Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 30.07.2023 – 07.08.2023

 

Die Stadt spricht


Eine 21-jährige Bewohnerin der Stadt Krasnodar trug eine Tasche mit der Aufschrift „Sex is cool but putin's death ist better“. Sie erhielt eine Geldstrafe wegen „Diskreditierung der Armee“. In den Unterlagen des Verwaltungsverfahrens fanden sich auch Fotografien von Graffiti und eine Tasche mit der Aufschrift „Nein zum Krieg“ sowie die Aufnahme eines Stickers mit der Aufschrift „Frieden“.

In St. Petersburg tauchte ein Plakat mit einem Zitat aus Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ auf.

 

In Lipezk haben Unbekannte am Eingang eines Geschäfts ein Anti-Kriegsgraffiti hinterlassen.

 

Fotografien von Aufschriften auf und an Straßen werden aus Beresovskij, Dzershinskij, Kupavna, Moskau und Ufa geschickt.

 

 

Anti-Kriegs-Statements tauchen auf den Straßen von St. Petersburg auf.

Balaschicha gegen den Krieg:

 

In Syktyvkar erinnert man an Den Haag:

 

Einzelkundgebungen und Demonstrationen

Der 77-jährige Aktivist Viktor Gilin stand eine halbe Stunde lang mit einem Plakat auf der Straße mit der Aufschrift: „Herr Putin, ich fordere, dass die Frage des Beitritts Russlands zur UN-Konvention über Streumunition vom 1. August 2010 unverzüglich geprüft wird.“ Zuvor hatte er bereits gefordert, den Krieg und die nukleare Erpressung zu beenden. Er wurde festgenommen.

 

In Voronezh hielt der Aktivist Nikolaj Borissov eine Einzelkundgebung gegen den Krieg ab und lief mit dem Plakat „Krieg ist Schmutz // Wir tragen unseren Schmutz in die Ukraine“ durch die Stadt. Der Aktivist wurde zum dritten Mal festgenommen, zuvor war er wegen der Plakate „Ich bin gegen den Krieg“ und „Peace to Ukraine“ festgenommen worden.

 

Jegor Sajzev aus Moskau hat mit dem Plakat „Nein zum Krieg“ im Stadtzentrum eine Einzelkundgebung abgehalten. Sajzev wurde noch am selben Tag festgenommen.

 

Petr Kossorukov aus Moskau hat sich mit einem Plakat gegen den Krieg und gegen Putin auf den Roten Platz gestellt. Kurz darauf wurde er festgenommen und auf eine Polizeiwache gebracht.

 

Dmitrij Gvozdev aus St. Petersburg hat eine Einzelkundgebung abgehalten, er ging mit dem Plakat „Nein zum Krieg // Frieden für die Ukraine“ auf die Straße. Gegen den Mann wurde ein Verwaltungsprotokoll wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ aufgenommen.

 

Bogdan Schevtschenko aus Chabarovsk wurde bei einer Einzelkundgebung mit dem Plakat „Net Voble“ festgenommen. [Vobla ist ein Fisch, das Wort wird von Protestierenden regelmäßig für das verbotene Wort Vojna - Krieg - verwendet, da es sich nur in zwei Buchstaben unterscheidet.]

In Jekaterinburg wurde Dmitrij Rykov festgenommen, der mit einem pazifistischen Plakat demonstriert hatte.

 

Sabotageakte

Die Welle von Brandanschlägen auf militärische Rekrutierungszentren in Russland hält an. In dieser Woche wurden mehr als 24 Brandanschläge verübt. So warf beispielsweise am 31. Juli eine Einwohnerin von Kaluga einen Molotowcocktail auf ein Rekrutierungsbüro. Die Frau drohte damit, „alles mit einer Granate in die Luft zu jagen.“

In der Nacht zum 31. Juli setzten Unbekannte in der Region Krasnojarsk zwei Relaisschränke in Brand, die Signal-, Zentralisierungs- und Stellwerkssysteme steuern. Die Ordnungskräfte fanden am Tatort eine leere Limonadenflasche, eine Zigarettenschachtel und Pfefferspray. In den letzten Tagen wurden mindestens fünf weitere Brandanschläge auf Bahnanlagen gemeldet: in Moskau, im Gebiet Kaluga, in Samara, in St. Petersburg und im Gebiet Lipezk. Einige Brandstifter behaupten jedoch, sie hätten, wie im Fall der Brandstiftungen in den Rekrutierungszentren, Relaisschränke gegen eine Belohnung oder auf Aufruf von Betrügern in Brand gesetzt.

 

Verfolgungen

Am 2. August wurde Tachir Arslanov, Rentner aus Novosibirsk, wegen Anti-Kriegs-Kommentaren zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Er hatte einen der Brandanschläge auf Rekrutierungsbüros in dem Sinne kommentiert „Ist doch klar, warum das passiert“. Sein zweiter Kommentar lautete: „Ich habe die militärische Invasion in ein Nachbarland 'Eroberungskrieg der Kreml-Faschisten' genannt. Was ist daran falsch? Wodurch unterscheidet sich diese von der Invasion der Jahre 1939-1941?!“

Ein Manager des Moskauer Zentralbüros der Russischen Eisenbahn, dessen Name nicht veröffentlicht wird, hat dem Medienunternehmen „Wir können erklären“ berichtet, dass er von der Leitung wegen Kritik am Krieg und an Vladimir Putin unter Druck gesetzt worden ist. In seinen Sozialen Netzwerken hatte er gesagt, er sei mit der Politik des Kreml nicht einverstanden. Daraufhin wurde er im Januar 2023 von seinem Chef einbestellt, der ihm anbot entweder zu kündigen oder seine Beiträge zurückzuziehen. Der Manager weigerte sich, weswegen man ihm den Zugang zu Staatsgeheimnissen einschränkte, sein Gehalt kürzte und ihm mit dem Paragraphen zur „Diskreditierung der Armee und dem „Agentenstatus“ drohte. Dabei hörte der Manager auch den Satz „Sie sind nicht der Einzige“. Wahrscheinlich gibt es gar nicht so wenige Mitarbeiter der Russischen Eisenbahn, die mit dem Krieg nicht einverstanden sind, aber die Fälle ihrer Schikanen werden nicht öffentlich gemacht.

Auf dem Auto von Aleksandr Gorelov aus dem Gebiet Nizhnij Novgorod befand sich die Aufschrift „Nein zum Krieg“. Bei ihm wurde eine Haussuchung durchgeführt, angeblich wegen Zeugenschaft in einem Fall von Falschmeldung eines terroristischen Anschlags. Danach wurde er zur Polizeiwache gebracht und es wurde ein Protokoll wegen „Diskreditierung der Armee“ aufgenommen.

Aj-Tana Tugudina aus der Republik Altaj wurde zu acht Monaten Zwangsarbeit unter Einbehaltung von 10 Prozent des Gehalts zugunsten des Staates wegen „wiederholter Diskreditierung der Armee“ verurteilt. Das Verfahren wurde eingeleitet wegen ihrer Kommentare über die Nachricht einer anderen Bewohnerin aus Altaj, die den Spezialkräften der Ukraine helfen wollte. Nach Angaben des Gerichts hatte Tugudina Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie sich negativ über die Aktionen der russischen Armee in der Ukraine äußert.

 

Online-Protest

Daniil Rogatschev aus Volgograd wurde am 4. August zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (1,8 monatliche Mindestlöhne) verurteilt. Rogatschev hatte sich mit einem Anhänger Putins in der Chatgruppe „Rubezh Tschat“ gestritten und auf grobe Weise nachgefragt, warum dieser noch nicht an der Front sei und Kommentare aus dem Hinterland schreibe. Diese und andere Sätze wurden als „Diskreditierung der Armee“ betrachtet.

 

Kriegsdienstverweigerung

Ehefrauen mobilisierter Männer haben die Aktion „Bringt Papa nach Hause“ gestartet. Sie drehen Videos mit ihren Kindern, auf denen diese Luftballons mit den Aufschriften „Bringt Papa nach Hause“ und „Bringt Papa zurück. Ich vermisse ihn“ in den Händen halten.

Das Gericht hat den Vertragssoldaten Anatolij Ponomarenko wegen „unbefugtem Verlassen der Einheit während der Mobilisierung“ (Art. 337 Teil 2.1, 3.1 und 5 StGB RF) zu sechs Jahren Haft verurteilt. Im Mai hatte er sich von selbst bei der Polizei gemeldet, im Juni wurde er festgenommen.

Einige Häftlinge des Straflagers IK-4 im Gebiet Kaluga weigerten sich zu kämpfen, als man versuchte, sie für den Krieg anzuwerben. Dafür wurden sie gefoltert.

Der Mechaniker und Fahrer einer Militäreinheit Sinkov in der Region Stavropol weigerte sich, den Befehl seines Kommandanten zu befolgen, in den Krieg zu gehen. Dafür wurde er zu zwei Jahren und drei Monaten Haft in einer Ansiedelungskolonie verurteilt.

 

Kultur

Es wurde ein anonymes Interview mit einer jungen Frau veröffentlicht, die weiterhin Anti-Kriegslieder singt und mit diesen in Russland bei Kammerkonzerten auftritt.


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


16. September 2023

 

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