber da war schon Ausgangssperre oder es gab Beschuss aus Maschinengewehren. Wir hörten die Maschinengewehrschüsse. Wir konnten nicht dorthin. Und es gab Momente, in denen man uns sagte, dass die Station geschlossen ist und keiner mehr reingelassen wird. Deshalb gingen wir ins Erdgeschoss. Ins Büro unseres Nachbarn. Wir legten uns auf den Boden und lagen da. Aber es gab Wasser dort und es war warm. Und wir haben es irgendwie bis zum Morgen geschafft.

Wie verliefen die nächsten Tage?

Da begann heftiger Beschuss, schon sehr nah. Als die ersten Geschosse im Stadtzentrum einschlugen, bot man uns an, uns vierzig Kilometer von Charkiv entfernt zu verstecken. In einem Dorf. Wir fuhren an Kontrollposten vorbei, wurden nach Codewörtern gefragt. Aber wir sind durchgekommen. Und dort neben einem Wald blieben wir ungefähr eine Woche lang. Dort gab es keine Lebensbedingungen, es gab keine Lebensmittel, wir waren zehn Personen dort. Und ich verstand, dass wir irgendwie da weg mussten. Aber wir waren zu zweit und hatten keinerlei Hilfe. In diesem kleinen Dörfchen lebten gläubige Menschen Und sie fuhren uns nach Charkiv. Fast bis nach Hause brachten sie uns.

Haben Sie Vorfälle gesehen, in denen Soldaten Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen haben? Wie kam der Entschluss zustande, die Stadt endgültig zu verlassen?

Wir gingen nach draußen und ich sah, was wirklich vor sich ging. Zerschlagene Schaufensterscheiben, Blut auf den Straßen, Plünderungen. Man konnte sehen, dass sie sogar in die Bibliotheken eingedrungen waren. Ich weiß nicht, was sie dort gesucht haben, da gibt es doch gar keine Lebensmittel. Ich hörte Beschuss, hatte Angst. Zuerst sah ich einen russischen Panzerwagen. Er stand neben dem Nikolsky-Einkaufszentrum, als ich Lebensmittel einkaufen wollte. Das ist ein neues Einkaufszentrum, das im Sommer aufgemacht hat. Ich sah Panzerwagen neben der Korolenko-Bibliothek und wusste nicht, was ich tun sollte.

Ich stand da wie angewurzelt. Dann begriff ich, dass ich mich irgendwie bewegen muss. Also ging ich zurück. Ich wusste nicht, was mit mir geschehen würde. Woher sollte ich wissen, was sie vorhatten? Und ich ging vorsichtig, ganz langsam und wartete, dass mir irgendetwas passieren würde, dass man mir zum Beispiel in den Rücken schießen würde. Denn wenn sie das nicht gewollt hätten, wären sie doch nicht in meine Stadt gekommen. Sie waren ja nicht mit guten Absichten da, wenn sie mit Panzerwagen gekommen waren. Ich ging in einen kleinen Laden neben unserem Haus und kaufte dort lediglich das Allernotwendigste, weil es schon nur noch wenig Lebensmittel gab. Ich kaufte Brot, irgendwelche Makkaroni, Streichhölzer. Eben Kleinigkeiten... Ich habe den zerstörten Palast der Arbeit gesehen, die eingeschlagenen Fenster vom „Panorama“, das zerstörte ehemalige Geschäft „Melodija“.


Palast der Arbeit, Charkiv, 2. März 2022


Wir rannten nach Hause, die Fenster standen auf. Die Stoßwelle hatte sie wohl geöffnet. Und da fing es wieder an zu donnern. Wir waren etwa fünfzehn Minuten lang zuhause. In der Zeit schafften wir es, das Nötigste zu packen, Dokumente, etwas Geld, Wasser. Und als es dann schlimm anfing zu krachen, sprangen wir aus dem Haus. Ich wusste nicht, wie wir zum Bahnhof kommen sollten. Wir hatten entschieden, nach Lviv zu fahren und schauten auf den Zugfahrplan. Wir rannten. Ich hatte einen Rucksack und eine Tasche mit einem Minimum an Lebensmitteln bei mir. Wir liefen an den Häusern vorbei, gingen über die Straße, da hupt hinter uns ein Auto. Der Fahrer sagte: „Steigt ein, ich fahre euch.“ So kamen wir zum Bahnhof. Den ersten Zug nach Ivano-Frankivsk schafften wir nicht, aber der nächste ging nach Lviv. Wir stellten uns in die Schlange, gelangten in den Waggon, wir waren natürlich viele. Wir erreichten Lviv.

Im Zugabteil waren jeweils zehn Personen und in den Gängen saßen ebenfalls Menschen. Wir sahen eine neunzigjährige alte Frau, sie saß im Gang. Wir ließen sie zu uns ins Abteil. Sie hatte zwei Schlaganfälle hinter sich. Sie saß bei uns, fragte immer wieder, wohin sie fährt. Sie war mit ihrem Sohn unterwegs, er war in dem Bereich zwischen den Abteilwaggons geblieben und sie fuhr bei uns.

Alle meine Leinwände, meine ganzen Arbeiten sind zuhause zurückgeblieben. Sie sind groß, meterlang. Sie sind sehr gut. Ich hatte sie für eine Ausstellung vorbereitet. Und ich musste alles zurücklassen. Ich bin auf kleine Grafiken umgestiegen – A4. Das meiste davon habe ich schon hier gezeichnet.

Was sagen Ihre Bekannten aus Russland?

Ich habe Bekannte auf einer Kreativ-Website. Und ich habe festgestellt, dass die Leute, mit denen ich in einem kreativen Kontakt stand... Ich habe ja Gedichte geschrieben, Musik, habe Gedichte mit Zeichnungen illustriert, wir nahmen an irgendwelchen Wettbewerben teil. Das Verhältnis war gut. Bis der Krieg begann. Und als ich die Wahrheit darüber sagte, was passiert, glaubten sie mir nicht. Sie sagten: „Du lügst! Das kann nicht sein!“ Eine Person aus St. Petersburg sagte mir: „Wozu lügst du mich an, ich weiß doch, was bei euch dort vor sich geht. Ihr vernichtet euch selbst. Wir wollen euch einfach befreien...“

Ich muss nicht befreit werden! Ich bin ein freier Mensch. Ich sage, was ich will, kann tun, was ich will, kann meinen Standpunkt äußern, kann Russisch sprechen. Es gibt keine Verfolgung bei uns. Ich kann Russisch reden, kann Ukrainisch reden, kann Englisch reden, wenn man mich darum bittet.

Haben Sie noch Bekannte in Charkiv, was erzählen die? Was sind die Folgen dessen, was Sie durchgemacht haben?

Meine Freundin hat Bomben fliegen sehen, hat gesehen, wie Menschen erschossen wurden, die nach humanitärer Hilfe anstanden. Sie sagt, sie konnte sich nicht mehr orientieren, schaffte es nur noch, in ein Geschäft zu rennen. Aber es hat Tote gegeben... Und die Leichenhallen waren überfüllt. In Charkiv. Auf der Straße lagen Leichen. Blut...

Meine Psyche ist zerrüttet. Ich schlafe sehr schlecht. Als ich krank wurde, wurde ich hier sehr gut in einem Krankenhaus aufgenommen.. Ich war erst in einem Krankenhaus, dann in einem anderen. Ich wurde behandelt und vollständig untersucht. Mein Enkel erträgt das alles sehr schwer. Er ist kein einfacher Mensch. Obwohl er im zweiten Studienjahr sehr gut lernt. Aber er zeigt Anzeichen einer psychischen Störung. Von außen ist er ein normaler Mensch, aber er nimmt die Realität etwas anders wahr. Ich sehe bei ihm Anzeichen von Autismus.

Was denken Sie, wie das alles weitergehen wird?

Ich will glauben, dass der Krieg enden wird. Und dass die Wahrheit über den Krieg an jene Menschen herangetragen wird, die nicht daran glauben. Ich bin überhaupt kein Mensch der Öffentlichkeit. Aber ich glaube, ich habe verstanden, dass ich hier eine Art von Aufgabe habe. Ich kann nur sagen, dass ich niemals und niemandem... Wie sagt man, das wünscht man seinem Feind nicht... Dass sie, wenn möglich, ihre Söhne bitten, nach Hause zurückzukehren. Dass sie sie nicht in Särgen als Gefallene zurück bekommen. Denn unsere Kinder sterben...

Übrigens, bei einer meiner Bekannten ist eine Enkelin zur Welt gekommen. Im Keller. Sie haben sie gezeigt. Ein Mädchen in rosa. Es heißt, wenn es rosa trägt, bringt das den Frieden.

Gibt es vielleicht etwas, was Sie den Russen sagen wollen?

Ich möchte mich einfach an die Mütter wenden: Glaubt mir, Krieg – das ist das Furchtbarste, was passieren kann. Man kann sein Haus verlieren, Geld, Immobilien, die Kleidung, die Arbeit. Das Schrecklichste ist, sein Leben zu verlieren. Der Tod ist immer schrecklich. Es ist unmöglich, sich auf ihn vorzubereiten, sogar, wenn ein Mensch an einer Krankheit stirbt. Aber wenn der Tod ein gewaltsamer ist, furchterregend und ungerecht, dann muss das Herz einer Mutter spüren, dass wir auch ein Herz und Kinder haben. Und dass unser Leben auch unerwartet abreißen kann. Ich zum Beispiel wurde aus dem Kontext meines Lebens herausgerissen. Ich habe jetzt nichts mehr. Absolut nichts. Nur meinen Enkel. Diese unsere zwei Leben sind das Wichtigste, das ich schützen will.

Und wenn man mir morgen sagt, dass der Krieg zu Ende ist... Ich schlafe jeden Tag mit dem Gedanken ein, dass der Krieg enden kann... Ich glaube, dass das ein Albtraum ist. Dass es enden muss. Meine Mutter hat im Krieg gekämpft. Sie war als Krankenschwester an der Front. Und sie sagte mir: „Halyna, das Wichtigste ist, dass es in deinem Leben keinen Krieg gibt.“ Nun ist es so, dass es ihn gibt in meinem Leben. Aber wenn sie mich hören und sehen werden, möchte ich, dass in ihren Herzen ein Gefühl der Schuld erwacht. Denn vielleicht wissen sie nicht, wo ihre Söhne sind. Und was sie hier tun. Aber sie müssen es wissen.


Grafik von Halyna Bulgakova

Halyna Bulgakova lässt ihren Enkel in Lviv behandeln. Sie zeichnet weiterhin auf kleine A4-Blätter und sogar auf Plakate. Und sie weiß, dass wir bald siegen werden. Ich heiße Taras Sosulinskyi, ich bin Journalist aus Lviv, wir setzen unseren Kampf fort.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Ein Video-Interview mit Halyna Bulgakova finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.


11. Juli 2023

 

 

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