„Er hat dazu aufgerufen, den Kreml in Brand zu stecken.“ - Theaterregisseur wegen eines Kaugummipapiers des Terrorismus beschuldigt
Ivan Stanislavskyj
Anatolij Levtschenko ist ein bekannter Theaterregisseur aus Mariupol. Am 20. Mai 2022 wurde er von den Besatzern wegen seiner pro-ukrainischen Einstellung verhaftet. Man beschuldigte ihn, zu Hass, Extremismus und Terrorismus aufgestachelt und sogar dazu aufgerufen zu haben, den Kreml anzuzünden, weil er bei Facebook ein Kaugummipapier der Marke „Liebe ist...“ gepostet hatte.
Wir hatten geglaubt, dass bald Hilfe nach Mariupol kommen würde
Im Februar verstanden wir noch nicht, was vor sich geht. Wir hofften, dass bald alles vorbei sein würde, so wie 2014. Wir hatten geglaubt, bald würde Hilfe nach Mariupol kommen, und haben deswegen einfach abgewartet. Meine Familie, das waren damals ich, meine Frau, meine 92-jährige Schwiegermutter und mein behinderter Sohn. Artem ist 21 Jahre alt, er ist nonverbaler Autist. Meine Schwiegermutter hielt das im April alles nicht mehr aus und starb, ich begrub sie vor dem Haus auf dem Rasen.
In der Folge trat ein anderes Problem auf: Es fehlten Lebensmittel und Wasser. Wir mussten viel Zeit mit der Suche verbringen. Wir hatten Glück, denn nebenan war ein großes Geschäft, in dem wir Holzpaletten fanden. Wir nahmen sie auseinander, verbrannten sie und kochten gemeinsam mit den Nachbarn im Hauseingang Essen. Wir lernten, Lebensmittel untereinander zu tauschen. Einer hatte Kartoffeln, einer Karotten, so sammelten wir das Abendessen für alle zusammen.
Wir gingen nicht in den Luftschutzbunker, denn wir wohnten im achten Stock. Der Aufzug funktionierte nicht und unser Keller war zu tief. Die Treppe dort war etwa fünf Meter tief und man musste springen. Meine Schwiegermutter und mein Sohn wären dort nicht hingekommen. Deshalb haben meine Frau und ich uns gesagt: Was passiert, passiert eben.“
Anatolij Levtschenko, im Hintergrund das zerstörte Theater in Mariupol im Sommer 2023. Foto: Facebook-Seite von Anatolij Levtschenko
Ich sah, wie ein Panzer mit Trikolore auf Häuser schoss
Mitte Mai kamen die Besatzer. Auf dem Parkplatz neben unserem Haus hielten einige Panzer und bildeten einen Stationierungspunkt. Bis zu unserer Feuerstelle waren es 20 – 30 Meter. Die Panzerfahrer kamen einige Male zu uns, fragten nach Tee und boten uns Zigaretten an. Einer betonte immer wieder: „Übrigens, ich bin aus Moskau.“ Und dann betrank er sich ordentlich mit Wodka und sagte: „Die haben mich bei der Armee nicht genommen, weil der Staatsanwalt bei der Verhandlung gesagt hat, ich sei ein Wahnsinniger!“ Wir begriffen, dass er wegen sexueller Gewalt gesessen hatte. Das konnte man ihm ansehen. Und ein anderer sah sich um [und sagte]: „Wozu das alles?“ Ich antwortete: „Hör mal, sie haben doch gesagt, dass es bei euch in Donezk seit acht Jahren so ist...“ „Was redest du da, bei uns funktionieren die Aufzüge, die Trolleybusse fahren, aber das hier... Das ist ein Haufen Asche!“ Wenigstens ein Mensch war entsetzt darüber, was sie hier angerichtet hatten. Sie waren nicht gerade gut angezogen, beklagten sich, dass man sie als Kanonenfutter hierhin geschickt hätte.
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein russischer Panzer mit Trikolore durch unsere Straßen rollte. Einmal, das war an einem warmen Tag, saßen wir zuhause und hörten plötzlich einen nahen Schuss. Etwas war im Dach über uns in den Aufzugschacht eingeschlagen. Dann schoss ein Panzer in alle Aufzugschächte im Haus gegenüber. Danach nahm er sich ein fünfstöckiges Haus vor, beschoss es systematisch von oben bis unten, bis es anfing zu brennen.
Ich rannte nach unten und sah, dass einige Männer an der Kreuzung standen und riefen: „Was machst du da?!“ Und er kletterte aus dem Panzer: „Da könnte ein Richtschütze oder ein Scharfschütze drin sein!“ Und sie setzten den Beschuss der Häuser fort. Zu diesem Zeitpunkt gab es in unserem Viertel schon keine Kampfhandlungen mehr, es hätten dort gar keine Späher mehr sein können.
Am 20. Mai wurde ich verhaftet
Als sich die Kampfhandlungen näher hin zu „Asovstal“ verlegten, begann ich, nach einer Möglichkeit zu suchen, um rauszukommen. Damals konnte man noch nach Zaporizhzhia fahren. Aber die ganze Stadt war besetzt und die Besatzer fingen schon an, ihre eigene Ordnung zu schaffen. Um an einem Kontrollpunkt vorbeizukommen, musste man ein Filtrationszentrum durchlaufen. Das fand in Manhusch statt und wir fuhren dorthin.
Bescheinigung über das Passieren eines Filtrationszentrums in Manhusch, Quelle Foto: Facebook-Seite von Anatolij Levtschenko
Später, während der Verhöre, begriff ich, dass mich jemand denunziert hatte, wahrscheinlich nicht nur einmal. Der, der diese Denunziation geschrieben hatte, wusste aber nicht, wo ich wohne. Leider musste ich während des Filtrationsverfahrens meine Dokumente und meine Meldebescheinigung vorzeigen, am 17. Mai hatten meine Familie und ich das Verfahren durchlaufen und am 21. Mai wollten wir nach Zaporizhzhia aufbrechen. Aber am 20. Mai verhafteten sie mich und leiteten ein Strafverfahren ein. Die Anklage stützte sich auf einige Posts bei Facebook, die sie als Extremismus, Anstiftung zum Terrorismus und Aufstachelung zu nationaler und sonstiger Zwietracht auslegten.
An jenem Morgen war meine Frau einkaufen gegangen und ich war zuhause. Jemand klopfte. An der Tür standen zwei Jungs im Alter von 20 – 25 Jahren. Einer von ihnen drückte mir eine Pistole an den Bauch und fing an, irgendwas zu schreien. Sie begann sofort mit einer Durchsuchung, wühlten in der Wohnung alles durch, nahmen mir Telefon und Tablet ab. Sie sagten mir, ich solle meine Sachen packen. Zu diesem Zeitpunkt war mein Sohn im anderen Zimmer. Ich bat sie zu warten, bis meine Frau nach Hause kommen würde, um Artem nicht allein lassen zu müssen. Aber das erlaubten sie nicht. Ich musste eine Nachbarin bitten, bei ihm zu bleiben.
Sie setzten mich in ein Auto, hielten irgendwo mitten auf der Straße und begannen zu fragen, was ich geschrieben hätte. Das improvisierte Verhör dauerte 40 Minuten. Dann sagten sie: „Na gut, sie werden sich dort schon um dich kümmern!“ Ich fragte: „Und wo komme ich jetzt hin?“ „Jetzt? Nach Donezk.“
Sie zogen mir eine gewöhnliche Plastiktüte über den Kopf. Dann kam noch ein Verhör. Sie redeten mit mir, als wäre ich ein Offizier im Dritten Reich. „Ihre nationalistischen Überzeugungen? Wir werden Ihnen eine Erklärung über eine Zusammenarbeit mit dem Ukrainischen Sicherheitsdienst vorlegen.“ Gegen Abend kamen wir nach Donezk. In Donezk nahmen dann schon andere Leute Fingerabdrücke und verhörten mich wieder. Sie fragten nach meinen Theateraufführungen, meinen kreativen Tätigkeiten und meinen Posts bei Facebook.
Schild des Untersuchungsgefängnisses in der Kobosjev-Straße, Quelle Foto: Facebook-Seite von Anatolij Levtschenko
„Isolde“
Irgendwann nachts um eins kam ich in die berüchtigte „Isolation“. Im Volksmund wird sie „Isolda“ genannt. In den Jahren 2014 – 2015 war das eine schreckliche Folterkammer, viele wurden dort einfach umgebracht. Die Bedingungen dort sind hart. Der Spaziergang ist nur eine Bezeichnung und dauert maximal drei Minuten, Waschen höchstens drei Minuten. Tagsüber darf man sich nicht auf die Pritsche setzen oder legen. Es gibt eine kleine, sehr unbequeme Bank, auf die kann man sich abwechselnd setzen oder den ganzen Tag herumgehen. Nach 16 Stunden auf den Beinen wird man furchtbar müde.
Die Wachen verprügelten die Leute. Aber ich hatte Glück, ich bekam ein paar Mal Schläge mit dem Gewehrkolben auf den Rücken, das zählt nicht. Da war ein junger Kerl (18 Jahre alt), er saß wegen Zusammenarbeit mit den Ukrainischen Streitkräften. Ihm war verboten, sich tagsüber überhaupt hinzusetzen. Zu dem Zeitpunkt, als ich dorthin kam, stand er schon den zweiten Monat jeweils 16 Stunden am Tag. Einmal stellte er einen Fuß auf die Pritsche, die Wachen kamen sofort gelaufen und schlugen ihn.
Für das kleinste Vergehen konnte man bestraft werden. Wenn die Tür zur Zelle aufging, mussten sich alle umdrehen und sich Säcke über den Kopf ziehen. Die Wächter haben furchtbar Angst, dass man sie sieht und sich an sie erinnert. Jeder Häftling träumt davon, sich an ihnen zu rächen, wenn er überlebt. Pakete von draußen gab es keine. Die ganze Zeit in der „Isolation“ wusste ich überhaupt nicht, ob meine Familie auf dem Laufenden ist, wo ich bin und was mit mir ist.
Das Gutachten ergab, dass ich dazu aufgerufen hätte, den Kreml in Brand zu stecken
Am 16. Juni 2022 wurde ich einem Ermittler vorgestellt. Das war eine Frau. Anklage wurde erhoben, und die Ermittlungen begannen. Aus der „Isolation“ brachten sie mich in das Untersuchungsgefängnis in der Kobosjev-Straße. Das ist ein riesengroßes Gefängnis, das in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts erbaut wurde, es sieht aus wie ein Gefängnis der Stalinzeit.
Im Untersuchungsgefängnis war ich in drei Zellen. Bis Oktober saß ich in einer Zelle für vier Personen. Die war so groß wie ein Zugabteil, drinnen gab es eine Latrine, ein Waschbecken und einen kleinen Tisch zum Essen. Wenn zwei Personen standen, mussten zwei liegen, weil es nicht mehr Platz gab. Von meinen drei Nachbarn waren zwei Mörder. Die sanitären Bedingungen waren grässlich, es gab Bettwanzen.
Im Oktober brachten sie mich zu den politischen Gefangenen. Da gab es dann auch schon Kakerlaken und Ratten. Duschen war einmal die Woche und das Wasser war eiskalt. In der ersten Zelle für 25 Personen waren 29, man musste abwechselnd schlafen. Schließlich brachten sie mich in eine Nachbarzelle für 18 Personen, in der 21 waren. Einige Tage schlief ich jede zweite Nacht, bis jemand ging und ein Platz frei wurde.
Am 16. Juni wurde ich gemäß Paragraph 328 Strafgesetzbuch wegen Entfachung von Hass angeklagt. Alle Anschuldigungen stützten sich auf Denunziationen und Posts in meinen Sozialen Netzwerken. Im Oktober eröffneten sie Verfahren wegen Verstoßes gegen noch zwei Paragraphen – Anstiftung zum Extremismus und Terrorismus. Sie fanden einen Post bei Facebook, wo Kaugummipapier der Marke „Love is...“ abgebildet war. Da sitzen ein Junge und ein Mädchen, halten sich an den Händen und schauen auf den brennenden Kreml. Darunter steht: „Liebe – das ist zusammen in eine Richtung schauen.“ Ein Gutachten stellte fest, dass ich damit zur Brandstiftung am Kreml aufgerufen hätte. Die drei Verfahren zusammen hätten zwischen sieben und neun Jahren geben können.
Die bekannte Kaugummiverpackung und andere Posts wegen derer drei Verfahren gegen Anatolij Levtschenko eingeleitet wurden. Quelle Foto: Facebook-Seite von Anatolij Levtschenko
Schreiben Sie, dass Sie gescherzt haben
Nach der Durchführung des Pseudoreferendums sollte das besetzte Gebiet Donezk zur Russischen Föderation gehören. Das bedeutete, dass alle laufenden Ermittlungsverfahren nach russischem Recht geprüft werden mussten. Paragraph 328 (Entfachung nationaler Zwietracht) ist im Russischen Strafgesetzbuch im Gegensatz zum Strafgesetz der Pseudorepublik beim ersten Begehen dieses Verbrechens keine Straftat und wird als Ordnungswidrigkeit geahndet. Das stellte sich im Oktober heraus, aber erst im März ließen sich mich frei.
Was aus den beiden anderen Verfahren wurde, das weiß ich immer noch nicht. Sie wurden am 14. Oktober nach dem Recht der [so genannten] „DNR“ eingeleitet, aber seit dem 4. Oktober waren bereits die Gesetze der Russischen Föderation in Kraft. Sie kamen also selbst durcheinander. Am 9. Mai ließen sie mich unter der Bedingung frei, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen, und stellten das Verfahren nach Paragraph 328 ein. Im April und im Mai fuhr ich nach Donezk zur Ermittlerin, um die Papiere zu unterschreiben. Im Nachhinein erstellten sie ein neues Protokoll: „Schreiben Sie, dass Sie gescherzt haben“, sagte die Ermittlerin. Dokumente, dass die Verfahren eingestellt wurden, habe ich nicht.
In Mariupol begann ich, nach Hilfe zu suchen, um in die Ukraine zu gelangen. Mit unserem behinderten Sohn konnten wir uns nicht in einen Bus setzen. Wir brauchten ein gesondertes Transportmittel. Innerhalb von vier Monaten sammelten wir die nötige Summe zusammen und fanden ein Transportunternehmen. Wir mussten russische Pässe besorgen. Das ist beschämend, aber es ging nicht anderes.
Da ist deine Ukraine
Am 20. Juni um 19:00 Uhr fuhren wir aus Mariupol weg und um 9:00 Uhr morgens am nächsten Tag kamen wir am Grenzübergang Kolotilovka-Pokrovske an. Wir waren natürlich vorbereitet, weil wir wussten, dass sie am Kontrollpunkt die Telefone überprüfen und uns wegen jeder beliebigen Kleinigkeit hinter Gitter bringen konnten. Keinerlei Fotos, keine ukrainischen Symbole und Telegram-Kanäle, keine Kontakte – all das musste gelöscht werden. Wir hatten Glück, die FSB-Mitarbeiter durchsuchten uns nicht besonders, weil Artem einen hysterischen Anfall bekam.
Wenn man die Kontrolle hinter sich hat, sagen sie: „Jetzt geh, da ist deine Ukraine.“ Man kann den Kontrollpunkt nur zu Fuß durchschreiten. Zwischen dem russischen und dem ukrainischen Checkpoint muss man zwei Kilometer laufen. Das war mal ein asphaltierter Weg, aber jetzt ist er umgepflügt und mit Schotter bedeckt, am Straßenrand liegen Minen. Das ist graues Niemandsland.
In der Mitte dieser grauen Zone sahen wir einen Turm mit einer ukrainischen Flagge. Er war schwer mitgenommen, aber ukrainisch. Und da sagte ich zu meiner Frau: „Stopp, ich muss einige Worte auf Video auf Ukrainisch sagen.“ Wir blieben stehen. In Mariupol durfte man nicht Ukrainisch sprechen. Das erregte sofort Verdacht. Trotz der Hitze und allem habe ich mich so gefreut, dass ich wieder meine eigene Sprache sprechen konnte.
Anatolij Levtschenko lebt jetzt in Kropyvnyzkyj, wo er davon träumt, das Erste Nichtstaatliche Theater der Region Donbas (Mariupol) wiederzubeleben: „Terra Incognita – Theater für sich und die Seinen“.
Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker
Das Video mit Anatolij Levtschenko finden Sie hier.
Das Projekt wird vom People in Need gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.
27. April 2024