Schlusswort von Oleg Orlov im Prozess gegen ihn wegen "Diskreditierung der Armee"

 

Zunächst möchte ich daran erinnern, dass sehr viele meiner Gesinnungsgenossen äußerst grausam bestraft wurden. Sie wurden zu vielen Jahren Freiheitsentzug verurteilt für ihre Worte, für friedlichen Protest, für die Wahrheit. Erinnern wir an Aleksej Gorinov und Vladimir Kara-Mursa, die derzeit in Strafzellen allmählich ums Leben gebracht werden. Erinnern wir an Aleksandra Skotschilenko, deren Gesundheit in der Untersuchungshaft gezielt ruiniert wird. Erinnern wir an den schwerkranken Igor Baryschinikov, dem das Gericht untersagte, an der Beisetzung seiner Mutter unter Bewachung teilzunehmen, und dem jetzt selbst medizinische Hilfe verweigert wird. Denken wir an Dmitrij Ivanov, Ilja Jaschin und an alle anderen, die wegen ihrer Proteste gegen den Krieg zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.

Vor diesem Hintergrund ist die Bestrafung, die die Anklage für mich beantragt, außergewöhnlich milde. Einen so geringen Preis für eine öffentliche Positionierung zu bezahlen, die ich für die Wahrheit halte, dürfte mir nicht leidtun. Aber das ist nicht so. Einen Schuldspruch werden wir in jedem Fall anfechten. Denn jeder Schuldspruch in dieser Sache, ob grausam oder milde, wird ein Verstoß gegen die russische Verfassung sein, eine Verletzung der Rechtsnormen sowie meiner Rechte.

Ich bereue nichts!

Ich bereue nicht, dass ich zu Mahnwachen gegen den Krieg gegangen bin, und nicht, dass ich den Artikel verfasst habe, für den ich jetzt verurteilt werde. Mein gesamtes bisheriges Leben lässt mir keine andere Wahl. Ich kann nicht umhin, mich an das Lieblingsmotto meines Lehrers, des großen Menschenrechtlers Sergej Kovalev zu erinnern, das bereits römische Denker formuliert hatten: „Tu, was du tun musst, und komme was da wolle.“

Ich bereue nicht, dass ich in Russland geblieben bin. Das ist mein Land, und ich bin der Auffassung, dass meine Stimme aus Russland mehr Resonanz haben wird. Und jetzt, durch die gemeinsamen Bemühungen der politischen Polizei, der Ermittlung, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts hat mein kleiner bescheidener Zeitungsartikel eine solche Verbreitung erfahren, von der ich nicht einmal hätte träumen können.

Und schon gar nicht bedauere ich, dass ich lange Jahre bei „Memorial“ gearbeitet habe – um der Zukunft meines Landes willen. Jetzt kann es so aussehen, dass „alles den Bach runtergegangen ist“. Es kann scheinen, dass alles, was wir, meine Freunde und Kollegen und ich gemacht haben, zerstört wurde und dass unsere Arbeit sinnlos war. Das ist aber nicht so. Ich bin sicher, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis Russland aus dieser Finsternis herauskommt, in der es jetzt versunken ist. Und daran, dass dies zwangsläufig so kommen wird, hat die Gemeinschaft der Memorialer und all unserer Freunde und Kollegen aus der russischen Zivilgesellschaft einen nicht geringen Anteil. Und den wird uns niemand nehmen können.



Warum bin ich zu Mahnwachen gegangen und warum habe ich diesen kleinen Aufsatz geschrieben?

Heute ist der Begriff „Patriot“ kompromittiert. Für zahlreiche Menschen ist der russische Patriotismus gleichbedeutend mit Imperialismus geworden. Aber für mich und für viele meiner Freunde ist das nicht so. Für mich ist Patriotismus in erster Linie nicht Stolz auf das eigene Land, sondern die brennende Scham für die Verbrechen, die in seinem Namen begangen werden. Wie wir uns während des Ersten und Zweiten Tschetschenienkrieges schämten, so schämen wir uns jetzt für das, was Bürger meines Landes im Namen Russlands in der Ukraine tun.
Der deutsche Philosoph Karl Jaspers verfasste 1946 einen Aufsatz: „Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands.“ In diesem Traktat https://jaspers-stiftung.ch/de/karl-jaspers/die-schuldfrage sprach er im Hinblick auf die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von vier Schuldbegriffen, er nannte die kriminelle, die politische, die moralische und die metaphysische Schuld. Nach meiner Auffassung entsprechen die dort dargelegten Gedanken durchaus der heutigen Situation in Bezug auf uns – die Bürger Russlands der Zwanziger Jahre im 21. Jahrhundert.

Ich werde jetzt nicht von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sprechen. Wer Verbrechen begangen hat, wird dafür entweder bestraft oder eben nicht. Aber die Zukunft des heutigen Russlands (ähnlich der Zukunft Deutschlands im Jahre 1946) hängt in bedeutendem Maße davon ab, ob wir alle ohne Ausnahme bereit sind, nicht über eine fremde, sondern über die eigene Schuld nachzudenken. Hier ein Zitat aus Jaspers‘ Text: 

„Jener Satz: »Das ist eure Schuld« kann bedeuten: Ihr haftet für die Taten des Regimes, das ihr geduldet habt – hier handelt es sich um unsere politische Schuld.
Es ist eure Schuld, dass ihr darüber hinaus dies Regime unterstützt und mitgemacht habt – darin liegt unsere moralische Schuld.
Es ist eure Schuld, dass ihr untätig dabei standet, wenn die Verbrechen getan wurden – da deutet sich eine meta­physische Schuld an.“

Meiner Meinung nach müssen Menschen, die ihre Heimat lieben, sich Gedanken darüber machen, was mit ihrem Land geschieht, dem sie sich unlösbar verbunden fühlen. Sie denken zwangsläufig auch an ihre eigene Verantwortung für das, was vorgeht. Sie werden notwendig auch versuchen, ihre Gedanken mit anderen zu teilen. Mitunter muss man hierfür einen gewissen Preis zahlen.

Und eben das habe ich versucht.

Ich bringe noch ein weiteres Zitat. Diesmal aus einer offiziellen Erklärung vom 22. März dieses Jahres.
„Russland und China rufen alle Länder dazu auf, allgemeine menschliche Werte wie Frieden, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit zu fördern, einen Dialog zu führen und sich nicht auf eine Konfrontation einzulassen.“

Das wird im Namen eines Staates erklärt, der seine Truppen in sein Nachbarland, die Ukraine, hat einmarschieren lassen, deren territoriale Integrität er vor langer Zeit bereits anerkannt hatte. Im Namen eines Staates, der dort einen Krieg führt, der von einer absoluten Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten als Aggression eingestuft wird.
Es wird im Namen eines Staates erklärt, in dem alle Freiheiten unterdrückt werden, in dem in kürzester Frist Gesetze verabschiedet werden und generell zur Anwendung kommen, die in direktem Widerspruch zur geltenden Verfassung stehen und die jegliche kritische Äußerung zu einem Verbrechen deklarieren. Dazu gehört auch jenes Gesetz, auf dessen Grundlage Sie mich jetzt verurteilen.

„Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei“, und die „russischen Truppen in der Ukraine unterstützen den internationalen Frieden und die Sicherheit“.
Verehrtes Gericht, ist es denn nicht offensichtlich, dass wir alle, Sie und ich – uns in der Welt George Orwells befinden, in seinem Roman „1984“?

Das ist eine erstaunliche Zeitschleife!

In der realen Geschichte, nicht in der Literatur, war das auf 1984 folgende Jahr eben das Jahr, in dem die Veränderungen in der UdSSR begannen. Die Perestrojka, dann die demokratische Revolution 1991. Damals schienen diese Veränderungen unumkehrbar.
Und jetzt sind wir nach etwas über dreißig Jahren wieder im Jahre 1984 gelandet.

Bisher gibt es im russischen Strafgesetzbuch noch nicht den Begriff des „Gedankenverbrechens“. Noch werden Bürger nicht bestraft, wenn sie bezweifeln, dass die staatliche Politik richtig sei, sofern sie diesen Zweifel flüsternd in der eigenen Wohnung zum Ausdruck bringen. Auch ein unpassender Gesichtsausdruck steht nicht unter Strafe. Noch nicht….
Aber wenn man so einen Zweifel außerhalb seiner Wohnung äußert, kann das eine Denunziation und eine Bestrafung zur Folge haben. „Falsche“ Farben in der Kleidung sind bereits strafbar. Umso mehr jedoch eine öffentlich geäußerte Einschätzung, die vom offiziellen Standpunkt abweicht. Strafbar ist die Wiedergabe der Position internationaler Organisationen. Strafbar ist es, den geringsten Zweifel an der Zuverlässigkeit der offiziellen Berichte des Verteidigungsministeriums zum Ausdruck zu bringen.

Unter diesen Umständen wird man zweifellos in Zukunft ein neues Gesetz verabschieden – über die Strafbarkeit von Gedankenverbrechen.
Bisher werden in Russland noch keine Bücher auf öffentlichen Plätzen verbrannt. Aber Bücher von Autoren, die den Machthabern nicht genehm sind, werden bereits mit dem diffamierenden Etikett „ausländischer Agent“ versehen, in Buchhandlungen werden sie in den hinteren Regalen platziert, und in Bibliotheken werden sie den Lesern fast nur noch insgeheim ausgehändigt. Aus Theatern werden Schauspieler entlassen, die sich erlaubt haben, etwas zu sagen, was nicht zum Kurs von Partei und Regierung passte. Die große Schauspielerin Lija Achedzhakova verlor wegen ihrer politischen Einstellung die Möglichkeit, ihren Beruf auszuüben. All dies spielt sich vor dem Schweigen der Mehrheit jener ab, die man früher als „Theater-Publikum“ bezeichnete. In einem totalitären Staat darf es kein Publikum geben. Alle sollen Angst haben und schweigen.

Umso dankbarer bin ich jener Öffentlichkeit, jenen wunderbaren Menschen, die keine Angst hatten, die zu dieser Gerichtsverhandlung kamen und weiterhin zu anderen politischen Prozessen kommen werden. Mir ist das äußerst wichtig. Vielen Dank!

Jetzt geschieht etwas, was man sich in Russland noch vor kurzem nicht hätte vorstellen können – wie z. B. die Verhaftung der Regisseurin Zhenja Berkovitsch und der Dramaturgin Svetlana Petrejtschuk. Wofür? Für ein Theaterstück, das sich Gedanken über die Ursachen macht, durch die mitunter junge Frauen in die Netze von Terrororganisationen getrieben wurden.
Das Regime, das sich in Russland etabliert hat, bedarf keiner Menschen, die nachdenken. Es bedarf nur schlichter, nicht einmal artikulierter Aussagen, die lediglich das unterstützen, was die Machthaber gerade als wahr verkünden. Der Staat kontrolliert nicht nur das öffentliche, politische und wirtschaftliche Leben im Land, er beansprucht auch die vollständige Kontrolle über die Kultur und dringt ins Privatleben ein. Er wird allmählich allumfassend. Diese Tendenz zeigte sich nicht erst am 24. Februar des letzten Jahres, sondern schon vorher. Der Krieg hat diesen Prozess lediglich beschleunigt.

Wie ist mein Land, das aus dem kommunistischen Totalitarismus herausgekommen war, in den neuen Totalitarismus hineingeraten? Wie kann man diesen Typ des Totalitarismus bezeichnen? Wer trägt dafür die Verantwortung?

Diese Fragen behandelt eben mein kleiner Aufsatz, für den ich heute vor Gericht stehe.

Manche Menschen werden natürlich sagen: Was soll man machen, Gesetz ist Gesetz. Ein Gesetz wurde beschlossen, jetzt muss es eingehalten werden.
1935 wurden in Deutschland die so genannten Nürnberger Gesetze beschlossen. Und nach dem Sieg 1945 wurden die dafür Verantwortlichen vor Gericht gestellt.

Ich bin nicht ganz sicher, dass die heutigen russischen Verantwortlichen für diese widerrechtlichen, der Verfassung widersprechenden Gesetze selbst dafür zur Verantwortung gezogen werden. Aber eine Strafe wird es unbedingt geben. Ihre Kinder oder Enkel werden sich schämen zu erzählen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gearbeitet und was sie getan haben. Ebenso wird es auch jenen ergehen, die jetzt Befehlen folgen und Verbrechen in der Ukraine begehen. In meinen Augen ist das die schlimmste Bestrafung. Und sie ist unausweichlich.
Eine Bestrafung meiner Person ist ebenso unausweichlich, weil unter den derzeitigen Umständen ein Freispruch bei dieser Anklage unmöglich ist.
Wir werden bald sehen, wie es ausfällt.

Aber nicht umsonst habe ich bereits in den 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts an einem Gesetz des neuen Russland mitgewirkt: „Zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“. Und in einem freien Russland der Zukunft wird dieses Gesetz ergänzt und überarbeitet werden, um alle derzeitigen politischen Gefangenen, alle aus politischen Gründen Verurteilten einzuschließen, einschließlich der Personen, die wegen ihrer Positionierung gegen den Krieg verurteilt wurden.

11. Oktober / 31. Oktober 2023

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