Digest der russischen Anti-Kriegsproteste vom 22.10. – 04.11.2023

„Das Parlament ist kein Ort für Diskussionen und keine Tribüne für politische Erklärungen.“

In St. Petersburg hat sich Boris Vischnevskij, Abgeordneter der Gesetzgebenden Versammlung von der Partei „Jabloko“ für eine Kürzung der Kriegsausgaben ausgesprochen:„Die Partei „Jabloko“ tritt für einen sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Verhandlungen ein, der vorliegende Haushaltsentwurf sieht eine Fortsetzung der Militärischen Spezialoperation und die Finanzierung …“ - Bei diesem Satz wurde Vischnevskij von anderen Abgeordneten unterbrochen, mit der in der Überschrift
wiedergegebenen Bemerkung wurde ihm das Mikrofon abgeschaltet.

Der Satz endete wie folgt: „… sieht die Finanzierung von Ausgaben, die direkt oder indirekt mit der Militärischen Spezialoperation zusammenhängen, aus dem städtischen Haushalt vor. All dies erlaubt es uns nicht, den Haushalt in erster Lesung zu unterstützen.“

 

Die Stadt spricht

Einwohner von Tscheboksary haben auf ihrer Landkarte in der App für Jogger 'Strava' ein Peace-Zeichen eingebaut. Damit das Peace-Zeichen auftaucht, haben Jogger, die diese App nutzen, spezielle Routen durch den Stadtwald-Park erstellt.

 

Figürchen mit Plakaten: „Russland für Frieden. Stoppt euren Krieg“, „Was ist denn passiert?“, „602 Tage Krieg“, „Ich will Frieden“.


Figuren des Anti-Kriegsprojekts „Malenkij Piket“ [Kleine Einzelkundgebung] sind erneut in St. Petersburg aufgetaucht, Fotos von ihnen wurden bei Instagram veröffentlicht. In den Sozialen Netzwerken kann man die Figuren unter dem Hashtag #nowar finden. Das Format dieser Aktion hat sich der Marketingspezialist Jevgenij ausgedacht. Nachdem in ganz Russland Männchen aufgetaucht waren, wurde Jevgenij verfolgt und verließ Russland.

 


In Kaluga haben unbekannte Aktivisten den Buchstaben Z auf den Straßen der Stadt übermalt oder durchgestrichen.  Einer der Aktivisten zeichnete ein Peace-Zeichen über das Z, das zum Symbol der russischen Militäraggression geworden ist. Andere verwandelten den Buchstaben in ein Zeichen, das einer Waage ähnelt.

 

Aufschriften auf Spielzeugen: „Nein zum Krieg“. Der Abzug [der Truppen] ist die Rettung“ und „Nein zum Krieg“.

In Tjumen haben unbekannte Einwohner Anti-Kriegsdemonstrationen durchgeführt, indem sie an öffentlichen Plätzen Kinderspielzeuge mit der Aufschrift „Nein zum Krieg“ hinterließen. Die Spielzeuge tauchten auch in Treppenhäusern mehrstöckiger Wohnhäuser auf sowie auf Fensterbänken in Eingangsbereichen.

 

Bewohner von Nizhnij Novgorod haben am Gebäude des FSB ein Schild mit der Abbildung eines Panzers über ein anderes Schild gehängt, das an dieser Stelle Fahrrädern die Durchfahrt untersagt: „Mit dem Fahrrad darf man nicht fahren, mit dem Panzer schon“.

 

Die Anti-Kriegsaktion „Grüne Bänder“ geht weiter. Bürger binden zum Zeichen des Protests gegen den Krieg, gegen Gewalt und Tyrannei grüne Bänder an belebte Plätze. Solche Aktionen gab es in dieser Woche in Ivanovo und in St. Petersburg.

 

Aufschriften auf den Fotos: „Nein zum Krieg. Frieden für die Slaven. Krieg dem Kreml“, „Bei uns ist es, wie es sich gehört“, „Nein zur Mobilisierung“.
Die Bewegung „Wach auf!“ hat Bilder von Graffitis veröffentlicht aus Moskau, Bratsk (Gebiet Irkutsk) und der Stadt Dzerzhinsk im Gebiet Nizhnij Novgorod.


 

Das Projekt der Bewegung „Vidimyj Protest“ [Sichtbarer Protest] veröffentlichte ebenfalls Anti-Kriegsgraffitis aus dieser Woche aus St. Petersburg.

 

 

Aufschrift auf dem Foto: „Nein zum Krieg“. Foto des Anti-Kriegsgraffitis in Moskau aus dem Telegram-Kanal „Super“.

 

Aufschriften: “, „Nein zu Pujne“ [Kunstwort aus "Putin" und "Krieg"], „Nein zur Mogilisierung“ [russ. mogila = Grab]. Aus Tjumen, Omsk, Krasnodar, Machatschkala, Kaspijsk und St. Petersburg

Aufschriften auf den Fotos: „Bringt die Soldaten nach Hause zurück“, „Freiheit für politische Gefangene“. Fotos aus St. Petersburg, Kaluga, Moskau und Tjumen.

 


In Novosibirsk wurde an eine Wand geschrieben: „In dem Land, das den Nazismus besiegt hat, wird ein Flughafen bei der Suche nach Juden demoliert. *Sie befinden sich hier.“

 

Aufschrift auf dem Foto: „Wir fordern die Befreiung aller politischen Gefangenen“.

In Omsk sind auf den Straßen Flugblätter aufgetaucht mit der Forderung, alle politischen Gefangenen freizulassen.

Einzelkundgebungen, Demonstrationen

 

Dmitrij Kuzmin aus St. Petersburg hat mit dem Plakat „Ich möchte niemandem meinen Fuß auf die Brust stellen“ eine Einzelkundgebung neben der Kasaner Kathedrale abgehalten. Die Wahl dieser Zeile aus einem Lied von Viktor Zoj erklärte er folgendermaßen: „Ich persönlich will niemandem den Fuß auf die Brust stellen, das heißt, ich will keinen Sieg, ich bin gegen diesen verbrecherischen und sinnlosen Krieg.“
Am 30. Oktober stellte er sich mit dem Plakat „Politische Gefangene sitzen für dich. Zurzeit sind es 1398 Patrioten“ auf den Nevskij Prospekt. Es gelang ihm, die Mahnwache dort zweieinhalb Stunden abzuhalten, dann führten Polizisten den jungen Mann auf eine Polizeidienststelle ab.

Aleksandr Chodyrev aus Krasnodar wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er an einem öffentlichen Ort über die Verbrechen der russischen Armee im Osten der Ukraine gesprochen hatte.

„Ich bin gegen Krieg, gegen Mord, gegen Diebstahl auf staatlicher Ebene, dafür, dass man die Regierung wählen kann, das alles gefällt der Regierung natürlich nicht,“ antwortete der Aktivist Zigmund Chudjakov auf die Frage einer Journalistin, warum er sich auf den Komsomolskaja-Platz in Chabarovsk gestellt hatte.

Mehr als vierzig Menschen haben sich in St. Petersburg versammelt, um ihre Solidarität mit dem Soziologen Boris Kagarlizkij zum Ausdruck zu bringen. Die Teilnehmer der Versammlung unterschrieben Postkarten mit unterstützenden Worten für Kagarlizkij und sammelten Geld für ihn. Innerhalb eines Monats haben sich zu seiner Unterstützung Menschen in dutzenden russischen Städten versammelt.
Kagarlizkij wurde, anders als von der Staatsanwaltschaft beantragt, inzwischen nicht zu einer Haftstrafe, sondern zu einer Geldstrafe verurteilt.

 


„Nein zur Gewalt des Staates an der Gesellschaft“, mit diesem Plakat hielt Aleksandr Pravdin aus dem Ort Siverskij im Gebiet Leningrad am 2. November eine weitere Einzelmahnwache ab. Bereits am 4. November führte Pravdin erneut eine Einzelkundgebung durch mit dem Plakat „Nein zur Flucht von Menschen aus der Heimat wegen Krieg, Armut, Faschismus“.

 

Am Tag der Nationalen Einheit hielt die Bürgerrechtlerin Oksana Osadtschaja an der Erlöserkirche in Moskau eine Einzelkundgebung ab. In den Händen hielt sie ein Poster in Blindenschrift mit der Aufschrift „Ist Gott Liebe?“ sowie mit Fotografien von im Krieg zerstörten Häusern und Kirchen. Nach Aussagen der Aktivistin dauerte ihre Kundgebung nur zehn Minuten. Vom Gelände der Kirche kam ein Wächter, der jemanden über ein Funkgerät anrief und dann begann, die Aktivistin auf grobe Weise zu fragen, ob ihr Liebe fehle und es denn etwas gäbe, was sie mit ihrem Mann machen könne. Die Aktion musste abgebrochen werden.

Ein Bewohner von Jekaterinburg hat sich am 5. November mit einem Plakat in den Farben der Ukraine auf den Platz-des-Jahres-1905 vor die Stadtverwaltung gestellt. Auf dem Plakat stand „Nein zum Krieg“. Von einer Festnahme ist nichts bekannt.

Der Kriegsgegner Dmitrij Blisnjuk hat in Jekaterinburg eine Einzelkundgebung abgehalten mit dem Plakat „Nein zur Tyrannei. Nein zu kannibalistischen Gesetzen. Nein zum Schweigen“.

In Stavropol wurde Michail Pugatschev zu einer Geldstrafe verurteilt, er wird beschuldigt bei Odnoklassniki [Klassenkameraden] Fotomaterial veröffentlicht zu haben, das die Streitkräfte diskreditiert.

 

Sabotage und Anschläge

Unbekannte haben auf das Auto von Julij Muratov, Mitglied der Stadtversammlung sowie der Partei „Einiges Russland“ in Ufa, „Gruz 200“ [Codewort für den Transport militärischer Todesopfer] geschrieben. Einige Tage zuvor war der gleiche Text auf dem Auto des Militärkommandanten des Bezirks Sterlitamaksk, Maksim Nemtschenko, aufgetaucht. Örtliche Medien berichten, dass der Urheber die Männer für den Tod von Angehörigen im Krieg mit der Ukraine verantwortlich machen könnte.

In Nizhnij Novgorod haben Unbekannte in der Nacht vom 2. auf den 3. November das Auto von Igor Kuznezov, Generaldirektor der Aktiengesellschaft „GosNIImasch“, angezündet. Das Unternehmen produziert militärische Ersatzteile für Raketen, mit denen russische Soldaten die Ukraine attackieren. Das Auto brannte komplett aus. 


Verfolgungen

Dmitrij Slabkovskij, Einwohner von Naberezhnye Tschnelny (Tatarstan) wurde mit einer Geldstrafe in Höhe von 100.000 Rubeln belegt. Mit folgenden Kommentaren hatte er die Invasion und Okkupation verurteilt: „Die Ukrainer beschützen ihr Zuhause und ihre Familien. Die Russen sind die Aggressoren und Okkupanten.“

Nikolaj Domnin aus Petrosavodsk, wurde für das Plakat „Nicht alle Eltern brauchen einen weißen Lada. Viele brauchen lebende Kinder“ zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubeln verurteilt.

„Russlands Feind Nr. 1 sitzt im Kreml! Und alle, die ihn unterstützen, ebenso“; „Was ist das für ein Schwachsinn? Was für ein Held? Was hatte er in der Ukraine verloren? Sein Bein hat er dort verloren, das ist alles! Das ist kein Heroismus! Das ist die totale Schande!“ Für diese und weitere Kommentare in den sozialen Netzwerken wurde Dmitrij Sintschenko aus Sevastopol zu 40.000 Rubeln Geldstrafe verurteilt.

In Krasnodar wurde Julija Netschvold zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie in einem Geschäft folgende Worte gesagt haben soll: „Ihr habt mein Land überfallen, ihr habt mein Zuhause zerstört, ihr seid Okkupanten, ihr schuldet mir etwas“.


Online-Proteste

In Tomsk und im Gebiet Kemerovo gab der FSB die Verhaftung zweier junger Männer bekannt. Die beiden Festgenommenen werden beschuldigt, Hackerangriffe auf russische Informationsressourcen und auf kritische Infrastruktur-Einrichtungen verübt zu haben. Einer der Verhafteten ist Student an der Tomsker Universität für Kontrollsysteme und Radioelektronik.

 

Kriegsdienstverweigerung

Am 27. Oktober flüchtete der 22-jährige Wehrpflichtige Maxim. Die Rekruten wurden mit Bussen zum Bahnhof Pavelezkij gebracht, von wo aus sie zu einer Militäreinheit in Sevastopol geschickt werden sollten. Während der Aufstellung rannte der junge Mann in Richtung Zazepskij Val. Es wird berichtet, dass Maxim in einen in der Nähe geparkten weißen Jeep sprang und davonfuhr. Das Medium Baza schreibt, dass der Wagen, in dem der Wehrpflichtige floh, seinem Vater Aleksej gehört.

Kultur


„Die Partei der Toten“ ist ein russisches Kunstprojekt, das sich mit Kunst-Aktivismus beschäftigt.  „Es ist gut, dass Putin tot ist“, „Putin verspätet sich irgendwie“- Diese Aufschrift vor dem Hintergrund einer toten Drossel veröffentliche die „Partei“ am 27. Oktober in ihrem Kanal. Die Aktivisten bezeichneten die Aktion als „Nekrozoopiket“ [Wortzusammensetzung; Bedeutung in etwa: Mahnwache tote Tiere]. Die Idee, eine Drossel zu verwenden, wurde wahrscheinlich durch eine sowjetische Kriminalgeschichte nach Agatha Christies Roman „Das Geheimnis der Amseln“ inspiriert, in dem Mordopfern vor ihrem Tod tote Vögel auf den Tisch gelegt werden.

 

Aufschriften auf den Fotos: „Make love not war“, „Der Frühling wird kommen“.

 

Die „Media-Partisanen“ veröffentlichen neue Anti-Kriegskunst ihrer Leser: Fotografien und Gedichte.


Ein Bild von ihm mit seiner Melone

Es war einmal ein einfacher Mensch
genauso einer wie ungefähr alle
Eine Sache war ihm teuer:
Ein Bild von ihm mit seiner Melone

Der Staat aber benötigte Soldaten im Krieg
Er ging weg der Mann, was blieb war nur
Ein Bild von ihm mit seiner Melone
Aus dem Hauptquartier meldeten sie:er ist tot

Erkannt hatten sie ihn an seiner Hand
Ein Gesicht hielt ein Schluchzen zurück
Das Bild von ihm mit seiner Melone

Ein Grab steht am Rande der Welt
Überwuchert vollkommen und auf dem Kreuz
Schaut auf die Welt bedrückt
Das Bild von ihm mit seiner Melone.


Die Künstlergruppe „Jav“ hat Ende Oktober das neue Werk “Babuschka“ geschaffen zur Unterstützung unabhängiger Medien, Wissenschaftler, Musiker, Schriftsteller, Schauspieler und vieler anderer Menschen, die Opfer der totalen Zensur geworden sind. „Unsere Arbeit ist ein Plädoyer für Informationsfreiheit, kulturellen Austausch und ungehinderte Selbstdarstellung“, so die Künstler.

 

Sonstiges

Das Levada-Zentrum hat in einer soziologischen Umfrage im Oktober die Bewohner Russlands zu ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine befragt. 55 % der Befragten denken, dass Russland und die Ukraine Friedensgespräche führen sollten. 38 % sind weiterhin der Meinung, dass der Krieg fortgeführt werden muss. Bei der Bedingung „den Krieg zu stoppen und die annektierten Gebiete der Ukraine zurückzugeben“ würden 16 % der Befragten die Regierung unterstützen, während 38 % dies definitiv nicht billigen würden.

 

Die Bewegung „Wille und Verfahren“ hat in St. Petersburg eine Aktion durchgeführt: Auf den Straßen der Stadt tauchten Plakate mit der Abbildung von 15 Personen auf, die wegen ihrer Anti-Kriegshaltung nach den entsprechenden Paragraphen angeklagt oder verurteilt worden sind. Alle sind Angehörige des gewaltsamen Widerstands, die der administrativen oder militärischen Infrastruktur des Staates Schaden zugefügt haben.
Die Aktivisten betonen, dass das Ziel der Aktion ist, Aufmerksamkeit für diese Kategorie von Gefangenen zu gewinnen, da sie „im Gegensatz zur Gewissenshäftlingen - obwohl unbedingt benötigt - ungerechtfertigterweise von der Gesellschaft keine Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, denn diese Personen sind dem Staat gegenüber in einer weitaus verletzlicheren Lage.“ Unter ihnen befinden sich: Ruslan Zinin, Kirill Butylin, Vladimir Zolotarev, Igor Paskar, Roman Nasryjev, Boris Gontscharenko, Vladimir Sergejev, Michail Lazakovitsch. Sergej Okruschko, Aleksey Rozhkov.


Im Bezirk Kurortnyj in St. Petersburg haben Unbekannte die weiß-blau-weiße Flagge an einem Mobilfunkmasten aufgehängt.  Die verbotene Fahne wurde in der Levaschovskoe-Chaussee entdeckt. Die weiß-blau-weiße Flagge ist eine Variante der russischen Flagge ohne den roten Streifen, der [für die Aktivisten] Blut symbolisiert. Sie findet seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine breite Verwendung bei Russen, die sich gegen die Invasion in das Nachbarland aussprechen.


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


17. Dezember 2023

 

Copyright © 2024 memorial.de. Alle Rechte vorbehalten.
MEMORIAL Deutschland e.V. · Haus der Demokratie und Menschenrechte · Greifswalder Straße 4 · 10405 Berlin
Joomla! ist freie, unter der GNU/GPL-Lizenz veröffentlichte Software.
Back to Top