Die Geschichte des Freiwilligen Maksym Vajner


Serhij Okunjev

Maksym Vajner arbeitete in einer internationalen Brigade, die medizinische Evakuierungen in Richtung Bachmut vornahm. Sie versuchten, eine nach Beschuss verwundete Frau zu evakuieren, als eine russische Rakete ihr Fahrzeug traf. Maksym erlitt zahlreiche Verletzungen, sein Begleiter Pete Reed, freiwilliger Sanitäter aus Amerika, kam ums Leben.

Zum Videointerview


Maksym Vajner, Freiwilliger


Seit Beginn der Invasion lebe ich hauptsächlich in Zaporizhzhia. Durch Zaporizhzhia kamen viele Menschen aus den besetzten Gebieten, am Anfang vor allem aus Mariupol. Ich war Freiwilliger an einer zentralen Drehscheibe, durch die alle kamen. Dort waren Aufnahme- und Koordinierungsstellen und es gab Hilfe für die Menschen. Ich arbeitete sehr viel mit Ausländern zusammen. Im Herbst war ich auf einer kleinen Freiwilligentour: Kyjiv, Lviv, Odesa. Ich war der Koordinator, habe sehr viel organisiert.

Einer meiner Bekannten ist mit seinem Unternehmen aus Freiwilligen ständig in Kramatorsk stationiert: Sie evakuieren Zivilisten, bringen Hilfsgüter, grundlegende und alltägliche Dinge. Direkt nach Neujahr sagte er mir, dass ein Team der NGO Global Outreach Doctors kommen würde, das Rettungsdienste durchführen wird: medizinische Hilfe und medizinische Evakuierungen. Sowohl von Soldaten als auch von Zivilisten, sie hätten gesagt, dass sie einen Koordinator und Übersetzer bräuchten, denn in so winzigen Organisationen machen alle alles. Ich hatte eine medizinische Grundausbildung durchlaufen. Also begannen wir, medizinische Evakuierungen zu organisieren, den Soldaten in Koordination mit den Kriegssanitätern zu helfen. Das war in Richtung Bachmut, Soledar.

Die Situation war und ist schwierig, deshalb hatten wir einen Rettungsdienst. Zwei Rettungswagen, moderne, mehr oder minder gute, britische, wenn ich mich nicht irre. Wir fuhren die Siedlungen im Bezirk ab, um medizinische Hilfe zu leisten und um zu schauen, was dort vor sich geht.

Siversk hat einen besonders starken Eindruck hinterlassen, wir waren dort. Da gibt es schon nichts Lebendiges mehr, aber sogar jetzt sind dort Menschen. Soweit ich weiß, leben sie dort.

Wir fanden dort ein Krankenhaus, das noch in Betrieb war. Da gab es nur noch den stellvertretenden Chefarzt, noch einen Arzt, eine Krankenschwester – das ganze Personal bestand aus vier Personen unter sehr schwierigen Bedingungen: ohne Elektrizität, mit Nichts. Ein Generator funktionierte, wir vereinbarten, Treibstoff zu liefern, um ihn am Laufen zu halten, auch mit Medikamenten konnten wir helfen. Was kann ich sagen, die Menschen dort sind heldenhaft. Sie hatten so gut wie keine Unterstützung vom Gesundheitsministerium. Im Grunde hatte man sie ihrem Schicksal überlassen. Ich kenne natürlich nicht alle Nuancen. Vielleicht hätten sie evakuiert werden sollen, ich weiß es nicht. Aber sie arbeiteten, es gab betagte Menschen dort, welche, die gerade entbunden hatten.

Generell, je näher an den Kampfgebieten, desto schlimmer war es. Es gab ein Dorf, wo ständig etwas passierte. Es gab einen ständigen Strom von Menschen, die dortgeblieben waren, aber dann begann ein solches Armageddon, dass auch sie anfingen, von dort wegzugehen. Das Dorf heißt Paraskovijivka. Wir haben sogar zweimal Zivilisten mitgenommen, die auf der Straße aus Paraskovijivka in Richtung Kramatorsk liefen oder irgendwo anders hin. Einmal begegneten wir einer Familie auf Fahrrädern – sie waren zu viert. Wir sagten: „Halt! Lasst euch einfach von uns mitnehmen.“ Es gab dort einen Schutzraum in Slovjansk, im Ersten Krankenhaus. Wir fuhren sie hin, registrierten sie und stellten sicher, dass es ihnen gut ging. Und einmal war ein Mann nachts unterwegs, eine Rakete hatte an diesem Tag sein Haus getroffen , er war verletzt, nicht schwer, aber trotzdem. Er entschloss sich wegzugehen und wir sammelten ihn auf.

Wir waren in Bachmut, nicht unser ganzes Team, nur vier Leute. Peter und ich und nach einigen Wochen schloss sich uns noch ein junger Mann an, Roma. Und Ray, eine junge amerikanische Rettungssanitäterin. Noch ein Kumpel war dabei: ein Australier, der Fahrer. Wir fuhren los nach Bachmut, um zu sehen, was dort los ist, um wenigstens irgendeine medizinische Infrastruktur einzurichten, denn dort gab es für Zivilisten absolut gar nichts. Wenn dir in Bachmut als Zivilist irgendetwas zustößt, dann ist alles, worauf du hoffen kannst, dass dich irgendwer raus bringt. Und das war's. Die Soldaten können das oft aus verschiedenen Gründen nicht machen. Es kann dort etwas passieren, wo einfach niemand ist und keiner weiß, dass dir etwas zugestoßen ist. Deshalb wollte ich irgendwie helfen

Wir waren an einem der „Punkte der Unbesiegbarkeit“, die zu dieser Zeit noch existierten. Es gab fünf davon. Wie viele es jetzt noch sind, weiß ich nicht. Das war am Busbahnhof in Bachmut. Wir erledigten dort einige unserer Angelegenheiten, unterhielten uns, da kommt ein ukrainischer Soldat hereingelaufen, sagt, dass es in der Nähe Beschuss gegeben habe, Zivilisten seien verletzt: „Wenn medizinisches Personal da ist, helfen Sie bitte.“ Wir fuhren los, außer uns waren da noch drei Leute von einem anderen Team ausländischer Mediziner. Das waren zwei Norweger und ein Este. Wir hatten zwei Fahrzeuge: Eines, in dem waren ich, Pete und Ray, und ein zweites, ein Minivan, in dem waren der Australier und Roma. Wir fuhren zu dem Ort des Beschusses. Tatsächlich lag am Rand der Fahrbahn auf dem Bordstein eine ältere Frau, ich schätze, sie war über siebzig. Sie blutete. Neben ihr saß ein Mann, ein Zivilist, um die fünfzig. Er war augenscheinlich nicht so stark verletzt und versuchte ihr zu helfen.

Der Australier stellte seinen Van ein Stück weiter weg ab. Wir stellten uns daneben. Wir hatten einen Mercedes Vito. Der Este ließ die Norweger aussteigen und fuhr los, den Wagen umparken, weil nicht alle Fahrzeuge auf einem Haufen stehen dürfen. Übrigens, als er vorbeifuhr, machte seine Dashcam noch einige Aufnahmen – den Moment des Raketeneinschlags. Wir stiegen alle aus dem Wagen aus: die Sanitäter, Pete, Ray und noch jemand. Die Norweger liefen sofort, um der Frau zu helfen. Über ihr waren schon vier oder fünf Personen. Meine Anwesenheit war nicht erforderlich, ich stand etwas weiter weg, beobachtete einfach, was vor sich ging.

Und buchstäblich in der nächsten Sekunde passierte eigentlich alles – wir wurden von einer Rakete getroffen. Das war kein Mörserfeuer, das war eine Kornet, eine russische Panzerabwehrrakete.

Sie schlug genau in unser Fahrzeug ein. Diese Explosion tötete tatsächlich auch Pete. Damals hatte ich das noch nicht begriffen, aber dann sagte man mir, dass noch ungefähr ein Dutzend Sprenggranaten eingeschlagen waren. So war das.


Der Moment des Raketeneinschlags. Screenshot eines Videos des Freiwilligen Erko Lajdinen von der Organisation Frontline Medics

Ich verlor für ungefähr eine halbe Sekunde das Bewusstsein. Ich fiel nicht einmal um, stand halb gebeugt. Als ich zu mir kam, verstand ich, dass etwas Schlimmes passiert war. Ich merkte sofort, dass ich mit einem Bein Probleme hatte und Blut floss. An der Schulter und im Gesicht blutete ich auch. Das war ein in Anführungszeichen ziemlich interessanter Zustand. Ich fing an, Informationen zu sammeln, was um mich herum passiert war, verstand, dass wir von einer Rakete getroffen worden waren. Ich sah, dass der Australier mit unserem zweiten Van unversehrt etwas weiter weg stand. Ich bemerkte, dass jemand tot da lag, das war Pete. Der Zivilist war auch umgekommen, wie ich später erfuhr. Ich sah, dass Roma lebte. Ray lebte auch. Ich winkte ihnen zu, dass sie in den Van steigen sollen, damit wir zusammen wären, denn die Aufgabe war, alle lebendig herauszubringen. Alle setzten sich in das Fahrzeug. Ich fragte Roma nochmal, was mit Peter sei, er bestätigte, dass er tot sei.

Wir fuhren aus Bachmut heraus, der erste Kontrollposten dort ist bei der Einfahrt. Von dort aus wurden wir zum Stützpunkt einer der Brigaden begleitet, die dort stationiert war. Dort wurden wir verpflegt. Interessanterweise waren Peter und ich fünf Tage vor diesem Ereignis wegen einiger, sagen wir mal, koordinatorischer Fragen dort gewesen. Sie flickten uns zusammen, brachten uns sofort nach Kramatorsk, wo sie auch eine Art Operation durchführten und am nächsten Tag brachten sie uns nach Dnipro. Das war am zweiten Februar. Am vierten war ich schon in Dnipro.

Verzeihen Sie, konnten Sie Peters Leiche bergen?

Ja, wir holten sie dann.

Danach oder gleich?

Wohl am selben Tag, abends. Da war es ruhig.

Als die Rakete in den Wagen einschlug, fing er Feuer. Das war nicht der allerschönste Anblick. Wir holten die Leiche, seine Frau Alex kam. Wir trafen uns, als sie mit der Leiche von Pete aus Kramatorsk nach Kyjiv fuhren, um ihn einäschern zu lassen, weil das sein Wille war. Sie kam nach Dnipro, wir sahen uns und redeten. Dann fuhren sie weg nach Kyjiv und äscherten ihn ein, danach reisten sie mit der Asche nach Amerika.


Pete Reed, Quelle: Foto Website Global Outreach Doctors


Keiner geht in die Ukraine wegen Geld, denn Geld gibt es hier nicht. Sie verdienen bei sich zuhause bei jeder beliebigen Arbeit bedeutend mehr Geld. Ich hatte persönlich mit ihnen zu tun, meistens sind das motivierte Leute.

Sie machen sich um alles Gedanken, was passiert, haben das Gefühl, dass sie ihren Beitrag leisten können. Deshalb kommen sie: Viele kommen um, die Verluste sind sehr hoch. Sowohl bei den Militärangehörigen als auch bei den humanitären Helfern. Besonders unter denen, die im Donbas arbeiten.

Wie verlief Ihre Behandlung, soweit ich verstehe dauert sie bis jetzt an?

Ja. Ich hatte eine schwere Verletzung am linken Oberschenkel, ein Splitter ist mitten durch gegangen. Die Wunde da ist groß und der Oberschenkelknochen ist gebrochen. Aber das ist nicht so schlimm. Der Knochen wird ziemlich schnell wieder zusammenwachsen. Die Wunde heilt, aber der Prozess verläuft normal. Alles mehr oder weniger normal. Die Wunde ist einfach groß, das ist alles. Es gibt noch verschiedene von diesen, wie man sagt, blinden Wunden am linken Bein und an der rechten Schulter. Aber alle Knochen sind heil, es fehlt einfach ein Stück Fleisch. Das wird auch alles heilen. Ich habe eine Druckverletzung im rechten Ohr: Im Trommelfell haben sich wegen der lauten Explosion Löcher gebildet. Gerade gestern wurde ich operiert, sie wurden verklebt.

Haben Sie nun irgendwelche Probleme mit dem Gehör oder nicht?

Da ist jetzt noch ein Geräusch, weil gerade erst die Operation war. Aber innerhalb eines Monats sollte sich alles normalisieren und heilen. Es wird alles gut werden.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Weitermachen wahrscheinlich. Meine Kumpels rufen mich schon hierhin und dorthin. Wir werden sehen.

Ist Ihnen noch nicht der Gedanke gekommen, dass Sie tatsächlich einen Schritt weg vom Tod waren?

Buchstäblich einen Schritt weg vom Tod. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich sterben würde, war größer.

Haben Sie nicht daran gedacht, mit all dem aufzuhören?

Komplett aufhören – Nein. Weil, wenn man der allgemeinen Sache in der Ukraine und der ukrainischen Gesellschaft einfach nicht auf die eine konkrete Weise helfen kann, dann eben auf eine andere. Das zu 100 Prozent. Sogar jetzt laufen Transport und Koordinierung über mich, nur mit Telefonen und Notebooks. Ich muss nicht mehr physisch irgendwo sein. Aber wir werden sehen.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Das Video-Interview mit Maksym Vajner finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

12. September 2023 (Orig.: 16. August 2023)

 

Copyright © 2024 memorial.de. Alle Rechte vorbehalten.
MEMORIAL Deutschland e.V. · Haus der Demokratie und Menschenrechte · Greifswalder Straße 4 · 10405 Berlin
Joomla! ist freie, unter der GNU/GPL-Lizenz veröffentlichte Software.
Back to Top