Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 22. bis 28. August 2023

 

Die Stadt spricht

 
Am 24. August wurde Vitalij Jermischin von einem Mitarbeiter des Sicherheitspersonals des Moskauer Einkaufszentrums RIO verprügelt, nachdem er mit Kreide folgendes Zitat Majakovskijs auf den Asphalt geschrieben hatte: „Krieg – ist ein Stankwind von Leichen gesäugt, Krieg – die Fabrik, die Bettler erzeugt!“ Wie seine Ehefrau berichtete, trat man ihn in den Bauch und schlug ihm mit Fäusten auf den Kopf. Als sie versuchte, sich für ihren Mann einzusetzen, wurde sie ebenfalls derart auf den Kopf geschlagen, dass sie zu Boden fiel. Das Ehepaar rief die Polizei, diese allerdings nahm Vitalij fest. Er wurde der Gewaltanwendung gegen einen Polizisten beschuldigt und unter Hausarrest gestellt.


Anonyme Aktivisten aus Jekaterinburg haben auf Wänden, Säulen und Bänken in der Stadt eine Vielzahl von Aufschriften und Flugblättern hinterlassen, mit dem Vorschlag, den wegen Kriegsverbrechen angeklagten Vladimir Putin nach Den Haag zu schicken. Das schreibt „Vidimyj Protest“ [Sichtbarer Protest].

 

 

Einzelkundgebungen und Demonstrationen 

Am 20. August wurde im Zentrum von Moskau Tejmuraz Kordzaija während einer Einzelkundgebung mit dem Plakat „Freiheit für das russische Volk! Frieden für die Ukraine!“ festgenommen.

Am 21. August wurde in Perm Aleksej festgenommen, der am „Denkmal des Helden der Front und des Hinterlandes“ ein Plakat mit der Anti-Kriegsaufschrift „Ich brauche keinen Krieg! Das sind die Worte eines echten Kerls“ hochgehalten hatte. Nach der Festnahme wurde ein Protokoll gegen ihn aufgenommen wegen „Diskreditierung der Armee“.



Am 22. August wurde in Tscheljabinsk Aleksej Schachovitsch festgenommen, der eine Einzelkundgebung mit dem Plakat „Nein zu dem verbrecherischen Krieg“ abgehalten hatte. Gegen den Demonstranten wurde ein Protokoll wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ aufgenommen, danach setzte man ihn wieder auf freien Fuß.

 


Iljas Gamsajev aus Machatschkala wurde zu einer Geldstrafe von 15.000 Rubeln (1 monatl. Mindestlohn) verurteilt, weil er eine Einzelkundgebung abgehalten hatte mit dem Plakat „Freiheit für Navalnyj! Nein zu den Repressionen! Nein zum Krieg!“ Der Mann wurde der „Diskreditierung der russischen Armee“ für schuldig befunden. Gamzajev hatte die Kundgebung am 20. August durchgeführt, dem dritten Jahrestag von Navalnys Vergiftung.  

„1,5 Jahre sinnloser und schändlicher Krieg“, mit diesem Plakat wurde in Moskau auf dem Manege-Platz Oksana Osadtschaja festgenommen. Sie ist vollständig blind. Zusammen mit ihr wurde ihre Bekannte Ljubov Lukaschenko festgenommen, die die Aktion fotografiert hatte. Gegen beide wurde ein Protokoll wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ sowie „Teilnahme an einer nicht-genehmigten öffentlichen Aktion“ erstellt. Die Polizisten nahmen einer der Festgenommenen auch Abzeichen ab mit den Aufschriften „Freiheit für Politische Gefangene“ und „Nein zum Krieg“.
Osadtschaja berichtet von ihrer Festnahme in ihrem Telegram-Kanal: „Die Polizei dachte, ich wüsste nicht, was auf dem Plakat steht. Aber ich sagte ihnen, ich könne es kaum nicht wissen, weil ich die Autorin des Textes sei. Dann hörte ich aus ihrem Geflüster, wie einer zu dem anderen sagte: 'Jetzt stellen sie auch schon Blinde hin.' Als könnte ein Mensch nicht selbst entscheiden, seine Meinung über das Geschehen zu äußern und wüsste nicht, was er tut. In Russland ist die Gesellschaft noch weit davon entfernt, Menschen mit Behinderung und Menschen allgemein in ihrer Subjektivität zu verstehen.“

 

Am 24. August wurde in Moskau Aleksandr Mitjurev festgenommen, als er an der Stele „Odessa“ im Alexandergarten Blumen niederlegte.

„Tod für Putin“, „Nein zum Krieg“, „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden“ und „Putin ist ein Verbrecher“, wegen dieser Ausrufe wurde Roman Musykin aus der Region Krasnodar für 24 Stunden verhaftet. Das Gericht ist der Meinung, dass diese Sätze „nachgewiesene Attribute der Begrüßung der extremistischen Organisation „UNA-UNSO“ sowie der ukrainischen Organisation „Rechter Sektor“ sind.

Am 24. August führte der Rentner Aleksandr Pravdin aus der Siedlung Siverskij im Gebiet Leningrad eine Einzelkundgebung am Ufer des Flusses Oredezh durch mit dem Plakat „1,5 Jahre seit Beginn der 'SVO'“, um die Urlauber daran zu erinnern, dass der Krieg in der Ukraine genau jetzt im Moment weitergeführt wird.

 

Sabotage

Am 26. August ging Ivan Semenov in St. Petersburg mit zwei Molotow-Cocktails zum Rekrutierungspunkt für Vertragssoldaten, der sich im Admiraltejskij-Viertel befindet, zündete sie an und warf sie in das Fenster, woraufhin er festgenommen wurde. Ivan wurde in Untersuchungshaft gebracht und seine Tat als Terrorakt eingestuft.

Verfolgungen

Sicherheitskräfte nahmen einer Frau, die sich gegen den Krieg ausspricht, das Auto wegen einer „die Streitkräfte der Russischen Föderation diskreditierenden Aufschrift“ ab. Das Auto wurde beschlagnahmt, die Frau selbst festgenommen. Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um die 50-jährige Natalja Kuklina aus Petrosavodsk , gegen die bereits schon einmal ein Strafverfahren wegen „wiederholter Diskreditierung der russischen Armee“ eingeleitet worden war.

Dem Gericht in Naltschik wurde ein Strafverfahren gegen Batyr Zhabojev wegen „Diskreditierung der Armee“ übergeben. Nach Informationen des Telegram-Kanals ASTRA wird der Mann wegen der Veröffentlichung eines Videos bei Instagram angeklagt, in dem von Tötungen der Zivilbevölkerung Tschetscheniens und der Ukraine durch die russische Armee die Rede ist. Nach Angaben der Ermittler bezeichnete Zhabojev die Handlungen der Armee als „faschistisch und expansiv“.

Dmitrij Paksejev aus Pervouralsk wird wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ angeklagt. Folgenden Kommentar setzte er unter einen Post über die Sammlung humanitärer Güter für die russischen Soldaten in der Gruppe „Untypischer Pervouraler“ bei VKontakte: „Es ist eine Schande. Vor einem Jahr gingen sie zum Kämpfen in ein anderes Land, töteten dort friedliche Bewohner für nichts und jetzt – sammeln wir Schaufeln für die Verteidigung des Vaterlandes, schicken Steuergelder nach Tula und stellen Flugabwehrkanonen in Moskau auf. Und die ganze Post ist mit Todesmeldungen übersät. Wofür das alles?“, schrieb Paksejev.

Jelena Abramova aus St. Petersburg wurden als Präventivmaßnahme im Rahmen eines Verfahrens wegen „wiederholter Diskreditierung der Armee“ bestimmte Handlungen untersagt. Der Prozess gegen Abramova wurde aufgrund einer Aktion am 4. Juni eingeleitet, bei der sie sich mit dem Plakat „Freiheit für Navalnyj! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Nein zum Krieg!“ an das Kaufhaus „Gostinyj Dvor“ stellte.

Julija Sacharova aus St. Petersburg wurde wegen eines grünen Bändchens mit der Aufschrift „Nein zum Krieg“ zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln (2 monatl. Mindestlöhne) verurteilt. Das Protokoll gegen die junge Frau wegen „Diskreditierung der Armee“ war am 4. Juni erstellt worden. Sie hatte am Kaufhaus zur Unterstützung von Aleksej Navalnyj, der an diesem Tag Geburtstag hatte, eine Einzelkundgebung abgehalten. Die Polizei hatte diese Aktion nicht gesehen, sondern Zacharova wegen einer Routineüberprüfung der Dokumente angehalten. Dabei bemerkten sie die grünen Bändchen mit der Aufschrift „Nein zum Krieg“ im Rucksack und am Handgelenk Zacharovas. Daraufhin wurde sie festgenommen und zur Polizeiwache gebracht, wo man ein Protokoll gegen sie aufnahm.

Die Untersuchungshaft der baschkirischen Aktivistin Ramila Saitova im Rahmen eines Verfahrens wegen „Aufrufen gegen die Sicherheit des Staates“ wurde erneut verlängert. Saitova bleibt weitere zwei Monate in Haft. Sie wird angeklagt wegen eines Videos bei Youtube, in dem die Frau an Mobilisierte appelliert, sich zu weigern an Kampfhandlungen teilzunehmen, zu erklären, dass sie nicht töten wollen und zu desertieren. 

Am 21. August brachte man Nikolaj Borissov direkt aus dem Gerichtsgebäude zur Polizeiwache, dieses Mal wegen seines T-Shirts „Ich bin gegen den Krieg“, in dem er zu seiner Verhandlung in einer Verwaltungsstrafsache gekommen war. Bei Gericht war Borissov wegen einer Einzelkundgebung, die er im Juli durchgeführt hatte, zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln (2 monatl. Mindestlöhne) verurteilt worden.

Pater Johannes Koval, der im Gebet das Wort „Sieg“ durch „Frieden“ ersetzt hatte, wurde endgültig seines Amtes in der Russisch Orthodoxen Kirche enthoben. Koval war von Gemeindemitgliedern angezeigt worden, die mit der Änderung des Wortes unzufrieden waren, seit Februar war er von seinem Amt suspendiert. Die Entscheidung des Kirchengerichts vom Mai zur Aberkennung seines Amtes wurde am 18. August von Patriarch Kirill bestätigt. Dabei hatte der Heilige Synod der Kirche von Konstantinopel noch Ende Juni die Entscheidung als politisch motiviert bezeichnet und unter Anwendung der Jurisdiktion des Patriarchats von Konstantinopel Koval wieder in sein Amt eingesetzt.

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

13. November 2023

 

 

 

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