Leonyd Remyha - ein Arzt aus Cherson


Serhij Okunjev

Leonyd Remyha leitete zu Beginn der großangelegten Invasion eines der Krankenhäuser in der Stadt Cherson. Weil er sich weigerte, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten, landete der Chefarzt in einer Folterkammer der Russen.

Ich erinnere mich, wie mich morgens um sechs ein Kamerad aus dem Bezirk Henitschesk anrief und sagte, dass die Tschongarski-Brücke und die Stadt Henitschesk bombardiert werden. Uns war klar, dass wir etwas tun müssen. Wir waren verzweifelt, berieten uns mit der Familie. Die Nachbarn begannen auch, nervös zu werden: Alle hörten Radio. Ich fuhr zur Arbeit, wie üblich. Auf der Arbeit versammelten sich alle Mitarbeitenden und fingen ebenfalls an, Nachrichten zu hören. Wir wussten schon, dass Kyjiv, Charkiv und andere Städte bombardiert werden. Wir verstanden, dass wir arbeiten und auf irgendwelche offizielle Meldungen warten müssen.

Zum Video-Interview: https://www.youtube.com/watch?v=jKuWmzVpOZI

Es war bekannt, dass einige Strafverfolgungsbehörden und Einrichtungen, die unsere Sicherheit gewährleisten sollten, aus der Stadt verschwunden und wir auf uns allein gestellt waren. Sie (die Russen) zogen irgendwann am 1. März in Cherson ein. Und am 6. oder 7. März waren sie schon auf dem Gelände des Krankenhauses. Sie verlangten mit mir als Leiter [des Krankenhauses] ein Treffen.

„Sie müssen einen Teil der Räumlichkeiten räumen. Die Befehlshaber der Russischen Föderation haben die Entscheidung getroffen, hier ein Militärhospital für Russen einzurichten.“ Ich sagte ihnen, dass das unmöglich sei: Wir können keine Kinder, Menschen, andere Patienten wegbringen. Wir logen, dass bei uns COVID wütet. Dann tauchten russische FSB-Mitarbeiter in Ziviluniformen auf: Vertreter der russischen Spezialdienste, die anfingen, die Mitarbeiter und mich zu bearbeiten und versuchten, uns zur Mitarbeit zu bewegen. Es gab etwa drei solcher Treffen. Das war am Abend vor dem 9. Mai. Sie brachten uns die [Zeitung] „Komsomolskaja Pravda“, damit wir die unter den Ärzten und Patienten verteilen. Ich sagte: „Gut, lasst sie hier, wir werden das alles machen.“ Am Abend haben wir die Zeitungen dann vernichtet (verbrannt) und irgendwie haben sie davon erfahren. Das heißt, irgendjemand hatte diese Sache berichtet. Es gab noch einen Vorfall: Wir versteckten unsere Jungs von der Territorialverteidigung. Ein Teil kam um, ein Teil wurde in unserem Fliederpark verwundet.

Verstehe ich es richtig, dass sie unbewaffnet waren?

Wissen Sie, zum Teil waren sie bewaffnet. Sie brachten Verwundete zu uns: vier oder fünf Männer. Wir verlegten zwei von ihnen in Spezialeinrichtungen. Aber sie hatten Maschinengewehre. Ich meine damit, dass sie Maschinengewehre gegen Panzer hatten. Wir registrierten sie sofort als Zivilisten, als dann die FSB-Mitarbeiter eine Dokumentation verlangten, dass sie von der Territorialverteidigung sind, kamen deshalb Ärzte und schauten sich die Krankenakten an. Da stand aber, dass das Zivilisten sind, die durch Beschuss verletzt wurden. Davon erfuhr der FSB auch irgendwie und sie beschuldigten mich, dass ich ein Anhänger der pro-ukrainischen Position sei und den russischen Machthabern Widerstand entgegenbringen würde. Das wäre ein Grund gewesen, mich zu beseitigen. Aber sie forderten von mir, dass ich die ukrainische Flagge auf dem Gebäude abnehme.

War die irgendwo auf dem Dach?

Sie war auf dem Dach, ja. Vor der Aufnahmestation hing bei uns eine ukrainische Flagge und er (der Russe) hatte sie bemerkt. Er schaltete die Kamera seines Mobiltelefons ein und gab mir den Befehl, die Flagge abzunehmen. Ich sagte, dass ich das nicht tun würde, er könne einen Soldaten rufen und sonst was mit mir machen, aber ich würde das nicht tun. Er schaute mich irgendwie komisch an und sagte: „Na gut, du riskierst dein Leben ganz schön. Hast du denn etwa keine Angehörigen?“ Ich antwortete, dass ich Angehörige habe, aber das nicht tun werde. Er war einverstanden und sagte, er würde um fünf Uhr (das war morgens) kommen und dann wolle er sehen, dass die Flagge weg ist. Aber die Flagge hing bis zum 7. Juni, solange bis ich von meinen Verpflichtungen entbunden wurde.


Leonid Remyha, Chefarzt der K3 „Städtischen Klinik A. und O. Tropinych-Krankenhaus Cherson“


Wieder tauchten bewaffnete FSB-Mitarbeiter auf. Diesmal mit Vertretern der kollaborierenden Behörden, die zu dieser Zeit in der Stadt Cherson eingesetzt worden waren. Das waren Vertreter von Saldo und seine von ihm ernannten Helfershelfer. Sie kamen und sagten: „Entweder unterschreibst du ein Papier, dass du mit uns zusammenarbeitest oder du verschwindest. Für deine pro-ukrainische Haltung, dafür, dass du Zeitungen verbrannt hast und gegen die russischen Behörden bist, werden wir dich verhaften.“ Und ich wurde auf der Stelle suspendiert. Mir wurde schlecht, mein Blutdruck stieg. Meine Ärzte, die dabei waren, versuchten, sie zu überreden: „Was macht ihr denn? Er bekommt gleich einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Lasst ihn uns ins Krankenhaus legen.“ Sie stimmten zu und eskortierten mich in unser Krankenhaus.

Hat man versucht, Sie zuhause festzunehmen und nicht im Krankenhaus?

Nein, das war im Krankenhaus, in meinem Arbeitszimmer. Sie beriefen eine Versammlung ein und sagten, dass sie mich suspendieren, verhaften und nach Perekopska bringen, dort gab es ein Haftzentrum. Aber meine Ärzte und Stellvertreter, die zu dem Zeitpunkt bei mir waren, traten für mich ein und sagten, dass ich ein kranker Mann sei. Mein Blutdruck war wirklich sehr hoch. Unter ihnen war ein russischer Arzt, soweit ich verstand keiner unserer Kollaborateure, sondern tatsächlich ein russischer Arzt. Er gab den Befehl, mich ins Krankenhaus zu legen und dann weiterzusehen. Es wurden Kollaborateure ernannt, die die Registrierung des Krankenhauses nach russischen Gesetzen durchführten. Sie verboten, auf Ukrainisch zu kommunizieren, zwangen uns Dokumentationen nur auf Russisch vorzunehmen. Das alles wurde unter Zwang durchgesetzt, unter Kontrolle des FSB, der fast den ganzen Tag hier war und die Aktivitäten im Krankenhaus kontrollierte, sowohl die finanziellen als auch die klinischen, die organisatorischen und verwaltungstechnischen. Alles war unter Kontrolle des FSB. Während ich im Krankenhaus war, wurde ich überwacht. Irgendwann verstand ich, dass sie rotierten: Die einen fuhren weg, andere kamen mit ihrem ganzen Zeug. Sie machten sich mit allem vertraut und als ich das verstand, war ich auch schon aus dem Krankenhaus geflüchtet.


Städtisches A. und O. Tropinych-Krankenhaus Cherson. Foto: Stadtverwaltung Cherson


Ich lief weg und versteckte mich in Cherson, in Oleschky und in anderen Städten. Ich wusste, dass sie nach mir fahndeten, weil meine Wohnung aufgebrochen worden war. Sie nahmen die Dinge und Dokumente mit, die dort waren.

Sie hatten die Garage aufgebrochen und dort auch einige Sachen mitgenommen. Ich erfuhr, dass sie mich suchten. Ich versteckte mich, solange ich konnte, aber am 20. September haben sich mich trotzdem auf der Straße aufgegriffen. Sie verbanden mir die Augen, zogen eine Person hinzu, die mich kannte und bestätigte, dass ich das bin: Remyha so und so, arbeitet bei so und so. Das geschah unter Begleitung eines Konvois, das waren fünf oder sechs bewaffnete Soldaten und drei FSB-Mitarbeiter, alle trugen Tarnanzüge. Als sie mir die Augen verbanden, war mir klar, dass sie mich zur Untersuchungshaft bringen, denn ich kenne mich in Cherson sehr gut aus. So war es dann auch. In der Untersuchungshaft nahmen sie eine Registrierung vor. Nahmen mir alle Sachen ab, mein Telefon und mein Auto, ich war damals mit dem Auto unterwegs. Ein weiteres Auto beschlagnahmten sie vom Parkplatz weg während der Verhöre. Sie haben sie bis heute nicht zurückgegeben. Tja, so sieht's aus.

Sie wurden einfach bestohlen?

Ja. Sie haben viel gestohlen, sie haben meine Wohnung ausgeraubt.

Ich war in der Zelle, mit unseren ukrainischen Jungs. Sie erkannten mich. „Weshalb haben sie dich hier reingesteckt, du bist doch Arzt.“ - „Wegen meiner Haltung.“ Dann bei den Verhören zu den Vorwürfen begriff ich, dass meine pro-ukrainische Haltung der Hauptanreiz war, mich irgendwie moralisch zu brechen. Eine pro-ukrainische Haltung, okay, gut. Aber wenn man dir sagt, dass du über das Dach des Krankenhauses gelaufen bis, Drohnen gestartet und Informationen an die ukrainischen Streitkräfte weitergegeben hast?

Hat man Ihnen das gesagt?

Ja, dass mein Sohn im Bürgermeisteramt arbeitet, den „Rechten Sektor“ sponsert und für die Ukrainischen Armee Geld abzweigt. Dass ich an einem Attentat auf unsere Kollaborateure beteiligt war. Und so weiter. Wissen Sie, sie mussten meine Schuld unbedingt nachweisen, offenbar damit sie das irgendwo ihren Vorgesetzten melden konnten. In der Zelle dort waren viele verschiedene Menschen. Ich habe sie getroffen, mit ihnen geredet und festgestellt, dass das standhafte Menschen sind. Sie sind wirklich patriotisch eingestellte Menschen, die die Unabhängigkeit der Ukraine verteidigt hatten. Da waren ATO-Angehörige [Angehörigen der Antiterror-Einheiten in der Ostukraine] und Soldaten der Ukrainischen Armee, wie sich im Gespräch herausstellte.

Viele Jungs sind dort umgekommen. Wir wussten das, wir haben alles gehört. Jeden Tag gab es Schreie, Stöhnen, Folter. Es gab dort auch Zellen für Frauen.

Ich wurde (als Arzt) dorthin gerufen, um Hilfe zu leisten. Einmal sagte der Chef des Untersuchungsgefängnisses: „Es tut mir wirklich leid, dich rauszulassen.“ Ich frage: „Und wieso?“ „Weil wir dich brauchen, du bist doch Arzt, wir können hierher keinen Krankenwagen rufen.“

Einerseits brauchten unsere Leute dort meine Hilfe wirklich. Aber auf der anderen Seite, dort zu sein, verstehen Sie, das war Folter. Meine Familie wusste nicht, wo ich bin. Es gab keinerlei Informationen, meine Mitarbeiter erfuhren erst davon, nachdem ich fast eine Woche dort war. Sie sagten zu mir: „Es gibt zwei Möglichkeiten: Wenn der Lügendetektor die Angaben nicht bestätigt, dann sind Sie frei. Wenn er sie bestätigt, gibt es zwei Möglichkeiten: Simferopol, Verhandlung oder Erschießung oder eine lange Zeit Gefängnis.“


Eine der Folterkammern in Cherson, die von den Russen zu Folterungen von Ukrainern genutzt wurden. Foto: Telegram-Kanal „Cherson: Krieg ohne Fakes“


Sie kamen am dritten des Monats und holten mich. Sie brachten mich in eine Anstalt, wo diese polygraphischen Verhöre durchgeführt werden. Dort waren Spezialisten für Polygraphie. Sie führten ein Gespräch mit mir. Und dann machten sie dieses Verhör und ich wartete danach ungefähr zehn Minuten. Sie spotteten, sagten: „Und, wieder ins Untersuchungsgefängnis, bist du bereit?“ Und ich sage: „Wie, habe ich das Recht zu wählen?“ „Ja, du hast nicht bestanden, die Vorwürfe haben sich bestätigt.“ Aber nach einer Weile kommt einer zurück zu mir und sagt: „Nicht doch, du bist frei.“ „Wie, frei?“ „Ja, raus mit dir, geh nach Hause. Komm an dem und dem Tag, dann geben wir dir deine Papiere zurück.“ Und tatsächlich, am vierten oder fünften (das war im Oktober) kam ich zum festgesetzten Termin, wartete lange und sie gaben mir meine Papiere und ein Telefon zurück. Mein zweites Telefon behielten sie. Sie sagten, dass ich nicht auf dem Gelände des Krankenhauses auftauchen sollte.

Dann begann der Evakuierungsprozess, es kamen SMS, dass die Leute sich evakuieren lassen sollen. Zu mir kamen sie irgendwann drei oder vier Tag vor der Befreiung von Cherson, das war wohl schon im November. Sie sagten mir, ich solle am 8. oder 9. an dem und dem Ort sein, mein Geld und meine Papiere mitnehmen, Verpflegung für 24 Stunden, wir würden evakuiert. Das war eine Zwangsevakuierung. Ich sagte: „Lasst uns vereinbaren, dass ich selbst in die Evakuierung fahre, wenn ihr mir mein Auto gebt, dann fahre ich mit euch mit dem Auto auf die andere Seite.“ Es gelang mir nicht, sie zu betrügen, sie sagten: „Nein, du wirst nur bei uns hieraus fahren.“ Am übernächsten Tag verschwand ich wieder.“

Meine Nachbarin sagte, dass sie zu ihr kamen und fragten, wohin ich verschwunden sei. Aber ich versteckte mich, ich wusste, dass sie jeden Moment wegfahren mussten und tatsächlich fuhren sie dann am 9. des Monats. Am 10. war es ruhig hier. Und am 11. kam unsere Ukrainische Armee. Ich sprach mit den Menschen, mit den Nachbarn, den Bekannten, wir waren sicher, das wird der Sieg sein. Als am 11. ein Auto mit ukrainischer Flagge angefahren kam, aus dem die ukrainische Hymne tönte, konnte das anfangs keiner glauben. Wir dachten, das sei irgendeine russische Inszenierung. Aber als wir runtergingen und sahen, dass die Jungs unsere Uniformen anhatten und unsere Sprache sprechen, hatten wir Tränen in den Augen. Das war echt.

Wann sind Sie ins Krankenhaus zurückgekehrt?

Ich ging am nächsten Tag ins Krankenhaus. Meine Leute empfingen mich, sie hatten die Flagge gehisst. Ich wurde von meinen Mitarbeitenden schon mit der ukrainischen Flagge begrüßt.

Wie war die Stimmung nach der Befreiung?

Das war natürlich ein Feiertag! Ein Feiertag war das!

Was geschah dann in Ihrem Krankenhaus?

Wir begrüßten und küssten uns, umarmten uns, freuten uns. Aber die Arbeit mit den Folgen (der russischen Besatzung) war anstrengend. Die Besatzer hatten uns bestohlen, einiges an Ausrüstung mitgenommen, Computer, alle Papiere. Wir mussten das alles wieder herstellen. Viele Ärzte und Personal waren gegangen. Wir mussten uns irgendwie zusammenscharen, alles aufbauen. Die Freude über den Sieg und unsere befreite Stadt hat uns vereint. Ich habe Kinder, Enkel, Familie. Leider sind meine Eltern schon verstorben. Das war ein so heimtückischer Angriff, den wir nicht erwartet hatten. Ein Teil meiner Verwandten lebte in Russland, nach 2014 hat sich die Sicht aufeinander sehr stark verändert. Ich verstand, dass wir nicht so sein können, wie sie. Meine ganze Familie war pro-ukrainisch eingestellt, obwohl meine Frau in Russland geboren ist. Sie ist pro-ukrainisch, meine Kinder und Enkel sind pro-ukrainisch. Und alle Mitarbeiter, der Teil, mit denen ich gearbeitet habe, auch. Ich habe gesehen, dass die Menschen so fest an den Sieg glauben, so fest an unsere Ukraine glauben, dass ich meine Mitarbeitenden einfach nicht verraten konnte.

Und nicht nur die Leitung, sondern auch die Ärzte in der Belegschaft?

Ja, einfach die Belegschaft. Unsere Belegschaft. Die meisten Menschen, die am linken Ufer sind, das möchte ich sagen, halten den Kontakt zum Krankenhaus. Sie warten auf die Befreiung.


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

Das Video-Interview mit Leonyd Romyha finden Sie hier.
 

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier


6. Dezember 2023

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