„Solange das Böse nicht als böse bezeichnet wird, sehe ich keinen Weg zur Versöhnung.“

 

Andrij Didenko

 

Ein Massengrab an der Kirche des Heiligen Ersten Apostels Andreas wurde zur letzten Ruhestätte für Ukrainer, die Opfer der russischen Aggression wurden. Derzeit befindet sich auf dem Territorium der Kirche eine Installation mit den Namen von etwa 500 getöteten Menschen. Wie können Zwietracht und Hass überwunden werden und ist es überhaupt möglich, sie zu überwinden? Wir sprachen mit dem Kirchenvorsteher, dem Erzpriester Andrij Halavin.

 

Leider ist es noch nicht an der Zeit, ein Fazit zu ziehen. Der Krieg ist nicht zu Ende, der Sieg noch nicht da. Menschen sterben weiterhin an der Front. In Butscha gibt es viele Opfer: Die einen haben ihre Wohnstätte verloren, andere verloren Nahestehende und Angehörige, wieder andere waren gezwungen, ins Ausland zu gehen. Die Menschen kommen – sagen wir mal – auf unterschiedlichen Wegen zu sich. Bei dem einen geht das leichter, bei dem anderen viel schwerer. Viele unserer Landsleute kämpfen an der Front. Zurück bleiben Frauen, Kinder und Mütter. Und die Männer kämpfen an der Front und leider kommen jeden Monat immer wieder neue Helden ums Leben. 

Ich war ungefähr bis Mitte März hier. Ich war bei den ersten Beerdigungen dabei, als es hier ein Massengrab gab. 

Dann begannen die Russen, durch die Häuser zu ziehen: Offensichtlich hatten sie irgendwelche Listen. Zu dem einen gingen sie zuerst, zu dem anderen später. Ich konnte keine Gottesdienste abhalten, es war unmöglich, die Leute in die Kirche einzuladen, denn das war gefährlich, die Russen beschossen und töteten die Menschen. Schauen Sie, die Mauern der Kirche sind beschossen worden, deshalb konnte man den Gottesdienst nicht durchführen, genauso wenig wie einfach im Keller sitzen. Es machte keinen Unterschied, wo man war. Und so wurde ich aus Butscha evakuiert. Aber während ich hier war, war ich entweder zuhause oder übernachtete in der Kirche.

 

 
Erzpriester Andrij Halavin, Vorsteher der Kirche des Heiligen Ersten Apostels Andreas, @ Andrij Didenko für KHPG

 

Am Anfang taten die Russen noch so, als wären sie höfliche Menschen und so weiter, als wir aber von all dem erfuhren, was in der Stadt passiert war, versetzte uns das in einen Schock. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte jeder in seinem Keller gesessen, es war unmöglich, in andere Stadtteile zu gehen. Die Menschen, die auf dem Territorium der Kirche begraben wurden, diese 116 Menschen, das waren Menschen, deren Leichen entweder in der Leichenhalle oder in der Nähe lagen. 

Es war unmöglich, die Leichen der Menschen, die in der Jablunskij-Straße lagen, wegzuholen. Die Menschen konnten dort sogar einen Monat lang auf der Straße liegen. Niemand konnte sie beerdigen. 

Die Menschen, die in diesem Viertel lebten, wussten nicht, dass es hier ein Massengrab gibt. Wir wussten nicht, was dort vor sich ging. Und erst als wir befreit wurden, sahen wir die Gräueltaten, die die Russen angerichtet hatten. Das war ein Schock für uns. 

In der Ivan-Franko-Straße wohnte ein Sänger, der in unserem Kirchenchor gesungen hatte. Die Verbindung zu ihm ging verloren. Nach der Befreiung begannen wir, nach ihm zu suchen. Und es stellte sich heraus, dass seine Familie und noch zwei Menschen derart gefoltert worden waren, dass einige von ihnen keine Beine mehr hatten. Sie hatten sie einfach verbrannt. Die Körper waren verkohlt. Wir mussten einige Monate auf die Ergebnisse der DNA-Tests warten, um die Tatsache ihres Todes juristisch zu bestätigen. Wir wussten, wer sie waren (durch bestimmte Merkmale), aber für uns war nicht wichtig, was wir fühlten und wussten, sondern dass es später möglich sein würde, den Verbrechern dies während eines Gerichtsprozesses zu präsentieren, den es früher oder später geben wird. 

Hier wird es früher oder später eine große Gedenkstätte geben. Das, was es jetzt gibt, ist vorübergehend. Wir können diese Leute nicht einfach so vergessen. Hier steht ein Kreuz der Erinnerung, zu dem wir gehen und beten. Vor kurzem haben wir eine Installation mit den Namen der Menschen aufgestellt, die in der Gebietskörperschaft Butscha umgekommen sind. Das sind etwa 500 Namen. Das sind Menschen, die wir kennen. Wir haben die Familiennamen, bei einigen fehlt das genaue Todesdatum. Ein Mensch wurde zum Beispiel getötet, aber es gibt keine Zeugen für den Mord. Wir können nur vermuten, wann dieser Mensch gestorben ist. Alle sind Einheimische. 

Wenn Lavrov in der UNO verkündet „Nennt uns Namen“ - wir haben hier alle Namen, kommen Sie hierher und nehmen sie zur Kenntnis.

 

 
@ Andrij Didenko für KHPG

 

Ich habe nichts dokumentiert. Ich habe einen Schlüssel zur Kirche, auf deren Territorium all' das geschieht. Morgens schließe ich auf, am Abend schließe ich zu [die Kirche]. Vor meinen Augen ist Vieles vor sich gegangen. Exhumierungen wurden vorgenommen. Staatsanwälte des Internationalen Strafgerichtshofes kamen mit ihrem DNA-Labor und haben uns sehr geholfen, denn sie hatten Schnelltests. Wir hätten mit unseren Tests viel länger auf die Ergebnisse warten müssen. Ich habe gesehen, wie das alles gemacht wurde, Wir sind sehr dankbar für die Hilfe. Alle Angehörigen, die nach ihren Lieben und ihren Verwandten gesucht haben, konnten einen DNA-Test abgeben und wenn in einiger Zeit, in einem halben Jahr, in einem Jahr zufällig eine Leiche gefunden wird: irgendwo von den Russen getötet, in einer Garage, in einem Keller oder im Wald vergraben, werden wir mit diesen DNA-Tests immer die Möglichkeit haben, diesen Menschen zu identifizieren. 

Wir haben einige Dutzend vermisste Personen. Wir wissen, dass diese Menschen irgendwo sind. Ein Teil dieser Menschen wurde in Russland gefunden. Das sind Zivilisten, die mit Militär nicht das Geringste zu tun haben. Sie sitzen in Russland in Gefängnissen. Aber es gibt Menschen, deren Aufenthaltsort unbekannt ist. Und es ist wahrscheinlich, dass leider die Zahl der Getöteten steigen wird. Deshalb gibt es die Gedenktafeln für Zivilisten. Wenn nötig, können wir sie ergänzen. 

Gibt es Menschen, die zunächst nicht, aber dann später identifiziert werden konnten?

 Ja. Ich habe ja von dem Sänger unserer Kirche erzählt. Da war das Problem, dass es Angehörige, die einen DNA-Test hätten abgeben können, nur noch auf der Seite der Mutter gab. Die ganze Familie war umgekommen. Die Mutter, der Vater, der Sohn, der Onkel. Die Schwester der Mutter gab eine DNA-Probe ab und man fand zuerst die Mutter. Dann machten sie Vergleichs-Tests und suchten den Sohn. Und dann suchten sie ausgehend vom Sohn den Vater. Wir mussten mehrere Monate warten, bis alle diese Tests und Untersuchungen abgeschlossen waren. Aus diesem Grund waren alle diese Menschen als nicht-identifiziert beerdigt worden. Wir wussten, wer wo begraben war und als die Zeit gekommen war, wurden sie dann zusammen umgebettet als eine Familie und als identifizierte Personen. Es kommen immer neue Test-Ergebnisse. Die Angehörigen können irgendwo im Ausland sein. Und wenn sie zurückkehren, können sie einen DNA-Test machen und nach einiger Zeit können die Menschen, die als nicht-identifiziert begraben worden waren, identifiziert werden. Solche Fälle gibt es bei uns.

 

 
Gedenktafeln mit Namen an der Kirche des Heiligen Ersten Apostels Andreas in Butscha, @ Andrij Didenko für KHPG

 

Die langjährige Erfahrung der Ukraine und Russlands, die man als Brudervölker bezeichnete, sagt, dass wir ein Ganzes sind. Jetzt entsteht eine solche Zwietracht, ein solcher Hass, eine solche Feindschaft... Das so genannte Brudervolk hat die Ukraine überfallen und wir sehen die Spuren der Zerstörung an dieser Kirche. 

Wie kann dieser Hass, diese Zwietracht überwunden werden? Ist es überhaupt möglich? Wie viel Zeit wird es brauchen, um diese beiden Völker zu versöhnen? 

Die Geschichte besagt, dass dies in der Theorie möglich ist. Ein gutes Beispiel ist der Zweite Weltkrieg. Als das faschistische Deutschland uns überfallen hat. Aber nun ist Deutschland eines der Länder, das uns hilft. Ich habe sowohl mit Journalisten und auch mit offiziellen Delegationen gesprochen, die zu uns kommen. Es gibt überhaupt keine Barrieren, überhaupt keine Fragen an sie. Die Nachkommen und Enkel der Menschen, die hier als Okkupanten waren, haben mit dem Krieg nichts zu tun, aber sie beunruhigt bis heute, was geschehen ist und sie fühlen Verantwortung. Für sie ist es wichtig, dass sich das niemals wiederholt.

 


Erzpriester Andrij Halavin, @ Andrij Didenko für KHPG

 

Wenn Verbrecher bestraft werden, wenn das Böse als böse bezeichnet wird, wenn diejenigen, die Verbrechen begangen haben, Reue zeigen und um Vergebung bitten, öffnet sich der Weg zur Versöhnung. 

Wahrscheinlich werden dafür Jahrzehnte nötig sein. Im Moment sehen wir im Verhältnis zu Russland eine völlig andere Situation. Niemand schickt sich an, Reue zu zeigen. Niemand gesteht seine Verbrechen. Im Gegenteil, sie sagen, dass sie das wiederholen können. Sie beschuldigen uns des Faschismus, irgendwelcher absurder Dinge. Und deshalb sehe ich keinen Weg zur Versöhnung, solange es keine Tribunale geben wird, solange die Verbrecher nicht bestraft werden und solange das Böse nicht als solches bezeichnet wird.


Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker


Das Video mit  Galavin finden Sie hier.

 

Das Projekt wird vom People in Need gefördert. Informationen zum Projekt finden Sie hier.

 

13. Mai 2024

 

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