„Mit einer solchen Lawine von Verbrechen kann kein Strafverfolgungssystem auf der Welt fertig werden“

Anton Petscherskyj im Gespräch mit Jevhen Sacharov

 

 
Jevhen Sacharov, Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe, Vorstandsvorsitzender der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte. Foto: Viktor Dechtjar

Beginnen wir unser Gespräch über die heutige Arbeit der Charkiver Menschenrechtsgruppe (ChMG) mit der Vorgeschichte, mit den Aktionen, die dem kompletten Einmarsch der Russischen Föderation in der gesamten Ukraine vorausgingen – mit der beginnenden offenen Aggression Russlands gegen die Ukraine im Jahre 2014. Standen die Probleme, die durch die russische Aggression entstanden, schon damals im Fokus der ChMG, oder erst Ende Februar 2022?

Die Folgen der Aggression Russlands gegen die Ukraine wurden bereits 2014 Teil unserer täglichen Arbeit. Dazu gehörten die Unterstützung von Binnenflüchtlingen und die Dokumentierung von Kriegsverbrechen, die Russen sowie Kämpfer der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk begangen hatten. Damals richtete die ChMG eine Datenbank ein, die 16.800 zivile Opfer des damaligen Kriegsstadiums erfasste. Darunter sind Verletzte, Gefolterte, unrechtmäßig inhaftierte Zivilisten sowie Personen, die verschwunden sind.

Außerdem dokumentierten wir die Zerstörung und Beschädigung von Wohnhäusern und anderen Gebäuden. Insgesamt wurden 22.000 solcher Objekte in der Datenbank registriert. Somit hat die ChMG bereits seit 2014 eine umfangreiche solide Arbeit zur russischen Aggression gegen die Ukraine geleistet. Wir haben eine Namensliste aller Zivilisten zusammengestellt, die damals getötet wurden. Das waren annähernd dreieinhalbtausend Personen, und von jedem kannten wir den Decknamen sowie die Todesumstände, den Zeitpunkt und den Ort des Todes.
Auf der Basis dieser Informationen haben wir drei Eingaben an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorbereitet.


Zerstörungen in Ruski Tyschky im Gebiet Charkiv, dokumentiert von der ChMG


Die Datenbank der ChMG erfasst Angaben über 46.000 Verbrechen der russischen Besatzer

 

Wie hat sich der Beginn der flächendeckenden Invasion vom 24. Februar 2022 auf die Arbeit der ChMG ausgewirkt?

Seit dem ersten Tag des Angriffs - des großen Krieges, wie wir ihn nennen, hat sich das Ausmaß der Verbrechen nicht nur vervielfacht, sondern potenziert. Sie beschränken sich natürlich nicht mehr auf die zeitweilig besetzten Gebiete des Donbas oder der Krim, sondern erfassen das gesamte ukrainische Gebiet. Uns war sofort klar, dass wir sie alle festhalten müssen, da diese massive russische Invasion mit zahllosen Verbrechen einhergehen wird. Wenn man diese nicht umgehend verzeichnet, gehen die entsprechenden Informationen womöglich verloren. Später wird es dann nicht möglich sein, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die Opfer zu entschädigen.

Nachdem sich die ChMG vom Schock der ersten Kriegstage erholt hatte, nahm sie in den ersten Märztagen ihre Arbeit wieder auf und entfaltete eine umfangreiche Tätigkeit, um auf die Herausforderungen durch die großangelegte Invasion zu reagieren. Wir legten unsere Datenbank vom vorangegangenen Kriegsstadium zugrunde und ergänzten sie mit neuen Informationen. Kollegen schlossen sich an, und wir gründeten gemeinsam die Initiative „Tribunal für Putin“ (T4P), die mehr als 20 Organisationen umfasst, vor allem die Ukrainische Helsinki-Union für Menschenrechte, das Zentrum für bürgerliche Freiheiten sowie etliche weitere.

Dank dieser Zusammenarbeit können wir die gesamte Ukraine abdecken. Wir haben sie nach Regionen unterteilt. Im Rahmen dieser Initiative haben in jedem Landesteil Menschenrechtsorganisationen mit der Arbeit begonnen, die dort schon lange tätig und mit den regionalen Besonderheiten gut vertraut sind. Sie haben mit unserer Methode die Verbrechen dokumentiert, um diese Erkenntnisse in unsere Datenbank einzutragen. Wir haben die Ermittler in unsere Verfahren eingewiesen und die Eintragungen in unserer Datenbank überprüft, um Fehler zu vermeiden. Heute haben wir etwa 46.000 Fälle registriert, was schon eine sehr hohe Zahl ist. Die meisten davon betreffen den Verlust von Eigentum, vor allem der Wohnung oder von Autos. Das sind etwa 80%.

Foltereinrichtungen, die russische Besatzer in Lypzi / Gebiet Charkiv betrieben (Foto: SBU)

 


Die Sicherheitsorgane haben schlicht nicht die Ressourcen, um solche Tatbestände wie die Zerstörung und Beschädigung von Wohnungen zu untersuchen

 

Kann man sagen, dass die ChMG, die ja über einige Erfahrung verfügt, eine Vorbildfunktion für andere Menschenrechtsorganisationen übernimmt, die sich an ihrer Erfahrung orientieren?

Ja, wir haben faktisch gezeigt, wie man hier arbeiten sollte, wie Verbrechen festzuhalten sind und wie Opfern rechtliche und psychologische Hilfe erwiesen werden kann. Ein wichtiger Punkt ist die Einheitlichkeit verschiedener Taten im Hinblick auf dieselben Straftatbestände. Ich habe das Verfahren im Auge, das bei ihrer Erfassung verfolgen sollte. Erstens sollte man Informationen sowohl aus offenen Quellen als auch aus unmittelbaren Kontakten mit Zeugen und Opfern beziehen. Zweitens sind die Angaben richtig in die Datenbank einzutragen. Drittens ist im Interesse der Opfer Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden zu erstatten, damit sie in das Einheitliche Register vorgerichtlicher Ermittlungen aufgenommen werden.

Dies ermöglicht es, den Status der betroffenen Person festzuhalten, die als Opfer anerkannt wird. Das ist erforderlich, damit sie in Zukunft Entschädigungszahlungen erhalten kann. Seit Beginn der flächendeckenden Invasion haben wir bereits mehr als 2.800 Anzeigen erstattet. Allerdings muss ich sagen, dass die Strafverfolgungsbehörden derzeit schlicht keine Ressourcen haben, um solche Tatbestände wie die Zerstörung und Beschädigung von Wohnungen zu untersuchen, sie sind völlig überlastet. Ich bin sicher, dass keine Behörde der Welt mit einer solchen Lawine von Verbrechen fertig würde, das ist einfach nicht möglich.

 

Unter den Personen, die die Russen unrechtmäßig festgenommen haben, gibt es so gut wie keine, die nicht gefoltert worden wäre

 

Was sind Ihre Prioritäten bei der Arbeit mit Ermittlern sowie mit Menschenrechtsaktivisten?

Es gibt bestimmte Prioritäten bei den Strafverfolgungsorganen, welche Verbrechen in erster Linie untersucht werden müssen. In dieser Hinsicht besteht übrigens Einigkeit mit den Menschenrechtsorganisationen. Es geht vor allem um ermordete oder verwundete Zivilisten, die durch Bombardements, Beschuss oder Minen, Sprengfallen oder Sprengstoff verletzt wurden.
Weiter geht es um Personen, die in Gefangenschaft waren und gefoltert wurden. Nach unseren Angaben gibt es unter jenen, die die Russen unrechtmäßig inhaftiert haben, so gut wie niemanden, der nicht gefoltert wurde. Denn sie folterten alle, unabhängig vom Alter, vom Geschlecht…. Sie haben selbst Kinder gefoltert! Ich meine Jugendliche, Jungen und Mädchen von 15-16 Jahren.

Dann sind Ermittlungen in Fällen von sexueller Gewalt vorrangig. Die vierte Gruppe, die in erster Linie im Fokus steht, sind Verschwundene. Das heißt Personen, die direkt von ihrem Wohnort entführt wurden. Es gibt sehr viele solcher Personen, in unserer Datenbank haben wir etwa 4.100 verzeichnet. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wahrscheinlich sind es sehr viel mehr.

 


Anjuta Myronez, Einwohnerin von Velika Dymerka, Gebiet Kyjiv


Ist annähernd bekannt, wie viele Zivilisten die Besatzer unrechtmäßig festgenommen und inhaftiert haben? Wie ist ihr Status?

In unserer Datenbank sind annähernd 5.000 solcher Personen verzeichnet, aber die wirkliche Zahl ist wahrscheinlich doppelt so hoch und könnte bei 10.000 liegen. Gewöhnlich wurden sie zunächst in inoffiziellen Haftanstalten in den Regionen des besetzten Territoriums gefangen gehalten, wo man sie entführt hatte. Dann wurden die meisten von ihnen anderswohin gebracht, häufig nach Russland. Heute befindet sich der größere Teil auf russischem Territorium sowie in den zeitweilig besetzten Gebieten der Ukraine – den so genannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk und auf der Krim.

Der Status der unrechtmäßig inhaftierten Zivilisten ist ein besonders großes Problem. Sie haben nicht den Status, um für einen Austausch gefangener Soldaten in Frage zu kommen. Die Besatzer wollen sie als Soldaten ausgeben, aber das ist völlig falsch, sie haben ja an keinerlei Kampfhandlungen teilgenommen. Daher bleiben diese unrechtmäßig inhaftierten Zivilisten in Gewahrsam, ohne dass Anklage erhoben oder eine Untersuchung eingeleitet würde. Das ist viel schlimmer als der Status von Kriegsgefangenen, denn diese werden ja doch mit der Zeit ausgetauscht.

Unrechtmäßig festgenommene Zivilisten werden unschuldig, ohne Anklage und Ermittlungen, in Haft gehalten, und sie bleiben monatelang, manche über 15 Monate in Gefangenschaft. Da ist etwa der Fall bei dem ukrainischen Studenten Mykyta Schkrjabin, den die russischen Besatzer in seinem Haus verhafteten. Er wird ohne jeglichen Grund in Russland gefangen gehalten. Ein russisches Gericht hat ausdrücklich eingeräumt, dass weder Anklage erhoben noch Ermittlungen eingeleitet worden seien. Daher hat er in Russland keinerlei offiziellen Rechtsstatus und auch keinen Zugang zu einem Anwalt und zu einer Verteidigung.

 


Jevhen Sacharov, Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe, Vorstandsvorsitzender der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte. Foto: Vitor Dechtjar


Woher bekommen die Juristen der ChMG Informationen über unrechtmäßig Inhaftierte, über ihre Anzahl und darüber, was mit ihnen in der Gefangenschaft geschieht?

Aus den Berichten jener, die das Glück hatten, freizukommen. Wir kennen etwa 200 solcher Fälle. Das sind die Verfahren, in denen unsere Anwälte die Opfer bei den Ermittlungsorganen vertreten. Das sind der SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine) und die Ermittlungsorgane in den Städten und den Gebieten Kyjiv und Charkiv. Auch in den Gebieten Tschernihiv, Sumy, Donezk, Luhansk und Zaporizhzhia gibt es solche Verfahren, praktisch überall, aber die meisten in den Gebieten Kyjiv und Charkiv.

Wenn es um den Status der unrechtmäßig inhaftierten Zivilisten geht, müssen wir auch die Fälle ansprechen, in denen Personen gewaltsam verschwinden. In vielen Fällen wissen wir nicht, wo unsere gefangenen Zivilisten sind und unter welchen Bedingungen sie festgehalten werden. Derzeit behandelt die ChMG etwa 200 Fälle gefangener Zivilisten und Militärs, und nur in fünf Fällen ist uns offiziell zuverlässig bekannt, wo sich diese Menschen befinden. In 48 Fällen kennen wir den Aufenthaltsort inoffiziell.

 


Leichen von Einwohnern des Dorfs Gusarivka im Gebiet Charkiv, die die russischen Besatzer verscharrt hatten. Foto: Nationale Polizei der Ukraine


Das heißt, die ChMG arbeitet bei der Aufklärung über diese Verbrechen mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen? Wie läuft das im Einzelnen ab?

Ja, das ist eine gemeinsame Arbeit mit den Ermittlungsorganen des SBU und den Staatsanwaltschaften. Jede Gebiets-Staatsanwaltschaft hat eine Ermittlungsabteilung für Kriegsverbrechen, wir arbeiten eng mit ihnen zusammen, führen gemeinsam Ermittlungen durch. Das ist sehr wichtig, weil es für diese Arbeit viel zu wenig Personal gibt.

Zunächst machen wir die Betroffenen ausfindig. Wir suchen Ortschaften in den Gebieten Charkiv oder Kyjiv auf und sprechen in unseren Büros mit den Ortsbewohnern. Im Gebiet Kyjiv sind das vor allem Butscha, Irpin, Hostomel, Borodjanka, Moschtschun und Vorsel. Auf diesen Fahrten finden wir Opfer von Verbrechen, zu denen bisher noch keine Strafverfahren eingeleitet wurden. Wir erstatten Anzeige bei den Behörden. Wenn die Sache trotzdem nicht vorankommt, bemühen wir uns, Zeugen zu finden und sie mit dem Ermittler in Kontakt zu bringen.
Unsere Anwälte nehmen an der Befragung der Opfer und der Zeugen teil. Außerdem müssen wir uns auch an Ermittlungen beteiligen wie etwa der Identifizierung von Leichen sowie der von Schuldigen.

 

Oberstleutnant der russischen Streitkräfte mit dem Decknamen „Matrose“, der seinen Untergebenen befahl, Ukrainer im Gebiet Charkiv zu foltern. Foto: Staatsanwaltschaft des Gebiets Charkiv


Was waren die Ergebnisse der Arbeit der Juristen der ChMG in dieser Hinsicht?

Durch Zeugenbefragungen konnten wir die Decknamen von Russen in Erfahrung bringen, die Menschen gefoltert hatten. Wir haben sie den Ermittlern mitgeteilt, sie glichen die Decknamen mit Namen oder anderen Decknamen ab, die bereits bekannt waren. Auf diese Weise haben wir im Gebiet Charkiv neun Täter identifiziert und ihre Namen festgestellt. Dadurch konnte ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet werden.
Das ist ein kolossaler Berg von Arbeit. Wie viele Juristen haben Sie in der ChMG?

In diese Arbeit sind all unsere Anwälte eingebunden. Wir bitten auch Anwälte um Hilfe, die nicht ständig in unserer Organisation arbeiten, die aber die Möglichkeit haben, sich unserer Tätigkeit anzuschließen. Derzeit sind in der ChMG über 20 Anwälte beschäftigt, in erster Linie in Charkiv und Kyjiv, aber auch in Cherson, Kropyvnyzkyj, Uzhhorod – es ist eine breite Geographie.

Seit März vergangenen Jahres, in Reaktion auf die Herausforderung des großflächigen Angriffs der Russischen Föderation, hat sich das Personal der ChMG verdreifacht. Das war nicht nur deshalb notwendig, weil die Zahl der Menschen, die juristischer Hilfe bedurften, immens zugenommen hatte. Die ChMG leistet nunmehr auch psychologische und materielle Hilfe, was für die Opfer ebenfalls von großer Bedeutung ist.


Die Orte im Gebiet Kyjiv sind allgemein bekannt, die am meisten unter der russischen Aggression zu leiden hatten. Wie sieht es mit den Orten im Gebiet Charkiv in dieser Hinsicht aus?

In erster Linie waren das Balaklija, Isjum und Kupjansk. Allerdings haben in ihrer Nähe unterschiedslos alle Dörfer schwer gelitten, auch in anderen Teilen im Gebiet Charkiv, die entweder besetzt oder Schauplatz intensiver Kampfhandlungen waren. In vielen gibt es kein einziges Haus, das verschont geblieben wäre. Wer die Orte verlassen konnte, hat dies schon getan. Es blieben nur ältere Leute, die nirgendwohin konnten oder nicht weg wollten und die nach wie vor in ihren Häusern leben, oft sogar dann, wenn sie teilweise zerstört waren. Sie benötigen psychologische und materielle Hilfe, und wir helfen ihnen.

Die ChMG hat Zentren für psychologische Hilfe in Charkiv, Kyjiv und Lviv eröffnet. Hier arbeiten Psychologen, die Nachfrage danach ist groß, besonders in Charkiv. Drei unserer Fachgruppen mit Spezialisten bereisen regelmäßig die betroffenen Siedlungen im Gebiet Charkiv.

© Denys Volocha / Charkiver Menschenrechtsgruppe

 

Inwieweit sind Personen, die traumatisiert sind und psychologische Hilfe benötigen, bereit, mit Menschenrechtlern und Psychologen zu sprechen und darüber zu berichten, was sie erlebt haben?

Das ist sehr unterschiedlich. Manche wollen überhaupt nicht darüber sprechen, weil es zu schmerzhaft ist. Das betrifft besonders Opfer sexueller Gewalt. Sie möchten, dass das, was mit ihnen geschehen ist, im Dunklen bleibt. Das kann man verstehen, aber andererseits geht es darum, die Täter zu finden und zu bestrafen. Daher gibt es bestimmte Methoden, um diese Personen vor weiterer Traumatisierung zu schützen. Zum Beispiel werden sie bei Strafverfahren nicht unter ihrem tatsächlichen Namen genannt.

Aber es gibt ebenfalls eine bedeutende Anzahl von Menschen, die bereit sind, offen zu reden, die glauben, dass ihre Zeugnisse wichtig sind, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Für Menschen, die Bombardierungen erlebt haben, die fliehen mussten und zu Binnenflüchtlingen wurden, ist die Kommunikation mit Psychologen, Menschenrechtlern und Journalisten eine Möglichkeit, sich auszusprechen und die Last des Erlebten etwas zu lindern. Wenn sie vor der Kamera über ihre Leiden sprechen, fangen sie häufig an zu weinen, Frauen wie Männer. Und danach empfinden sie Erleichterung, da sie das, was sie belastete, mit jemandem teilen konnten, der einen Teil ihrer Schmerzen und Leiden auf sich genommen hat.


Folterstätte in Isjum, 19. September 2022. © Oleksandra Novosel / Suspilne

 

Wichtig ist auch die materielle Unterstützung für die Bewohner von Ortschaften, die unter der Besatzung und Kampfhandlungen zu leiden hatten…

Ja, und außerdem leisten wir soziale Unterstützung. Für eines unserer Projekte wurden wir finanziell vom Dänischen Institut gegen Folter „DIGNITY“ gefördert, was so viel wie „Ehre“ oder „Würde“ bedeutet. Unsere Sponsoren hielten es für notwendig, den Opfern materiell zu helfen und stellten dafür eine bestimmte Summe zur Verfügung. Wir haben diese sehr schnell verbraucht und einen Rechenschaftsbericht abgegeben. Die Vertreter von DIGNITY haben ihn gelesen und stellten noch eine größere Summe bereit, so dass wir mehr Opfer unterstützen konnten. Bis heute haben etwa 630 Personen 3.000 Grivna bekommen.

Außerdem hat die Internationale Gesellschaft Memorial der ChMG einen Teil der Summe überlassen, die sie für den Nobelpreis 2022 bekommen hat. Sie hat die Hälfte für uns und die andere Hälfte für die Unterstützung russischer politischer Gefangener bestimmt. Anfang Februar 2023 ist das Geld auf unserem Konto eingegangen. Wir verwenden es zur Unterstützung von Familien, die im Krieg zivile Angehörige verloren haben. Bisher haben bereits 230 Familien diese Unterstützung von der ChMG erhalten.

Außerdem betreiben wir das internationale Programm „Wir machen die Ukraine warm und hell“. Im Rahmen dieses Projekts werden in Polen Mittel gesammelt. Davon werden für die betroffenen Gemeinden, die keine Gas- und Stromversorgung haben, Generatoren sowie Herde, Öfen, Gaskocher, Ladestationen besorgt. Das war in der Heizperiode 2022-2023 besonders wichtig und bleibt auch jetzt für den bevorstehenden Winter aktuell. Wir haben in Charkiv schon acht große LKW mit solchen Lieferungen bekommen und konnten über 1.500 Personen und einzelne Haushalte unterstützen. Das hat ihnen geholfen, über den Winter zu kommen.

Besonders zu erwähnen ist auch die Hilfe für medizinische Einrichtungen in Kupjansk, Isjum, Balaklija und anderen Orten. Dorthin haben wir Generatoren und Ladestationen gebracht, die leistungsstärker sind als die für Privathaushalte.

 

Den ukrainischen Staat zu vernichten – das ist ein genuin faschistisches Ziel

 


Die Kriegsverbrechen der russischen Besatzer werden häufig mit nationalsozialistischen oder faschistischen Verbrechen verglichen. Verbreitet ist auch der neue Terminus „Raschismus“. Wie relevant ist eine solche Terminologie hinsichtlich des politischen Regimes und der politischen Praktiken der derzeitigen Russischen Föderation?

Ich würde diesen neuen Begriff „Raschismus“ nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch einführen. Das ist vielleicht ein gutes publizistisches Schlagwort, aber es steht nicht dafür, mehr damit zu machen. Tatsächlich herrscht in Russland gewöhnlicher Faschismus. Da gibt es eine schöne amerikanische Redensart: Wenn etwas aussieht wie eine Ente, läuft wie eine Ente, quakt wie eine Ente – dann ist es auch eine Ente. So ist es hier auch – was die Russen tun und wie sie es tun – das ist Faschismus. Und all diese kleinen Details, wie sie die Politologen analysieren, ob es dort bestimmte Erscheinungsformen des Faschismus gibt oder nicht, sind schon zweitrangig.


Oleg Orlov, 20. März 2022: : "Der durchgeknallte Putin treibt die Welt in die Richtung eines Atomkriegs". Foto: SOTA

 

Um den faschistischen Kern des russischen Regimes zu erfassen, muss man sich nur das Hauptziel der russischen Aggression gegen die Ukraine vor Augen führen. Das eigentliche Ziel Russlands in diesem Krieg ist es, den ukrainischen Staat auszulöschen und alle Personen zu vernichten, die ihn unterstützen und sich mit ihm identifizieren. Das ist ihr Hauptziel. Und die anderen wollen sie nach Möglichkeit zwingen, den Widerstand aufzugeben und sich mit der Situation abzufinden oder sie sogar dazu zu bewegen, die Vernichtung der Ukraine zu unterstützen.

Eben das ist das Ziel, das die russischen Besatzer mit ihrem ganzen Terror in den besetzten Territorien erreichen wollen. All die Entführungen, Folterungen und Einschüchterungen seitens der Russen verfolgen einen einzigen Zweck – die Ukrainer zu unterwerfen und den ukrainischen Staat von der Landkarte zu tilgen. Das ist ein genuin faschistisches Ziel.

Man muss hier also nichts Neues erfinden, sondern einfach den Faschismus als solchen bezeichnen. Mein langjähriger Freund und Kollege Oleg Orlov, Vorstandsmitglied von Memorial International und jetzt der 2023 gegründeten Internationalen Vereinigung Memorial, steht jetzt gerade deshalb vor Gericht, weil er öffentlich erklärt hat, dass in Russland der Faschismus gesiegt hat. Im Laufe des Prozesses hat er die Belege dafür, dass die Russische Föderation ein faschistischer Staat ist, zu den Akten nehmen lassen. Später wird man diese Unterlagen verwenden können, um mit Sicherheit zu beweisen, dass in Russland der Faschismus an die Macht gekommen ist.


Exhumierung von Leichen in einem Massengrab in Isjum. Foto: Armijainform

 


Die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine sind ein Genozid

 


Es ist bekannt, was die historischen Vorgänger des derzeitigen Putin-Regimes in Russland, die italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten, getan haben. Schließlich gab es das internationale Nürnberger Tribunal. Wie könnte ein Gerichtsprozess gegen die heutigen russischen Kriegsverbrecher juristisch in Gang gesetzt werden?

Für ein Verfahren gegen russische Kriegsverbrecher sollte meiner Meinung nach ein internationales Sondertribunal geschaffen werden. Das einzige Gerichtsorgan, das Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einen Genozid behandeln kann, ist heute der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Auf Grund seines Status fällt das Verbrechen der Aggression nicht in seine Kompetenz. Offenbar gibt es zum heutigen Stand überhaupt keine internationale gerichtliche Institution, die dafür zuständig wäre. Eben deshalb müsste man ein internationales Sondertribunal einrichten, um die Aggression Russlands gegen die Ukraine zu untersuchen.

Des weiteren müssen wir die Grenzen berücksichtigen, die den nationalen Strafverfolgungsbehörden bei ihrer Arbeit gesetzt sind. Die Ermittlungen dauern an, auch die ChMG wirkt daran mit, es finden Gerichtsverfahren statt, und es gibt bereits Verurteilte. Wenn Beweise für die Schuld bestimmter russischer Soldaten vorliegen, dann können Verfahren auch in Abwesenheit des Beschuldigten eingeleitet werden, was auch geschieht. Sie können in Abwesenheit verurteilt werden.

 


Foto: Armijainform

 

Schließlich hat der Internationale Strafgerichtshof bereits am 2. März 2022 die Aufnahme von Ermittlungen bekanntgegeben. Es wurde eine gemeinsame Kommission der Generalstaatsanwaltschaft gebildet, in der die Ermittler der letzteren sowie Ermittler der Staatsanwaltschaft des IStGH zusammenarbeiten. Sie haben das Verfahren wegen der gewaltsamen Verschleppung von Kindern aus der Ukraine nach Russland eröffnet und zu einem realen Resultat gebracht. Der Haftbefehl gegen den Präsidenten der Russischen Föderation Vladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lvova-Belova ist bekannt.

Das nächste Verfahren, das die Staatsanwaltschaft des IStGH einleiten wird, dürfte die Angriffe auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine betreffen. Auch in diesem Fall hat Putin, wie schon bei den Kindern, sich öffentlich zu dem Verbrechen bekannt.

Unserer Auffassung nach sollte man das Verfahren gegen Putin und Lvova-Belova anders einstufen, und zwar nach Artikel 6 des Römischen Status, da es hier um Genozid geht. Wir sind dabei, die These zu untermauern, dass es sich bei den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine um Genozid handelt.

Das von den russischen Besatzern zerstörte Mariupol. Foto: Armijainform

 

Was die russischen Besatzer in Mariupol angerichtet haben, ist Genozid

 

Wie groß sind die Chancen, dass die Kriegsverbrechen gegen die Ukraine international als Genozid anerkannt werden?

Das ist ein komplizierter und langwieriger Prozess. Wir analysieren gesammelte Erkenntnisse und geben eine Begründung für die Qualifizierung bestimmter Verbrechen. Es handelt sich z. B. um Folterungen, die man als Kriegsverbrechen sowie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstufen kann. Wenn man das immense Ausmaß und die Systematik dieses Verbrechens durch die russischen Besatzer berücksichtigt, kann man die Folter als Teil einer zielgerichteten Politik der russischen Okkupanten gegenüber den Ukrainern betrachten. Daher sollte man Folterungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Anzeichen eines Genozids qualifizieren.

Ein weiteres Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist das gewaltsame Verschwindenlassen, wozu es sehr häufig kommt. Wir stehen kurz vor der Fertigstellung einer Eingabe hierzu an den IStGH, ich hoffe, dass wir sie in diesem Jahr noch einreichen können.

Außerdem ist in unseren Augen das, was die russischen Besatzer in Mariupol angerichtet haben, ein Genozid. Wir haben dazu eine ausführliche Begründung erarbeitet, die auf Ukrainisch und Englisch veröffentlicht wurde und dem Büro des IStGH zugeleitet werden soll. Ebenfalls haben wir eine Eingabe zu wahllosem Beschuss verfasst, was ein Kriegsverbrechen darstellt. Die englische Übersetzung liegt bereits vor.

Jetzt befinden wir uns also bereits in einem Stadium, in dem wir sehr viele Informationen haben, die zusammengefasst und ans IStGH übermittelt werden müssen, um auf die festgestellten Verbrechen aufmerksam zu machen.

 


Der russische Propagandist Sergej Mardan (Kljutschenkov), der mehrfach öffentlich zu einem Genozid am ukrainischen Volk aufgerufen hat. Foto: Armijainform

 

Der Begriff des Genozids sollte auch den kulturellen Genozid erfassen

 

Es ist eine große Arbeit geleistet worden, um zu belegen, dass die Taten Russlands gegen die Ukraine als Genozid zu betrachten sind. Wie sind die Chancen, dass die Weltgemeinschaft die Kriegsverbrechen der russischen Okkupanten als solchen anerkennen wird?

In der Weltgemeinschaft sind die Experten geteilter Meinung. Ein Teil stimmt zu, dass es sich um Genozid handelt, der andere Teil lehnt dies ab. In beiden Gruppen sind ausgewiesene Experten vertreten.

Das Problem liegt darin, dass das Verbrechen des Genozids, das in der Praxis begangen wurde, weswegen ermittelt und das verurteilt wurde, in Wirklichkeit nicht dem entspricht, was jetzt bei uns geschieht. Ich glaube, dass man die Grenzen des Begriffs „Genozid“ erweitern sollte. Man müsste Begriffe wie den Ökozid einführen. Die Sprengung des Staudamms von Kachovka hinsichtlich all ihrer Folgen war ein furchtbares Verbrechen größten Ausmaßes. Man müsste den Begriff des Genozids so fassen, dass auch der Ökozid darunter fiele.

 


Rafał Lemkin, Autor des Terminus und der Konzeption des „Genozid“

 

Außerdem gibt es noch etwas wie den kulturellen Genozid. Diesen hatte der Autor des Begriffs Rafał Lemkin im Auge. In der ursprünglichen Definition, wie Lemkin sie vorgeschlagen hatte, ging es nicht nur um ethnische, sondern auch um politische und kulturelle Gemeinschaften. Als allerdings 1948 die endgültige Fassung des Übereinkommens zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes  verabschiedet wurde, wurde diese Bestimmung wegen der Position der Sowjetunion herausgenommen. Diese konnte sie nicht akzeptieren, weil sonst die Vernichtung sozialer Klassen oder der Holodomor 1932-1933 ebenfalls als Genozid hätten anerkannt werden müssen.

Ich denke, dass wir bei der inhaltlichen Definition des Begriffs Genozid darauf achten und bestehen müssten, dass der russische Angriff auf den Staat, seine Organe, seine Angestellten, auf die Menschen, die dieses Land verteidigen, auf die ukrainischen Bürger eben eine Manifestation des Genozids ist. Das gleiche gilt auch für den Angriff auf die kulturellen Werte der Ukraine, auf ukrainische Kulturdenkmäler, auf Museen, Theater, Bibliotheken.

Heute muss der Genozid-Begriff auch den kulturellen Genozid einschließen. Man kann nicht beim alten juristischen Rahmen bleiben. Diese Auffassung teilen viele Juristen. Allerdings ist das Recht eine sehr konservative Sphäre. Dies auf der Ebene des Römischen Status zu ändern und das Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zu revidieren, erfordert eine kolossale Arbeit. Ich muss zugeben, dass Russland viel dafür tut, um die Welt und die internationalen Institute letztlich dazu zu zwingen.

 


Foto: Armijainform

 

Die Überführung von Kindern aus einer sozialen Gruppe in eine andere ist ein Genozid

 

Mir scheint, dass die Definition des Genozids im Kontext des Holocaust steht, als die Vernichtung von Menschen vor allem aus ethnischen Gründen erfolgte.
Ja, im Massenbewusstsein wird als Akt des Genozids nur die physische Vernichtung aller Vertreter eines bestimmten Volkes verstanden. Dabei ist der Begriff selbst in der heutigen juristischen Definition deutlich weiter gefasst. Z. B. ist die Überstellung von Kindern aus einer sozialen Gruppe in eine andere und ihre Erziehung im Wertesystem einer anderen Gruppe auch ein Akt des Genozids.
Das ist einer von fünf Akten des Genozids. Kinder von bis zu drei Jahren werden, wenn man sie nicht zurückbringen kann, in diesem Sinn verloren sein, darüber muss man sich klar sein. Sie werden bereits andere Vorstellungen, eine andere Sprache, ein anderes Bewusstsein haben. Und das eben ist Genozid, ein gezielter verbrecherischer Schlag gegen den menschlichen Genpool.

Im Übrigen haben die Russen das bereits 2014 versucht. Erinnern Sie sich an all die Geschichten, als russische Besatzer Kinder aus Waisenhäusern nach Russland verschleppten? Das gab es schon damals. Deshalb können wir nicht streng an der juristischen Genozid-Definition festhalten, wie sie in der UN-Konvention von 1948 steht. In diesem Rahmen wird es schwer sein, einen Genozid zu beweisen, auch wenn wir es versuchen werden.

 


arija Lvova-Belova berichtet Vladimir Putin über deportierte ukrainische Kinder. Foto: Armijainform

 

Die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland – eine verbrecherische genozidale Technologie


Was müssen Juristen und Menschenrechtler tun, damit die Welt die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine als Genozid anerkennt?In der Ukraine passiert jetzt vieles zum ersten Mal. Wenn wir von einer gesellschaftlichen Gruppe sprechen, die ein kollektives Opfer von Kriegsverbrechen russischer Okkupanten ist, dann handelt es sich um Ukrainer als nationale Gruppe, nicht als eine rassische, ethnische, religiöse oder soziale, sondern eben als nationale. Das zum ersten. Eine nationale Gruppe als Opfer eines Genozids hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben. Es gab keine Entscheidung des IStGH über den Genozid an einer nationalen Gruppe. Früher gab es keine Entscheidung des IStGH über die Überführung von Kindern. Das geschah zum ersten Mal eben jetzt im Hinblick auf die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Allerdings müsste man dieses Verfahren anders einstufen, da die Verbringung von Kindern aus der Ukraine in die Russische Föderation als Kriegsverbrechen gilt, während es nach unserer Auffassung einen Akt des Genozids darstellt. Darauf muss man den Schwerpunkt legen, denn es ist eine von Russland bewusst geschaffene Technologie, die eingesetzt wurde, um ukrainische Kinder aus ihrer sozialen Gruppe herauszuziehen und ihr Bewusstsein zu verändern. So wurden die Kinder in so genannte Erholungslager gebracht, wo sie erzogen, wo ihnen bestimmte Anschauungen und Wertvorstellungen beigebracht wurden

Im Zusammenhang mit dem Haftbefehl gegen Putin und Lvova-Belova sowie den Urteilen gegen russische Kriegsverbrecher und Kollaborateure in Abwesenheit muss ich eine etwas schlichte Frage stellen. Sie wird sehr oft von ukrainischen Durchschnittsbürgern vorgebracht, die sagen, dass Urteile in Abwesenheit keine Bedeutung haben, weil es zu keiner realen Bestrafung kommt, da die Justiz die Vollstreckung des Urteils nicht gewährleisten kann. Warum sind Urteile in Abwesenheit wichtig?

Urteile in Abwesenheit sind tatsächlich von Bedeutung. Sie haben nämlich die Folge, dass verurteilte Verbrecher aus Russland nirgendwohin ausreisen können, da sie sonst festgenommen und an die Ukraine ausgeliefert würden. Diese Personen wissen von ihrem Urteil, und schon das ist eine Form der moralischen Bestrafung. Das wirkt sich auf die Menschen, auf ihre Psyche und ihr Wohlbefinden aus, denn auch die moralische Komponente ist von Bedeutung.

 


Foto: Armijainform

 

Es gilt äußerst sorgsam vorzugehen, damit nicht Menschen für eine Kollaboration bestraft werden, die in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat

Ich habe auch eine Frage aus einem anderen Aspekt: Wie weit ist in der Gesellschaft der Wunsch verbreitet, dass beliebige Erscheinungsformen von Kollaboration hart bestraft werden, nicht nur politische, sondern sogar solche im Alltagsleben. Es gibt auch ganz grundlose Bezichtigungen der Kollaboration. Wie sollten die Strafverfolgungsbehörden und Menschenrechtler sich hierzu verhalten?

Nach unseren Beobachtungen besteht derzeit tatsächlich in der Gesellschaft ein gewisses Bedürfnis, dass mehr angeklagt und bestraft wird als es in unseren Augen gerechtfertigt und notwendig ist. Das Gesetz über Kollaboration, das derzeit in Kraft ist, wurde nicht sehr genau formuliert. Es muss geändert, und es muss genauer definiert werden, was Kollaboration ist und was nicht und folglich wer als Kollaborateur zu gelten hat und wer nicht.

Um jemanden als Kollaborateur zu verurteilen, muss ein Strafverfahren eingeleitet werden, man braucht Beweise, ein Gerichtsurteil. Es gibt Geschichten, in denen die Menschen gezwungen waren, unter der Besatzung zu leben und irgendwie zu arbeiten, um zu überleben. Oder andere Fälle – z. B. töteten die Besatzer den Dirigenten des Theaterorchesters Cherson, weil er sich weigerte, ein Konzert für die Russen zu dirigieren. Wenn er dazu bereit gewesen wäre, wäre er am Leben geblieben. Wenn nun ein anderer, der davon wusste, diese Aufgabe übernommen hätte, würde ich ihn nicht so kategorisch verurteilen, wie sich das manche vielleicht wünschen.


Foto: Armijainform


Ebenso ist das mit der Frage etwa mit der Annahme eines russischen Passes. Das ist kein Beweis für Kollaboration, denn es ist klar, dass die Menschen in den besetzten Gebieten vor der Annahme der russischen Staatsbürgerschaft massiv unter Druck gesetzt, bedrängt und bedroht wurden. Ohne einen Pass des Aggressor-Staats war es häufig nicht möglich, elementare Dienstleistungen, manchmal sogar medizinische, zu bekommen. Daher sollte mit Kollaborationsvorwürfen sorgfältig und umsichtig umgegangen werden.

Eine andere Sache sind Bürger, die bewusst und aktiv mit der russischen Besatzungsmacht kooperiert und die freiwillig bestimmte Funktionen in der Besatzungsadministration übernommen haben. Oder die die russischen Streitkräfte mit Hinweisen auf ukrainische Polizisten, Teilnehmer der ATO (Anti-Terror-Operation, 2014-2018) und OOS (Operation Vereinigter Kräfte, 2018-2022) oder Grenzsoldaten unterstützt haben. Das ist eindeutig Kollaboration, da gibt es keinen Zweifel.

Zusammenfassend würde ich sagen – es gibt zweifelsfreie Fälle von Kollaboration, in denen ermittelt werden muss, Beweise müssen zusammengestellt werden, die Betroffenen müssen vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Und es gibt Situationen, in denen man ebenso eindeutig sagen kann, dass es keine Kollaboration gegeben hat. Und dann besteht eine gewisse graue Zone, wo nicht ganz klar ist, ob eine bestimmte Zusammenarbeit mit den Besatzern als Kollaboration zu werten ist oder nicht. Hier gilt es, äußerst behutsam und vorsichtig vorzugehen, die Gesetze zu revidieren und eine rote Linie zu ziehen, damit niemand zur Verantwortung gezogen wird für eine Kollaboration, die es gar nicht gegeben hat. Nach dem Sieg werden wir noch lange, ernsthaft und mit größter Sorgfalt und verantwortungsbewusst in diesem Bereich arbeiten müssen.

 

Wir brauchen den Sieg, einen anderen Ausweg gibt es für uns nicht

 

Zweifellos. Ebenso gilt es, sich nach dem Sieg mit der Bestrafung von Kriegsverbrechern zu befassen, nicht nur mit den gewöhnlichen Vollstreckern, sondern mit der höchsten militärpolitischen Führung der Russischen Föderation. Gibt es Chancen, ihre Vertreter zur Verantwortung zu ziehen?

Ich glaube ja. Meine Überzeugung basiert darauf, dass ich sicher bin, dass der kollektive Westen letzten Endes verstehen wird, dass Russland auch sein gewohntes Leben, seine Werte, seine Unternehmen angreift, alles. Nachdem es die Ukraine angegriffen und den größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg entfesselt hat, kämpft die Russische Föderation de facto gegen den Westen als solchen. Daher ist in der internationalen Gemeinschaft schließlich die Überzeugung herangereift, dass Russland dafür hart sanktioniert werden muss, dass Putin dafür zu bestrafen ist.

Deshalb bin ich überzeugt, dass die Ukraine siegen wird. Die Unterstützung des Westens wird nicht nur nicht zurückgehen, sondern sogar noch zunehmen – man wird uns mit Waffen und Geld solange und in dem Ausmaß helfen, wie es nötig ist. Aber leider verläuft das alles sehr langsam und wir zahlen für die verlorene Zeit einen sehr hohen Preis. Allerdings wird die Ukraine zweifellos mit der Unterstützung des Westens diesen Krieg gewinnen. Und dann, wenn es zur Niederlage Russlands kommt, wird man die besiegten Kriegsverbrecher schnell und sicher zur Verantwortung ziehen.

Darum müssen wir siegen Einen anderen Ausweg gibt es für uns nicht.

 

4. August 2023 / 17. Oktober 2023


Übersetzung aus dem Ukrainischen: Vera Ammer

Quelle: Armijainformhttps://khpg.org/1608812757 

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