Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 10.09.2023 – 16.09.2023


„Wir wählen euch nicht.“

Eines der wichtigsten Ergebnisse vorangegangener Wahlen war ihre Nutzung zu Anti-Kriegszwecken. In vielen Regionen Russlands wurden die Wahlzettel für politische Aussagen genutzt. Die Menschen schrieben Anti-Kriegsparolen darauf, riefen auf, die Truppen aus der Ukraine abzuziehen, die Mobilisierten nach Hause zurückzubringen und forderten die Befreiung politischer Gefangener. Besonders aktiv teilten die Bewohner von Omsk sowie der Gebiete Kemerovo, Voronezh und Sverdlovsk Fotos ihrer Aufschriften auf den Wahlzetteln. Diese Art des Protests wurde inspiriert durch das zivilgesellschaftliche Projekt „Stimmen dagegen“, das dazu aufgerufen hatte, alle noch verbliebenen legalen und ungefährlichen Wege zu nutzen, um seine Ablehnung gegen die Politik der derzeitigen Regierung zum Ausdruck zu bringen.

 

Die Stadt spricht

Die Anti-Kriegs-Agitationen auf den Straßen Russlands gehen weiter. Diese Fotos wurden aufgenommen in Ivanovo, Rostov am Don, St. Petersburg, Moskau und Togliatti. 


[in etwa] „Fick den Krieg!“ und „Orwell. Krieg ist Frieden“

 

Fotografien aus Krasnojarsk, Rostov am Don, Mytischtschi, aus den Gebieten Dzerzhinskij und Moskau:

[in etwa] „Putin geh' zum Arsch“, „Genug Blut!“

 

Einzelkundgebungen und Demonstrationen

Im August und im September hatte das Paar Ivanka Rudovskaja und Anton Malychin auf dem Roten Platz eine Einzelkundgebung mit dem Plakat „Nein zum Krieg“ sowie die Aktion „Umarme mich, wenn du gegen den Krieg bist“ durchgeführt. Dafür wurde das Ehepaar zu einer Geldstrafe verurteilt. Anton wurde außerdem zu 30 Stunden Besserungsarbeit verurteilt, Ivanka zwei Wochen vor ihrem Abschluss aus dem Institut verwiesen.

In St. Petersburg gingen Marina Zagorodneva und Vitalij Joffe auf die Straße, um eine Einzelkundgebung gegen den Krieg und zur Unterstützung politischer Häftlinge abzuhalten. Ort der Aktion sollte ein Agitationszelt sein, an dem Menschen für den Vertragswehrdienst rekrutiert wurden. Die Aktivisten wurden festgenommen - formaler Grund war ein obszönes Wort auf ihrem Plakat.

„Jeder Moment – eine Überdosis für den ganzen Rest der noch verbliebenen Zeit.“ Diese Zeile aus dem Werk von Jegor Letov war die Parole einer Einzelkundgebung, die Aleksandr Pravdin, Aktivist aus dem Ort Siverskij im Gebiet Leningrad, abhielt. Die Verwendung des Zitats ist eine Anspielung auf die „Überdosis“ militärischer Propaganda im heutigen Russland, vermuten einige anonyme Aktivisten.

Nikolaj Borissov aus Voronezh wurde zweimal wegen Anti-Kriegsparolen festgenommen. Am 11. September wegen eines T-Shirts mit der Aufschrift „Ich bin gegen den Krieg“, das der Aktivist bei einer Gerichtsverhandlung (ebenfalls wegen „Diskreditierung“) getragen hatte. Nachdem Borissov wieder auf freien Fuß gesetzt worden war, hielt er eine Einzelkundgebung ab mit dem Plakat „Make love, not war“, wonach er unmittelbar wieder festgenommen wurde.

Svetlana Belova, Journalistin aus Samara, die über Verwandte von Mobilisierten und deren Appelle an die Behörden geschrieben hatte, wurde von der Polizei festgenommen.

Der Aktivist Aleksandr Schachov hat mit einem Plakat „Ich bin gegen den Krieg“ in St. Petersburg auf dem Palast-Platz eine Einzelkundgebung durchgeführt. Zunächst drohte man ihm mit einem Verwaltungsstrafverfahren wegen „Verletzung der Sicherheit während der Pandemie“, wandte aber später den „üblicheren“ Paragraphen „Diskreditierung“ der Armee an.

 

Der Aktivist Iljas Syrtlanov, der sich mit dem Plakat „Der Krieg macht uns arm und die Oligarchen reicher. Nein zum Krieg“, auf die Straße begeben hatte, wurde in Moskau auf dem Puschkin-Platz von der Polizei festgenommen.


Sabotage

Ivan Gavrilenko, 38-jähriger Einwohner von Orjol, der beschuldigt wird, im Juli einen Relaisschrank an der Eisenbahnstrecke Orjol-2-Kromskaja in Brand gesetzt zu haben, wurde festgenommen. Der Schrank war damals ausgebrannt und ein Strafverfahren wegen vorsätzlicher Zerstörung von Eigentum eingeleitet worden.


Verfolgungen

Die Kunstschuldozentin Darja Sergejeva wurde in Abwesenheit verhaftet. Sie wird in einem Strafverfahren wegen „Diskreditierung“ der Armee“ (280.3 Teil 1 StGB RF) verfolgt, weil sie Anti-Kriegsaktionen durchgeführt hat. Am 24. Februar brachte die Frau Nelken an ein Denkmal sowie ein Plakat mit Porträts von getöteten Ukrainern und der Aufschrift „So viele Sünden kann man nicht abwaschen, dazu reichen die Gebete nicht.“

 

Der minderjährige Bewohner Vladivostoks D. „hat eine negative Haltung zur Militärischen Spezialoperation“ sowie „Abneigung und Feindseligkeit gegen die derzeitigen Machthaber der RF“ gezeigt. Nach Ansicht der Ermittler war dies ausreichender Grund für eine Unterbringung in Untersuchungshaft wegen des Verdachts „ein Rekrutierungsamt in Brand setzen zu wollen.“  Ihm wird der Prozess gemacht gemäß dem Paragraphen über „Ausbildung mit dem Ziel der Durchführung terroristischer Aktionen“, der eine Freiheitsstrafe von 15 bis 20 Jahren oder eine lebenslange Strafe vorsieht.

Der Regisseur Artjom Burlov, der sich gegen den Krieg ausspricht, wurde zu 100.000 Rubeln (ca. 6 monatl. Mindestlöhne) Geldstrafe verurteilt wegen Posts über „die Flucht“ von Angehörigen des Kulturministers von Burjatien vor der „Mobilisierung“. Das Gericht sieht darin den Tatbestand der Verleumdung.

 

Online-Protest

In Kazan wurde die muslimische Bloggerin Parvina (Parvinachan) Abuzarova zu drei Jahren Straflager (Art. 280.4, Absatz v, Teil 2) verurteilt, weil sie in den sozialen Netzwerken die „russischen Soldaten, die an der 'Militärischen Spezialoperation' in der Ukraine teilnehmen, dazu aufgerufen hatte, zu desertieren.“

Die Website des Studentenmediums „Groza“, das in letzter Zeit eine Reihe aufsehenerregender Texte über den Druck auf politisch aktive Studenten und über militaristische Propaganda an russischen Universitäten veröffentlicht hatte, wurde von Roskomnadzor gesperrt. Die Redakteure des Projekts erfuhren davon zufällig von einem ihrer Abonnenten.

Ein Einwohner von Kansk wurde wegen „Aufrufs zu Terrorismus und Extremismus“ zu sieben Jahren Lagerhaft unter besonderem Regime verurteilt. Grund waren Beiträge bei Odnoklassniki [Klassenkameraden], in denen der Angeklagte nach Angaben der Spezialdienste „Aufrufe zur Begehung von Gewalttaten gegen die russische Bevölkerung sowie zur Sprengung der Krimbrücke“ verbreitete. Der Name des Verurteilten wird auf der Website des Gerichts verborgen.

Svetlana Machnorylova, Seniorin aus Verchnij Tagil im Gebiet Sverdlovsk, wurde wegen Posts gegen den Krieg für 10 Tage inhaftiert. Im letzten halben Jahr wurde Machnorylova bereits dreimal aufgrund ihrer Posts zu Geldstrafen verurteilt – wegen „Aufstachelung zum Hass“ sowie „Diskreditierung“ der russischen Armee. Insgesamt erhielt sie Geldstrafen in Höhe von 38.000 Rubeln (2,4 monatl. Mindestlöhne).

Julija Gladilina, Krankenschwester aus Kursk, die sich in sozialen Netzwerken negativ über die russische Armee geäußert hat, wurde zu einer Geldstrafe von 40.000 Rubeln (2,5 monatl. Mindestlöhne) verurteilt. Nach ihrer Festnahme tauchte im Internet ein Video mit einer Entschuldigung der Frau auf. Darin erklärt die Krankenschwester, dass sie den Krieg in der Ukraine angeblich „vollständig unterstützt“.

 

Sonstiges

Bewohner des Gebiets Jaroslavl fordern von den Behörden die Dienstfristen für Mobilisierte festzulegen. Mehr als 100 Frauen haben den Gouverneur von Jaroslavl aufgerufen, dafür zu sorgen, dass die Behörden die Dauer des Dienstes von Mobilisierten gesetzlich regeln.


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


19. November 2023

 

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