Schlusswort Oleg Orlovs vor dem Moskauer Stadtgericht

Am 14. Dezemnber hob das Moskauer Stadtgericht das zuvor gegen Oleg Orlov ergangene Urteil (eine Geldstrafe) auf und verwies das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zurück.

Nachstehend folgt das Schlusswort, mit dem sich Oleg Orlov an das Gericht wandte.

 

Vor dieser Verhandlung überlegte ich, was ich in meinem Schlusswort sagen sollte - das Wichtigste hatte ich ja schon zuvor gesagt, vor dem Urteil in erster Instanz. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass es vielleicht tatsächlich für mich das letzte Wort wird. Schließlich bin ich nicht umsonst mit einer Tasche hierhergekommen.

Vielleicht wiederhole ich nochmals einiges von dem, was ich damals gesagt habe. Ich bereue nichts, ich bedaure nichts.

Ich bereue nicht, dass ich gegen den Krieg protestiert habe, nicht, dass ich das derzeitige politische Regime in meinem Land öffentlich definiert habe. Ich bin stolz darauf, dass ich viele Jahre Memorial gewidmet habe, der bedeutenden zivilgesellschaftlichen Organisation, die die derzeitige Regierung meines Landes zu vernichten sucht, was ihr aber in keiner Weise gelingt. Ich bin meinen Freunden und Kollegen dankbar, mit denen ich gemeinsam einen großen Weg zurückgelegt und dafür gearbeitet habe, dass politische Repressionen in unserem Land für immer der Vergangenheit angehören.

Es ist uns bisher nicht gelungen, das zu erreichen. Das bedeutet, dass es noch viel zu tun gibt, für uns wie auch für jene, die jünger sind als wir.

Was dieses lange Gerichtsverfahren betrifft, so denke ich, dass niemand an seinem politischen Charakter zweifeln kann. Jetzt liegt es schon auf der Hand, dass ein politischer Auftrag vorliegt, mir die Freiheit zu entziehen, genauer – auch jene relative Freiheit, in der wir alle in Russland leben. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, den Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis zu nehmen.

Die Rückverweisung des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft – wie sie der verehrte Anklagevertreter fordert – ändert nichts an der Ausführung dieses politischen Auftrags, sie verzögert sie nur hinaus. Denn es ist, wie gesagt, völlig klar, zu welchem Zweck die Staatsanwaltschaft beantragt, das Verfahren zurückzuverweisen.

In den Plädoyers habe ich schon von diesem an sich bemerkenswerten Dokument gesprochen. Es frappiert durch das Ausmaß an Ungeniertheit und Selbstentlarvung. Es hat sich seinen Platz verdient in der Geschichte des Untergangs, des Zerfalls, des Absturzes – ich weiß nicht, wie man es besser ausdrücken kann – den das russischen Rechtssystem im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts erlebt hat.

Man geniert sich nicht mehr. Der Beamte, der verpflichtet ist, das Gesetz zu schützen, erklärt ungeniert, dass negative Kommentare über staatliche Organe an sich einem Staatsverbrechen gleichkommen.

Ich werde für nichts anderes verfolgt als für öffentliche Kritik an der Politik der Regierung. Diesen politischen Auftrag führen das Ermittlungskomitee und die Staatsanwaltschaft aus – jeder Institution ist ihre Aufgabe zugeteilt.

Die drei Jahre Haft, die mir für meinen Protest gegen den Krieg nach wie vor drohen, sind unter den Bedingungen des gegenwärtigen politischen Systems fast human im Vergleich zu den Urteilen, die gegen Aleksandra Skotschilenko, Dmitrij Ivanov, Ilja Jaschin, Alexej Gorinov, Vladimir Kara-Mursa und viele andere meiner Mitstreiter verhängt wurden. Ich hoffe, dass ich sie alle mit diesem Wort "Mitstreiter" bezeichnen kann, obwohl ich bei weitem nicht alle persönlich kenne. Wir sind keineswegs Mitstreiter im Unglück. Wir sind vielmehr Mitstreiter in einer gemeinsamen wichtigen Sache, die wir getan haben und weiterhin tun – im Protest gegen den Krieg, gegen Mord, Gewalt und Aggression.

In Anbetracht meines Alters sind drei Jahre jedoch nicht so wenig. Und wenn man bedenkt, was mit anderen politischen Gefangenen geschieht, so kann sich nach einiger Zeit herausstellen, dass ich hinter Gittern plötzlich den Terrorismus rechtfertige oder zum gewaltsamen Umsturz der Regierung aufrufe. Und dann wird man mir eine weitere Haftstrafe auferlegen müssen. Das ist es, was die Haft für mich bedeutet. Und möglicherweise werde ich gar nicht mehr freikommen, ganz unabhängig von der Länge der Haftstrafe.

Aber was kann man schon tun?! Es ist nun einmal so gekommen.

So kam es - ich hatte es überhaupt nicht geplant - dass ein Experiment in Gang gesetzt wurde. Ich habe einen Artikel geschrieben und veröffentlicht, in dem ich das derzeitige politische Regime in Russland charakterisiert habe. Daraufhin wurde ein Strafverfahren gegen mich eingeleitet und ich wurde eines "Verbrechens gegen die Staatsgewalt" für schuldig befunden.

Was ist damit bewiesen? Meiner Meinung nach ist für jeden vernünftigen Menschen klar, dass ein Schuldspruch – ob nun eine Geldstrafe oder drei Jahre Gefängnis - beweist, dass der Autor der Veröffentlichung recht hatte.

Wie ich in meinem Artikel schrieb, unter Bezugnahme auf die Definition, die die Russische Akademie der Wissenschaften vor 28 Jahren im Auftrag des ersten Präsidenten Russlands gegeben hatte, gehören zu den inhärenten Merkmalen des Faschismus sowohl die Anwendung von Gewalt und Terror zur Unterdrückung jeder Form des Andersdenkens als auch die Rechtfertigung des Krieges als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Probleme. Und nun bin ich in erster Instanz verurteilt worden, weil ich es gewagt habe, den von diesem System begonnenen Krieg negativ zu bewerten.

Und jetzt bittet die Staatsanwaltschaft darum, den Fall zur weiteren Untersuchung zurückzugeben - zurück an die Staatsanwaltschaft. Aber das ändert nichts an diesem politischen Auftrag, nur seine Ausführung wird länger dauern.

In diesem Fall sollte die Begründung für das Urteil nach dem Plan ihrer Auftraggeber darin bestehen, dass das Motiv für meine Handlungen im politischen und ideologischen Hass besteht, den ich angeblich gegen die russische Staatlichkeit hege. Vielleicht hätte man diesen Unsinn wie andere Propagandatricks von Leuten, die dem derzeitigen politischen System dienen, ignorieren sollen. Aber ich muss zugeben, dass mich diese gegen mich persönlich gerichtete Anschuldigung verletzt. Deshalb werde ich darauf antworten.

In der Tat bin ich ein überzeugter Anhänger der Staatlichkeit. Ich glaube, dass ein Menschenrechtsaktivist dies auch sein muss, denn nur eine starke, durch das Gesetz begrenzte Staatsmacht ist in der Lage, die Rechte und Freiheiten ihrer Bürger zu gewährleisten und zu schützen. Und wenn der Staat anfängt, Verbrechen gegen seine eigenen Bürger oder die anderer Staaten zu begehen, ist das kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche.

Die derzeitige Lage in Russland ist der beste Beweis dafür.

Meiner Meinung nach hat die Regierung Angst. Sie hat solche Angst vor der freien Willensäußerung ihrer Bürger, dass sie die Institution der Wahlen zerstört hat. Das geht so weit, dass sie unter verschiedenen weit hergeholten Vorwänden Demonstrationen und Kundgebungen verbietet und Menschen für freie Meinungsäußerung inhaftiert.

Die Regierung ist schwach. Sie kann und will dem tschetschenischen Padischah nicht einmal ein Minimum an Respekt für das russische Recht abringen. Sie stellt Mörder und Vergewaltiger von strafrechtlicher Verantwortung frei, unter der Bedingung, dass sie Bürger eines Nachbarstaates töten - und kann dann die Bevölkerung nicht vor Gewalt durch durchgedrehte Kriegsheimkehrer schützen. Sie ist nicht in der Lage, mit der Korruption und Willkür seiner eigenen Beamten fertig zu werden.

Ich liebe mein Land und ich wünsche mir dafür eine starke Staatsmacht, die sich auf das Recht stützt und es nicht mit Füßen tritt. Jetzt ist leider das Gegenteil der Fall. Ein Schuldspruch gegen mich wird der beste Beweis dafür sein, dass ich die Lage in meinem Land richtig eingeschätzt habe.

 

3. Januar 2024

Copyright © 2024 memorial.de. Alle Rechte vorbehalten.
MEMORIAL Deutschland e.V. · Haus der Demokratie und Menschenrechte · Greifswalder Straße 4 · 10405 Berlin
Joomla! ist freie, unter der GNU/GPL-Lizenz veröffentlichte Software.
Back to Top