Valerija Kaminska war gezwungen, bei der Flucht aus Mariupol den über Russland zu nehmen  


Volodymyr Noskov, Denys Volocha

 

Valerija Kaminska, Geschäftsfrau aus Mariupol, floh im April aus der Stadt und gelangte durch die Russische Föderation und Länder der EU nach Lviv. Sie erzählt erschreckende Geschichten von Folter, von dem Leben unter Beschuss und erinnert sich an einen Dialog mit einem jungen Tschetschenen, bei dem dieser in Tränen ausbrach.

 

„Jedes Gespräch ist, als würde dir jemand Nadeln unter die Haut setzen“, sagt Valerija Kaminska, die während des Interviews ihre Tränen nicht immer zurückhalten kann.© Denys Volocha/KHPG

 

Frau Kaminska, warum erzählen Sie Ihre Geschichte ein weiteres Mal?

Wahrscheinlich, damit die Menschen nicht vergessen, wie das war. Ich verstehe diejenigen, sie sich weigern [ihre Geschichte zu erzählen]. Denn jedes Mal, wenn die Erinnerungen kommen, folgt darauf eine Woche schlafloser Nächte. Weitere Angst bringt, so wie jede andere negative Situation im Leben eines Menschen auch, keine Freude. Freude belebt uns, aber Kummer bringt uns einfach um. In Mariupol hatte es wohl niemand leicht. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen mit dem, was er durchgemacht hat, seine eigene Panik, seine eigene Angst. Und wahrscheinlich hatte man jede Sekunde seines Lebens Angst, in der man dort war. 

Diese Angst, ist die immer noch da?

Ja. Ich verstehe jetzt die Angst meiner Angehörigen sehr gut, die in völliger Ungewissheit gewartet haben. Die Angst vor dem Unbekannten. Das ist so furchtbar.

Gleichzeitig wird mir jetzt bewusst, dass ich zum Beispiel dort noch Tiere habe, zwei Hunde, ich bin von Natur aus ein Hundemensch. Ich suche nach Möglichkeiten, sie herauszuholen. Das ist für mich eine schmerzliche und schreckliche Entscheidung. Es macht mir Kummer, darüber zu sprechen.(kämpft mit den Tränen; Red.). Wissen Sie, unter dem Einfluss von Adrenalin, unter dem man dort steht, fühlt man sich mobilisiert: Man setzt alle Ressourcen ein, die man hat. Ich kann Ihnen noch mehr sagen: Mit wie vielen Menschen ich dort auch gesprochen habe, fast niemand war krank. Man ist in einer permanenten Stress-Situation, ist wie ein Roboter.

Ich hatte eine große Verantwortung: eine kranke Mutter, Haustiere. Das bedeutet, dass man ständiger Versorger ist. 

Lassen Sie uns festhalten, wie Sie sich an Mariupol des 22. und 23. Februar erinnern. Das Mariupol Ihrer Komfortzone.

Ich habe im Livoberezhnyj-Bezirk in Mariupol gewohnt. Buchstäblich zwei Minuten bis zum Morskyj-Boulevard und fünf Minuten bis ans Meer. Ich bin ein Hundemensch. Ich bin jeden Morgen in Ruhe mit den Hunden am Meer spazieren gegangen. Ganz gleich, ob Sommer oder Winter. Gott sei Dank habe ich mein eigenes Geschäft und musste mich nie beeilen. Ich habe eine eigene lizenzierte Agentur und das bedeutet Arbeit im Ausland, Tourismus. 

Und wann begann für Sie der Krieg?

Zuerst war da ein Moment der Verwunderung. Das heißt, es gab noch keine Panik und Angst. Es gab eine Taktik des Krieges, nun, die habe natürlich nicht ich mir ausgedacht. Und natürlich auch nicht die Ukraine. Wissen Sie, das war eine ständige Zunahme. Drei Tage gab es noch Strom und Wasser. Am fünften Tag kamen die Saboteure. Männer und Frauen in Schwarz, die etwas Metallenes in einer Tasche trugen. Sie gingen einfach zu unseren Geschäften und Apotheken und sprengten damit die Türen und Rollläden auf, sie gingen hinein, nahmen Wodka mit und alles, was sie gebrauchen konnten. Sie plünderten. Und als die Geschäfte dann offenstanden, kamen Zivilisten, die in dem Viertel lebten, und nahmen die Reste mit. 

Ich verurteile niemanden von ihnen, denn die Menschen mussten doch essen und trinken. Aber danach gingen sie an den Leuten vorbei, die auf der Straße Essen kochten und sagten: „Frieden! Nennt uns Friedensstifter!“ 

Wie haben die Menschen darauf reagiert?

Ich wollte die ganze Zeit mit ihnen sprechen, weil mich interessiert hat, wie sie ticken. Was hatten sie mir denn anzubieten? Was für einen Frieden? Weswegen sollte ich sie Friedensstifter nennen? Dafür, dass sie mein Geschäft zerbombt hatten? Dafür, dass ich keine Medikamente mehr hatte, kein Brot, keine Butter, keinen Käse und keine Wurst? Ich persönlich brauche einen solchen Frieden nicht. 

Ich weiß nicht, wie andere Menschen reagierten, aber das alles geschah vor meinen Augen, denn ich habe ja Haustiere und ging mit ihnen im Viertel spazieren. Mir scheint, dass diese Leute völlig gehirngewaschen sind und dass sie glaubten, dass sie mich retten. Ich verstehe nur nicht, retten vor was. Ich musste durch Russland, um zurückzukommen, durch die Ukraine gab es keine Möglichkeit, alles war abgeschnitten. Ich kam durch Russland zurück und sprach sehr vorsichtig mit allen. Ich habe in Moskau bei meiner Cousine gewohnt, Gott sei Dank habe ich eine sehr einträchtige Familie, dann kam Riga, Warschau und Lviv. So bin ich aus Mariupol herausgekommen. 

Wann bemerkten Sie, dass Sie von der Außenwelt und von Informationen abgeschnitten waren?

Gleich am dritten Tag.

Wie fühlt sich das moralisch und psychologisch an?

Man fällt ins Ungewisse. Man reagiert gar nicht, so war es bei mir. Man weint und schluchzt nicht. Man ist innerlich wie eingefroren und beginnt, sich an die Situation anzupassen. Ich habe nicht geweint, weil ich wusste, dass mich das nicht retten würde. Aber so, wie ich dort gebetet habe, habe ich nirgends anders gebetet.

Sie dachten, sie würden mit einem Parademarsch die Stadt einnehmen und damit wäre alles erledigt. Aber der Parademarsch fand nicht statt. Ich hatte nicht einmal große Angst. Wahrscheinlich hat mein Glaube mich gerettet, als nach einer Woche die „Nachtwache“ herumfuhr.

Was ist das?

Die Bezeichnung „Nachtwache“ habe ich mir selber ausgedacht. Stellen Sie sich einfach vor, dass im Viertel ein Panzer herumfährt und schießt, wohin er will, genau um 19:30 Uhr. Das war eine Woche nach Beginn des Einmarschs. Die Männer fuhren einfach durch das Viertel und dort, wohin der Panzer sich drehte, schlugen sie zu.

Als sie Grad-Raketen von der Fabrik aus feuerten, wusste man, dass die irgendwo weit weg fliegen werden, also einen nicht treffen würden. Man konnte schon unterscheiden, welche Waffe das war, man war wie eine Elfe: Die Ohren wuchsen und man wusste, wie weit oder nah sie feuern und in welches Haus. Können Sie sich vorstellen, in welcher Anspannung sich der Mensch permanent befindet, um herauszuhören, wohin welches Geschoss fliegt? Und alles geschieht vor deinen Augen.

Und wie haben Sie die Feuerpausen ertragen?

Das war sehr schwer, denn die Stille bringt noch mehr Anspannung, man denkt ständig: „Da. Jetzt.“

Die Pausen sind noch schlimmer, als wenn Grad-Raketen fliegen, denn da weißt du: Sie schießen. Aber wenn es ruhig ist, weißt du nicht, was der nächste Schritt sein wird, was als Nächstes geflogen kommt. Denn es gab immer Gegenattacken. 

Wann hat für Sie persönlich Lebensmittel- und Wasserknappheit begonnen?

Ich glaube, da war ich in einer glücklichen Lage, verglichen mit anderen Menschen, die einfach an irgendwelche Brunnen liefen, um Wasser zu holen und nicht mehr zurückkehrten. Gott sei Dank hatten mir Nachbarn ihren Wohnungsschlüssel dagelassen, die hatten einen Wasservorrat. Als die Wohnung von Ljudotschka begann zu brennen, habe ich ihre Katze gerettet. Ich mag alle meine Nachbarn sehr und sie mögen mich auch, Gott sei Dank. Alle ließen mir ihre Wohnungsschlüssel da, als sie wegfuhren. Und ihre Lebensmittel. Ich habe nicht gehungert. 

Mein Haus geriet in Brand, es wurde mehrmals von Geschossen getroffen. Nun, das alles konnte man irgendwie überstehen. Aber das Schlimmste waren nicht einmal die Panzergranaten, schlimm war es nachts. Wenn etwas flog und ich nicht einmal wusste, was das ist. Ich habe das „Hummel“ genannt. Stellen Sie sich vor, kein Licht, kein Laut. Stille, Finsternis und dann fliegt da so was: „zzz-zzz-zzz ...“. Und nach diesem Geräusch folgt dann ein heftiger, gleichmäßiger Abwurf. Du erkennst, dass das über deinem Kopf ist. Und um dich herum steht alles in blauen Flammen. Die Türen beben, die Fenster beben. 

Ich weiß nicht, was das für eine Waffe ist. Ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht. Das ist schrecklich. Ganz schrecklich, denn draußen ist Nacht. Die Flugzeuge flogen immer nachts, das war die Taktik. Später wurde ich dann klüger und weiser. Ich habe mit allen gesprochen.

Wie entwickelten sich die Ereignisse weiter?

Sie kamen immer näher zu uns heran, in mein Viertel. Wir konnten nicht heraus. Meine Mutter bat mich, in ihre Wohnung zu gehen. Ihre Wohnung ist buchstäblich zehn Minuten von meiner entfernt, ein gemütlicher Spaziergang über den Boulevard, eine Art Flaniermeile über den Komsomolskyj-Boulevard [Morskyj-Boulevard], und eine Station mit dem Bus. Aber es war unrealistisch, dorthin zu gehen, ich hatte Angst. Ich ging mit meiner Mutter weg, als mein Haus Feuer gefangen hatte und das Haus meiner Cousine komplett abgebrannt war. Innerhalb einer Nacht ist das ganze Viertel abgebrannt, meine ganzen Verwandten haben dort gelebt, wir sind eine sehr harmonische Familie. Nebenan wohnte meine Cousine, ihr Haus war praktisch auf der anderen Seite der Straße. In ihr Haus schlug auch ein Geschoss ein. Ich weiß nicht, ob ein ukrainisches oder ein russisches, ich habe das nicht selbst gesehen. 

In der Luft lag ständig Brandgeruch?

Ja, der war immer da. Alles war immer schwarz. Ich habe mich nicht sehr dafür interessiert, wo die Geschosse eingeschlagen waren, obwohl doch Menschen von Natur aus neugierig sind.

Wann tauchten auf den Straßen Soldaten in russischen Uniformen auf?

In russischen Uniformen tauchten sie tatsächlich nach eineinhalb Monaten auf. Aber davor waren sie nicht da, das heißt, sie liefen nicht einfach so herum.

Nahmen sie Kontakt zur lokalen Bevölkerung auf?

Verstehen Sie nicht, man konnte nicht auf die Straße und dort spazieren gehen. Meine Hunde erledigten ihr Geschäft in der Wohnung.

Aber es gibt doch einige lebensnotwendige Bedürfnisse.

Was für Bedürfnisse? Die Menschen, die versuchten, uns Wasser zu bringen, sprangen nach zwei Minuten wieder nach draußen, weil sie sich in der Schusslinie befanden. Man konnte nicht nach draußen gehen, um sich etwas zu essen zu machen. Man konnte das nicht einfach machen. Die Menschen kochten in den Eingangsbereichen. 

Meine Cousine, bei der die Wohnung abgebrannt ist, ging zu Sascha in die Brotfabrik. Das sind genau zehn Minuten, aber sie brauchten eineinhalb, zwei Stunden. Und da sitzt man und wartet auf sie. Als sie unterwegs waren und in einen Hauseingang rennen konnten, lagen da drei Leichen. Kontakt mit den Soldaten zu haben, war unmöglich. 

Sie brachen in fremde Wohnungen ein, um Essen und Wasser zu finden. So wurde alles geregelt. Manche nennen das Plünderei. Aber ich denke, das ist normal. Möglich, dass jemand etwas Unnötiges mitgenommen hat, aber sie suchten zu essen und Wasser, brachen Boiler auf. Es gab keine andere Lösung. 

Das Brennholz: alle umgestürzten Bäume, alles Zerstörte... Man schaffte es gerade mal, zwei Minuten lang Holz zu holen, um eine Tasse Wasser heiß zu machen. Und wenn du es nicht geschafft hast, hieß das, du hast nichts zu trinken, fertig! 

Einen Monat lang ging ich nirgendwo hin. Alles, was ich machen konnte, war, zum Hauseingang zu sprinten und Essen zu kochen. Man war in einem Zustand von dauernder Angst und voller Adrenalin. Meine Hunde gingen aus Angst nicht auf die Straße. Die Hunde hecheln und du gibst ihnen zu trinken. Ich hatte kein Baldrian mehr, Gott sei Dank hatte ich eine Flasche Wodka gekauft. 

Ich habe den Hunden Wodka mit Wasser gegeben, damit ihr Herz nicht stehenbleibt. Können Sie sich vorstellen, welche Angst die Menschen erst hatten? 

 

Der einzige Weg – über Russland?

Irgendwann tauchte eine Information über Korridore auf und die Nachbarn aus dem Erdgeschoss gingen los. Das war direkt eineinhalb Wochen nach Beginn des Krieges. Das war's. Von mehr Korridoren weiß ich nichts. Die Menschen aus unserem Bezirk begannen nach einem Monat von sich aus wegzugehen, aber in Richtung Russland und „DNR“, einen anderen Weg gab es nicht, weil wir territorial durch den Fluss und das Meer abgeschnitten sind. Unser Ufer ist abgeschnitten, alle Brücken sind gesprengt, man konnte nirgends hin. Aus dem Viertel, in dem ich war, konnten wir nicht raus. Wir bekamen keinerlei Informationen.

Die Menschen liefen einfach irgendwo hin. Anfangs in die Krankenhäuser - alle Krankenhäuser waren zerbombt. Die Menschen waren in Panik, liefen wieder irgendwo hin. Und als sie an Olenas Haus klopften und sagten, dass Flugzeuge kommen und unser Viertel dem Erdboden gleich machen würden, gingen auch wir weg. Mit meiner behinderten Mutter im Rollstuhl und ihren Medikamenten. Wir gingen nach draußen: Meine Mutter und Olenas Familie. Sie und ihr Mann nahmen noch eine Frau mit, eine Nachbarin, die seit Kindertagen behindert ist. Insgesamt acht Frauen. Stellen Sie sich das mal vor, acht Frauen, alle nicht mehr jung, laufen irgendwo hin.

 

Die Soldaten der „DNR“ und die Tschetschenen

Ich stand da und unterhielt mich mit einem jungen Tschetschenen. Mit Tränen in den Augen steht der da und sagt zu mir: „Ist es wahr, dass man uns Tiere nennt?“ Ich sage: „Ist es wahr, dass man uns Nazis und Drogenabhängige nennt?“ Und dieses Kind steht da und weint. Er sagt: „Ich bin hierhergekommen und stelle fest, was man uns erzählt und gesagt hat, was man uns ins Hirn und ins Herz gehämmert hat – das ist alles Lüge.“ Sie dachten, dass sie kommen würden wie Profis, wie eine Fußballmannschaft zu einer anderen kommt, dass sie in drei Tagen unsere Stadt mit ihren tschetschenischen Liedern und Tänzen erobern würden. Man würde ihnen die Stadt übergeben, sie würden für Ordnung sorgen, ihre Familien herbringen und wir würden alle einträchtig, freundschaftlich und liebevoll miteinander leben. Hat nicht geklappt. 

Ich weiß nicht, wer sich überhaupt das Wort „Nationalität“ ausgedacht hat. Gott hat keine Nationalität. Es gibt Menschen und es gibt Unmenschen. Und das zeigt sich nicht nur in der ukrainischen, sondern in jeder Nation. Es gibt einfach Menschen und es gibt…, ich weiß gar nicht, wie ich sie nennen soll. Ganz ehrlich, das sind nicht mal Unmenschen. Ich möchte die nicht einmal mit Tieren vergleichen. Schamil [der Tschetschene], sagte, als seine ganze Brigade kam: „Habt ihr Brot?“ Ich sagte: „Es gibt kein Brot.“ Er gab uns Brot, Essen und Wasser. 

Valerija, aber andererseits hat jeder Mensch eine Wahl. Er hätte sich selbst etwas antun können, hätte sich in Gefangenschaft begeben können.

Er hat sich nicht in Gefangenschaft begeben. Er hat sich einfach selbst verletzt, ist nach Hause gefahren und hat seiner Familie befohlen, nicht hierher zu kommen. Aber sich gefangen nehmen zu lassen, was hätte ihm das gebracht? Er wandte sich ab und nach zwei Minuten sagte er: „Ich muss mir was einfallen lassen.“ Ich sagte: „Schamil, denk' dir was aus, damit du bloß nicht mehr kämpfen musst.“ 

Jetzt zu den Begegnungen mit denen, sie sich als „Soldaten der 'DNR'“ vorstellten. Ich nannte sie „DNR-Vanjas“.

Wissen Sie, manchmal kam es mir so vor, als würden sie sich einfach freuen: „Wir haben doch acht Jahre so gelebt!“ Jetzt bombardieren sie uns, schießen auf uns und ich habe kein Zuhause mehr. Und sie freuen sich einfach, dass ich kein Zuhause mehr habe. „Ihr seid jetzt Bewohner der 'DNR'. Schaut ihr denn etwa kein Fernsehen?“ Sie sind ja so stolz: „Ich rette dich und jetzt bist du eine Bewohnerin der 'DNR'.“ Und wer hat mich gefragt, ob ich Bewohnerin der 'DNR' sein will oder nicht? Ich bin ja so froh in dieser grauen Zone ohne Essen und Wasser zu leben und unter Kugeln durchzukriechen. Eine große Freude ist das! 

Gab es von deren Seite irgendwelche Erniedrigungen und Beleidigungen?

Ja. „Was seid ihr denn für welche? Warum lebt ihr hier?“


© Denys Volocha/KHPG

 

Folterungen in der „DNR“

Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, die ziemlich aufwühlend ist. Es geht um eine Situation bei meiner Freundin Ljena, mit der ich zusammenlebte, Essen kochte und so weiter. Neben ihr wohnte die Tochter ihrer Schwester, Olha. Sie hatten lange auf Ira, die Schwester, gewartet. Und als Olha mit ihrem Mann ihre Mutter suchen ging, war dort nur ein zerstörtes Haus, neben dem ein Rollstuhl stand. Drei Tage später verschwand ihr Mann. Stellen Sie sich das vor, ihre Schwester Ira ist nicht mehr da und dann verschwindet der Mann. Fünf Tage zerreißen wir uns gemeinsam mit Ljena auf der Suche nach ihrem Mann, mit dem sie dreißig Jahre zusammengelebt hatte. Am fünften Tag taucht er auf und erzählt eine Geschichte.

Vlad hatte zuvor eine ziemlich heftige Verletzung abbekommen. Er hatte dagestanden und versucht, ein Feuer anzumachen, als sich vor ihm die Metalltüren des Hauseingangs schlossen und er eine Splitterwunde in den Bauch abbekam. Der Mann hatte ein Loch an der Seite. Das war noch am Anfang und seiner Tochter war es da noch gelungen, ihn zum Verbinden in ein Krankenhaus zu bringen.

Sie nahmen ihn und schafften ihn einfach deswegen weg, weil sie bei einer Kontrolle das Loch in seiner Seite gefunden hatten. Er war auf einem Stützpunkt der „DNR“ in einem Pionierlager, wo wir Wasser holten. Jeden Tag haben wir dort jeden gefragt: „Haben Sie diesen Mann gesehen?“ Sie hatten ihn in den Keller gebracht und ausgezogen. Jeden Tag haben sie ihn geschlagen und mit Stromstößen traktiert, haben ihn dermaßen durch die Mangel gezogen, dass er gezwungen war zu reden. Er erzählte: „Ich habe gesehen, da kommen Funken, die meinen Körper zerreißen. Und ich wusste, wenn ich jetzt nicht sage 'Ruhm für Sachartschenko' [bis zu seiner Ermordung 2018 „Staatschef" der „DNR“], werden sie mich in zwei Minuten zerfetzen wie der Hund einen Lappen.“

Er ist kein gläubiger Mensch, aber da sagte er: „Ich betete, dass ein Geschoss einschlagen und mich zusammen mit ihnen zerreißen würde.“ Er wollte sich aufhängen. Können Sie sich vorstellen, wie groß seine Angst war? 

Er war komplett zusammengeschlagen, hatte eine gebrochene Rippe und eine Wunde in der Seite. Er sagte noch: „Sie sind sanft umgegangen mit mir.“ Ein Junge wurde festgenommen, weil er mit einem Telefon rumlief, als schon niemand mehr ein Ladegerät hatte. Sie hackten ihm einfach einen Finger ab, damit er bei Facebook nicht mehr „Ruhm der Ukraine“ schreiben konnte.

Solche Keller gab es viele. Und es waren sehr viele Menschen drin.

 

„Man läuft über Leichen“

Ich wohnte im Haus meiner Freundin Ljena. Wir haben zusammen mit ihrem Mann Vlad zweimal versucht, durch unser Viertel zu laufen, um irgendwelche Sachen zu besorgen. Und man läuft über Leichen im wahrsten Sinne des Wortes. Ich übertreibe nicht: Man läuft und da liegen Leichen herum. Und es spielt keine Rolle, ob „DNR“-Soldaten oder junge Kerle.

Alle lagen sie da?

Alle: Zivilisten und „DNR“-Soldaten. Unsere habe ich nicht gesehen. Wahrscheinlich waren sie näher am Asovstahl-Werk. Wie eine Herde, die Armen... Ich verneige mich vor den Unsrigen, vor ihrer Professionalität. Ich weiß gar nicht, wie ich sagen soll, sie sind mehr als Helden. 

Wenn mir Einwohner ihre unterschiedlichen Meinungen sagen, dass man die Stadt hätte aufgeben können, wir in unseren Häusern hätten bleiben und in Ruhe hätten leben können, dann sage ich: „Ich verneige mich vor diesen Jungs, denn sie haben meine Vergangenheit beschützt, mein Leben, meinen Komfort. Und sie wollten, dass ich so hätte weiterleben können. 

Aber ich dränge niemandem meine Sicht der Dinge auf, das ist sinnlos. Jeder Mensch wird immer bei seiner Auffassung bleiben. 

In Rostov hatte ich gehört, dass ein Taxifahrer sich freute, dass es morgen einen chemischen Angriff geben würde. Ich sagte: „Wissen Sie überhaupt, was das ist, ein chemischer Angriff. Das betrifft doch nicht nur Asov. Wissen Sie überhaupt, wie viele von Ihren Leuten da sind? Wie können Sie sich darüber freuen?“ 

Ich schwöre, die Männer aus dem Donezk tun mir leid. Man hat sie einfach wie eine Herde zur Schlachtbank geschickt. Tschetschenen, gute oder schlechte, zum Teufel damit: Man hat ihnen Lohn versprochen und die Stadt als Geschenk, und sie kamen, um Mariupol in drei Tagen zu erobern. Sie waren angezogen, ausgerüstet und hatten Schuhe an. Ich verstehe das alles. Aber als die „DNR“-Soldaten kamen, die man einfach aus dem LKW geladen hatte, stehen da schlicht Kinder! Einfach in Pumphosen, irgendwelchen Strickjacken und Käppchen auf dem Kopf. Wie sollten die denn kämpfen? Ich kann das nicht begreifen. 

Nicht einmal Zigaretten hatten sie. Die Zahl der Toten dort... Alle zwei, drei Tage fand einfach eine Rotation statt. Ich konnte auf dem Balkon beobachten, wie in diesen LKWs die Jungens die Straße entlang fuhren, und Panzer und Flugabwehrkanonen. Und am übernächsten Tag wieder zurückfuhren: Sie waren nicht zurückgekommen, sie hatten nicht überlebt.

 

 
© Denys Volocha/KHPG

 

Viele fragen: „Ist das mit den Krematorien wahr oder gelogen?“ Es ist die Wahrheit. Ich habe so ein Fahrzeug selber gesehen. Das sind die „Verschollenen“. „DNR“, Gebiet Luhansk.

Sagen Sie, wurden in diese Krematorien nur „DNR“-Soldaten gesteckt oder auch unsere Leute?

Das habe ich nicht gesehen. Ich habe nur den Rauch und die Fahrzeuge gesehen. Wir haben fast hinter jedem Haus einen Friedhof.

Als ich noch in meinem Viertel wohnte, gab es direkt vor meiner Nase einen ehemaligen Kindergarten, der in ein wunderbares, renoviertes und schönes Zentrum für behinderte Kinder und behinderte Erwachsene umgerüstet worden war. Sogar die Frau unseres Präsidenten kam zur Eröffnung des Gebäudes. Schön und stilvoll, im Hof wuchsen Blumen. Alles war schön und gepflegt.

Als ein Mann wahrscheinlich mit seinen Hunden spazieren ging, traf ihn ein Geschoss. Drei Tage konnte niemand zu ihm heran. Er lag da, die Hunde saßen daneben. Niemand konnte rausgehen und ihn begraben, weil es unrealistisch war, nach draußen zu gehen: Sie töten dich, ständig Flieger, Explosionen, Geschosse, rundherum Flammen. Man kann nicht rausgehen, um einen Menschen zu begraben.

Es wurde etwas ruhiger. Am fünften Tag, als die Hunde anfingen, die Leiche zu fressen, liefen Männer aus irgendeinem Luftschutzbunker heraus und vergruben ihn einfach. Ich hatte eine Grabschaufel, von der alle wussten. Das ganze Viertel wusste, dass ich eine Grabschaufel hatte. Sie stand in unserem gemeinsamen Korridor.

 

Versuche zu fliehen

Ich traf die Entscheidung [zur Evakuierung] als ich erfuhr, dass Menschen über Sopine, einen Bezirk direkt neben unserem, herausgekommen waren. Ich konnte nicht früher weg. Ich war zu allen gerannt: zu den russischen Medien, zum Moskauer Fernsehen. Ich sagte: „Leute, ich muss meine Mutter rausholen, sie kann nicht zu Fuß dorthin, von wo aus man die Leute rausbringt.“ Ich musste meine Mutter wegbringen, ich hatte nicht vor, alleine wegzugehen. Wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich mich schon längst davongemacht. 

Sie antworteten: „Das fällt nicht in unsere Zuständigkeit.“ Ich weiß, dass es Fälle gab, in denen russische Journalisten geholfen hatten. Aber mir wollten sie wohl nicht helfen. Die „DNRler“ sagten auch: „Wir helfen Ihnen, wir retten Sie.“ Aber niemand hat mir geholfen. Wieder half mir nur Gott. 

Ein junger Mann kam, um sich die Nachbarwohnung anzusehen, er hatte das Filtrationslager schon hinter sich, hatte alle nötigen Papiere und konnte herumfahren. Er hat mich und meine Mutter herausgebracht. Wir fuhren am 15. April. 

Haben Sie auch ein Filtrationslager durchlaufen?

 Ja. 

Wie sieht das aus?

Wissen Sie, für mich als Rentnerin war das alles grauenvoll. Ich fuhr über Russland raus. Da ist jetzt die Grenze der „DNR“ und dann kommt sofort die russische Grenze. Und an der Grenze der „DNR“ fingen sie an, mir alle möglichen Fragen zu stellen, weil ich einen Pass aus Lviv habe und mein Ex-Mann aus Ivano-Frankivsk kommt. „Wo hast du gewohnt? Wie ist deine Einstellung? Was? Warum?“ Aber ich bin ein Mensch mit Humor, ich hab's ihnen mit Humor gegeben, ich habe gesagt: „Früher war ich jung und schön und heute bin ich nur noch schön.“

„Ich bin jetzt in einem depressiveren Zustand, als zu der Zeit, in der ich noch dort war.“ Man hat Angst vor dem morgigen Tag, man ist mittellos, man hat nichts. Absolut nichts. Ich bin keine junge Frau mehr, verstehen Sie? Menschen mit 70 fühlen Ausweglosigkeit und Angst. Nicht nur ich habe Angst. In Mariupol war es wohl physische Angst, es gab keine seelische Angst: Man war wie ein Tier. Es stellte sich heraus, dass wir dort alle COVID 19 hatten. Aber das hat man nicht mal gemerkt, weil man ständig voller Adrenalin war. 

Ich weiß, dass dort Mädchen auch das Bewusstsein verloren haben und es viele Herzinfarkte gab. Jeder hat seine eigene Psyche. Man fühlt sich wie nach einer Operation: Wenn man sich in den Finger schneidet, tut es sofort weh und fertig. Aber dann fängt es an, dumpf zu schmerzen. Und mir scheint, genauso schmerzt und klagt in dieser Phase des Lebens jetzt die Seele. Und jedes Gespräch ist, als würde dir jemand Nadeln unter die Haut setzen. Man ist in einer ständigen geistigen und seelischen Angst.

 

Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker

 

Das Video mit Valerija Kaminska finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom Prague Civil Society Centre gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.


24. Februar 2024



 

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