Rede vom 16. Dezember 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,
gestatten sie mir, im Namen der Gesellschaft „MEMORIAL“ dem Europäischen Parlament für die hohe Auszeichnung – den Preis „für Gedankenfreiheit“, der den Namen von Andrej Sacharov trägt – zu danken.

Zunächst möchte ich folgendes sagen: Für „MEMORIAL“ gilt diese Auszeichnung nicht nur einer einzigen, wenn auch herausragenden Bürgerorganisation. Mit uns wird die gesamte Menschenrechtsbewegung in Russland gewürdigt, darüber hinaus auch der Teil der russischen Zivilgesellschaft, der mit den Menschenrechtlern sympathisiert. Bereits seit vierzig Jahren verfechten sie, anfangs in der Sowjetunion, danach in Russland, die „europäischen“, d.h. universale menschliche Werte. Dieser Kampf ist niemals leicht gewesen. In den letzten Jahren wurde er jedoch fatal, denn es geschieht immer häufiger, dass er den besten, aktivsten und furchtlosesten Personen zum Verhängnis wird. Ich bin sicher, dass das Europäische Parlament, als es der Gesellschaft „MEMORIAL“ den Sacharov-Preis zusprach, in erster Linie diese Menschen im Auge hatte – unsere ums Leben gekommenen Freunde, Mitstreiter und Gleichgesinnten. Ihnen gebührt zu Recht dieser Preis. Die erste, die ich in diesem Zusammenhang nennen muss, ist Natalja Estemirova, die Menschenrechtlerin und Mitarbeiterin von „MEMORIAL“, die in diesem Sommer in Tschetschenien ermordet wurde. Ich kann hier auch die Namen der anderen nicht verschweigen: den Anwalt Stanislav Markelov, die Journalistinnen Anna Politkovskaja und Anastasija Baburova, die in Moskau ermordet wurden, den Ethnologen Nikolaj Girenko, der in Petersburg erschossen wurde, und Farid Babajev, der in Dagestan ermordet wurde und viele andere – diese Liste lässt sich leider lange fortsetzen. Ich bitte die Anwesenden, das Andenken dieser Personen zu ehren, indem Sie sich erheben.
- Schweigeminute –
Danke.
Diese Menschen sind dafür gestorben, dass Russland ein wirklich europäisches Land wird, in dem sich das öffentliche politische Leben auf das Primat des Lebens und der Freiheit jedes einzelnen Menschen gründet. Und damit sind sie auch für Europa gestorben, denn Europa ist nicht vollständig ohne Russland.
Ich hoffe, allen Anwesenden ist klar, dass ich, wenn ich von „europäischen Werten“ und der „europäischen politischen Kultur“ spreche, diese Begriffe ausdrücklich mit keinem geographischen oder auch nur zivilisatorischen Inhalt, mit keinerlei „Europazentrismus“ verbinde. Ich bin überzeugt, dass die politische Kultur, die auf Freiheit und Persönlichkeitsrechten beruht, für das universale menschliche Wertsystem steht, das gleichermaßen für Europa und Afrika, Russland und China verbindlich sein kann; Europa hat diesen kardinalen Entwicklungsweg der Menschheit lediglich etwas früher als andere beschritten und ist etwas weiter auf ihm vorangekommen.
Bei dem heutigen Ereignis hängt alles symbolisch miteinander zusammen: Die Auszeichnung selbst, der Tag, an dem sie verliehen wird, jene, die sie verleihen und die, die sie verliehen bekommen.
Andrej Sacharov, der vor genau zwanzig Jahren starb, war nicht nur ein herausragender Verfechter der Menschenrechte in der Sowjetunion. Er war zudem ein außergewöhnlicher Denker, der zwei eminent wichtige Thesen vertreten und verteidigt hat. Die erste These besagt, dass nur die Überwindung der politischen Uneinigkeit und Feindschaft der Menschheit die Chance gibt, zu überleben, sich weiter zu entwickeln, den globalen Herausforderungen der Epoche gerecht zu werden sowie den Weltfrieden und Fortschritt auf unserem Planeten zu gewährleisten. Und die zweite These lautet, dass die Menschenrechte und in erster Linie die geistige Freiheit die einzige verlässliche Stütze sind, wenn es darum geht, die politische Uneinigkeit in der modernen Welt zu überwinden.
Die Europäische Gemeinschaft, deren Parlament diesen Preis noch zu Sacharovs Lebzeiten gestiftet hat, ist heute wahrscheinlich das Modell jener künftigen vereinten Menschheit, das dem Traum Sacharovs am nächsten kommt.
Die Gesellschaft „MEMORIAL“, die ich die Ehre habe hier zu vertreten, wurde mit unmittelbarer und aktiver Mitwirkung von Akademiemitglied Sacharov gegründet, der Vorsitzender ihres Initiativkomitees war. Natürlich geht die Auszeichnung von „MEMORIAL“ mit dem Sacharov-Preis nicht auf diesen Umstand zurück, sondern auf den gesamten Einsatz für die Menschenrechte und die historische Aufklärungsarbeit, die unsere Organisation jetzt schon zwanzig Jahre in Russland und einigen anderen Ländern leistet.
Wie ich schon sagte, begreifen wir diesen Preis nicht nur als Auszeichnung für „MEMORIAL“, sondern für die gesamte Menschenrechtsbewegung in Russland, die diese Würdigung auch verdient hat. Ich will versuchen, das zu beweisen.
In der letzten Zeit werden Russland und Europa immer häufiger in Gegensatz zueinander gebracht. In Russland ist es zur Mode geworden, von einem „besonderen russischen Weg“ zu sprechen, von einer „besonderen russischen Spiritualität“, von „besonderen nationalen Traditionen und Werten“. Und in der euro-atlantischen Welt hört man nicht selten Urteile über Russland als ein „überflüssiges“ Land, dessen abschreckende politische Entwicklung durch seine Geschichte bedingt ist, seine nationale Psychologie, die Besonderheiten seiner Zivilisation und ähnliche Spekulationen. Was soll man dazu sagen? Natürlich geht Russland wie übrigens auch jedes beliebige andere Land seinen eigenen Weg bei der Gestaltung des Lebens auf allgemein menschlichen Grundlagen. Nicht ein Volk in der Welt richtet sein Leben nach Rezepten und Schemata, die ausschließlich von außen entlehnt sind. Aber der Zusammenhang von Russland und Europa wird keineswegs nur dadurch bestimmt, wer was von wem übernimmt. Man kann die Frage auch anders formulieren: Hat Russland zu der vor unseren Augen entstandenen gesamteuropäischen und zur universalen menschlichen Zivilisation einen Beitrag geleistet? Und hier möchte ich an den singulären Beitrag Russlands zum geistigen, sozialen und politischen Fortschritt Europas und der Menschheit erinnern: an die Schlüsselrolle der russischen, genauer der sowjetischen Menschenrechtsbewegung bei der Entstehung der modernen politischen Kultur. Andrej Sacharov hat die Bedeutung der Menschenrechte und der geistigen Freiheit in der modernen Welt bereits 1968 neu durchdacht. Die Menschenrechtsorganisationen, die sowjetische Dissidenten gegründet hatten, setzten seine Ideen um in praktisches Handeln, vor allem die Moskauer Helsinki-Gruppe, die Ljudmila Alekseeva heute hier vertritt. Mitte der 70er Jahre mahnten diese Organisationen als erste öffentlich die Notwendigkeit an, die lautstarken Deklarationen über den internationalen Schutz der Menschenrechte mit der politischen Realität in Einklang zu bringen. Es gelang den sowjetischen Dissidenten, die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren, und die Öffentlichkeit der demokratischen Länder ihrerseits brachte die politische Elite des Westens dazu, von ihrem traditionellen Pragmatismus abzugehen und eine neue Sicht der Ziele und Aufgaben der internationalen Politik zu formulieren. Natürlich rief diese Entwicklung auch viele neue Probleme hervor, die noch nicht abschließend gelöst sind: Ein Beispiel ist die Doktrin der „humanitären Intervention“ und die Notwendigkeit einer rechtlichen und institutionellen Absicherung dieser Doktrin. Dennoch ist in den letzten dreißig Jahren nicht wenig getan worden, wenngleich noch viel zu tun übrig bleibt. Ich möchte nur daran erinnern, dass am Anfang dieses Prozesses die russischen Bürgerrechtler der 1970er Jahre standen, und schon aus diesem Grund kann Russland nicht aus der Reihe der europäischen Länder ausgeschlossen werden. Dies kann weder die derzeitige russische politische Elite noch können dies jene europäischen Politiker, die Russland als ein „überflüssiges Land“ betrachten.
Vielleicht bräuchte man all dies hier und aus Anlass dieser Zeremonie nicht zu sagen. Vielleicht würde es genügen, einfach zu betonen, dass es kein Zufall ist, dass der Preis des Europäischen Parlaments den Namen Andrej Sacharovs trägt. Ebensowenig war es ein Zufall, dass 1988, als er erstmalig verliehen wurde, ein Preisträger der russische Bürgerrechtler und Publizist Anatolij Martschenko war, der zwei Jahre zuvor im Vladimir-Gefängnis gestorben war.

Warum wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gerade in Russland wie nirgends sonst die Bürgerrechtsbewegung zum Synonym für staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein? Wie konnte sich der Gedanke an die Menschenrechte bis zu den globalen Extrapolationen Sacharovs entwickeln und die Qualität einer neuen politischen Philosophie annehmen, die Bedeutung für die gesamte Menschheit hat? Die Antwort auf diese Frage ist für mich evident: Das hängt mit der außergewöhnlich tragischen russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen, mit der Notwendigkeit, die blutige und schreckliche Vergangenheit zu verstehen und zu überwinden. Während die politische Modernisierung in der Nachkriegszeit in Westeuropa vom Zweiten Weltkrieg ausgelöst wurde und die logische Konsequenz aus der relativ kurzen Herrschaft des Nazi-Regimes in Deutschland war, wurde in der UdSSR und dann in Russland die notwendige Umgestaltung von der Erfahrung mit der 70 Jahre dauernden Herrschaft des kommunistischen Regimes diktiert, das in Stalins Terrorherrschaft kulminierte. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurden das Rechtsbewusstsein und das historische Gedächtnis zu den beiden grundlegenden Komponenten des im Lande entstehenden öffentlichen Verantwortungsbewusstseins. Die sich in jenen Jahren in der UdSSR formierende Bürgerrechtsbewegung positionierte sich von Anbeginn an in erster Linie als Bewegung zur Überwindung des Stalinismus im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben des Landes. In einem der ersten öffentlichen Texte dieser Bewegung – einem Flugblatt, das die Organisatoren der historischen Kundgebung am 5. Dezember 1965 zur Verteidigung des Rechts verbreitet hatten – wurde dies äußerst einfach und lakonisch zum Ausdruck gebracht: „In der Vergangenheit haben die Ungesetzlichkeiten der Machthaber Millionen sowjetische Bürger um Leben und Freiheit gebracht. Die blutige Vergangenheit ruft uns zu Wachsamkeit in der Gegenwart auf.“
Dieser besondere Zusammenhang der beiden Komponenten des staatsbürgerlichen Bewusstseins – des Rechtsbewusstseins und des historischen Gedächtnisses – ist vollständig zum Erbe der gegenwärtigen Menschenrechtsgemeinschaft in Russland geworden, ja wahrscheinlich der russischen Zivilgesellschaft insgesamt.
Mir scheint, die vorrangige Bedeutung, die Sacharov „MEMORIAL“ in den letzten Jahren und Monaten seines Lebens beigemessen hat, hängt damit zusammen, dass er diesen besonderen Aspekt klar gesehen hat. Die Gesellschaft „MEMORIAL“ wurde für viele gerade deshalb zum Symbol der Zivilgesellschaft, weil in ihrer Tätigkeit diese beiden grundlegenden Komponenten der russischen staatsbürgerlichen Verantwortung zusammentreffen.
Offenbar haben auch jetzt, zum 20. Todestag Sacharovs, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments diesen Aspekt empfunden und verstanden, als sie den Preisträger auswählten. Wir erinnern uns alle an die vom Europa-Parlament im April angenommene Resolution „Zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“. Diese Resolution beweist ebenso wie die darauf folgende Juli-Resolution der OSZE „Über die Wiedervereinigung des geteilten Europa“, dass ein vereintes Europa den Sinn und das Pathos unserer Arbeit verstanden hat. Und ich nutze die Gelegenheit, um Ihnen im Namen von „MEMORIAL“ für dieses Verständnis zu danken. Das Absurde der derzeitigen politischen Situation in Russland wird durch den Umstand deutlich illustriert, dass unser eigenes Parlament, das Parlament des Landes, das mehr und länger als alle anderen unter dem Stalinismus und der kommunistischen Diktatur gelitten hat, diese Resolutionen, anstatt sie vehement zu unterstützen, unverzüglich für „antirussisch“ erklärt hat.
Dies alles zeigt, dass der Stalinismus bis heute für Russland nicht nur eine historische Episode des 20. Jahrhunderts war. Einige Jahre chaotischer und unvollständiger politischer Freiheit haben wir verstreichen lassen. Der wesentliche Charakterzug des kommunistischen Totalitarismus - nämlich den Menschen als Verbrauchsmaterial zu betrachten - besteht fort. Die Ziele der Staatspolitik werden nach wie vor unabhängig von der Meinung und den Interessen der Bürger des Landes bestimmt.
Damit vor allem hängt es zusammen, dass sich das Regime einer „imitierten Demokratie“ im heutigen Russland etabliert hat. In der Tat werden alle Institutionen einer modernen Demokratie imitiert: eine Verfassungsordnung, ein Mehrparteiensystem, Parlamentswahlen, Gewaltenteilung, ein unabhängiges Gerichtssystem, unabhängiges Fernsehen usw. Eine ähnliche Imitation unter der Bezeichnung einer sozialistischen Demokratie existierte jedoch auch unter Stalin. Nur bedarf es heute für die Imitation keines Massenterrors. Es genügen die seit Stalins Zeiten verbliebenen Stereotypen öffentlichen Bewusstseins und Verhaltens.
Bei Bedarf wird im übrigen durchaus Terror eingesetzt. In den letzten zehn Jahren sind in der Tschetschenischen Republik über 3.000 Menschen „verschwunden“ – d. h. sie wurden entführt, gefoltert, außergerichtlich hingerichtet und an unbekannten Orten begraben. Diese Verbrechen begingen anfangs Vertreter der Föderalen Regierung, später wurde diese „Arbeit“ den lokalen Machtstrukturen „überlassen“.
Wieviele russische Täter wurden für diese Verbrechen bestraft? Man kann sie an einer Hand abzählen. Wer hat dafür gesorgt, dass sie zur Verantwortung gezogen und verurteilt wurden? In erster Linie die Menschenrechtlerin Natalja Estemirova, die Journalistin Anna Politkovskaja und der Anwalt Stanislav Markelov. Und wo sind sie alle heute? Sie alle wurden ermordet.
Wir sehen, dass sich die Gewalt, die in Tschetschenien zum Alltag geworden ist, über die tschetschenischen Grenzen hinaus ausbreitet und droht, das ganze Land zu erfassen.
Aber wir sehen auch, dass sich selbst unter diesen Umständen Menschen finden, die bereit sind, sich gegen eine Rückkehr der Vergangenheit zur Wehr zu setzen. Und das ist Grund zur Hoffnung. Wir wissen schließlich alle, dass niemand anders Russland auf den Weg der Freiheit und Demokratie zurückführen kann als Russland selbst, sein Volk, seine Verfassungsinstitutionen, seine Zivilgesellschaft.
Auch ist die Situation in unserem Lande nicht so eindeutig, wie dies dem oberflächlichen Beobachter scheinen mag. Wir haben in der Gesellschaft viele Verbündete – sowohl in unserem Kampf für die Menschenrechte als auch in unserer Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Zudem ist die russische Obrigkeit nicht so homogen, wie es auf den ersten Blick aussieht.
Was können wir bei alldem von den europäischen Politikern, von der europäischen öffentlichen Meinung erwarten? Andrej Sacharov hat diese Erwartungen vor über 20 Jahren so ausgedrückt: „Mein Land braucht heute sowohl Unterstützung als auch Druck“. Das vereinte Europa hat Möglichkeiten zu einer solchen hartnäckigen und zugleich freundschaftlichen Politik, die auf Unterstützung und Druckausübung beruht. Allerdings macht es keineswegs vollen Gebrauch davon. Hier nur zwei Beispiele, die „MEMORIAL“ aus seiner täglichen Arbeit bekannt sind.
Das erste ist die Bearbeitung von Klagen, die Bürger der Russischen Föderation beim Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eingereicht haben. Diese Institution könnte eine wirksame Unterstützung für das russische Rechtssystem werden. Es geht nicht nur um die Wiederherstellung der Rechte jener, die sich an Straßburg gewandt haben, und nicht nur darum, dass die Möglichkeit, dies zu tun, die russischen Gerichte zwingen soll, besser und unabhängig zu arbeiten. Worauf es aber ankommt, ist, dass die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Gerichts die Gründe beseitigen sollte, die zu Menschenrechtsverletzungen geführt haben.
In den letzten Jahren wurden in Straßburg über 100 Entscheidungen in „tschetschenischen“ Verfahren gefällt. Sie betrafen schwere Verbrechen staatlicher Vertreter gegen die Betroffenen. Und was ist geschehen? Nichts. Russland zahlt den Geschädigten korrekt die vom Europäischen Gericht festgesetzten Entschädigungssummen aus wie eine Art „Steuer für Straflosigkeit“. Eine Untersuchung der Verbrechen und einer Bestrafung der Schuldigen lehnt es ab. Die Militärmaschine, die zu massenhaftem Sterben von Menschen führt, wird nicht reformiert. Und alle Generäle, die in den Straßburger Urteilen namentlich genannt werden, kommen nicht vor Gericht, sondern sie werden befördert.
Und was tut der Ministerausschuss des Europarats, der die Ausführung der Gerichtsbeschlüsse überwachen soll? In Straßburg zuckt man mit den Schultern: „Was können wir tun?“ und schweigt.
Das zweite, allgemeinere Beispiel sind die Beziehungen Russlands und der Europäischen Union auf dem Gebiet der Menschenrechte. Heute laufen sie de facto darauf hinaus, dass die Europäische Union einmal im Halbjahr zu diesem Thema Konsultationen mit Russland durchführt. Wie wird diese Möglichkeit genutzt? Zweitrangige Funktionäre  verhandeln ein paar Stunden hinter verschlossenen Türen, Europa fragt nach Tschetschenien, Russland reagiert mit der Frage nach Estland oder Lettland – und dann geht man wieder für ein halbes Jahr auseinander. Nichtregierungsorganisationen, russische und internationale, organisieren Parallelveranstaltungen, Anhörungen, präsentieren Berichte. Die Vertreter Brüssels seufzen bei Begegnungen mit Menschenrechtlern bekümmert: „Was können wir denn tun?“ und schweigen.
Was soll Europa also im Verhältnis zu Russland tun? Von unserem Standpunkt aus ist die Antwort einfach: Es soll sich zu Russland ebenso wie zu jedem anderen europäischen Land verhalten, das bestimmte Verpflichtungen übernommen hat und für ihre Ausführung verantwortlich ist. Heute bringt Europa leider immer seltener seine Empfehlungen an Russland zu Demokratie und Menschenrechten zum Ausdruck. Manchmal zieht es vor, davon überhaupt nicht zu sprechen. Es ist gleichgültig, woran das liegt – ob man die Anstrengungen von vornherein für aussichtslos hält oder sich von pragmatischen Erwägungen leiten lässt, die mit Öl und Gas zu tun haben.
Europa darf nicht schweigen, seine Pflicht ist es, immer wieder zu wiederholen, daran zu erinnern, respektvoll und nachdrücklich darauf zu bestehen, dass Russland allen Verpflichtungen nachkommt. Natürlich gibt es nicht nur keine Garantien, sondern nicht einmal nennenswerte Hoffnungen, dass diese Appelle ihr Ziel erreichen. Wenn man aber gar nicht daran erinnert, wird dies von den russischen Machthabern mit Sicherheit als Nachgiebigkeit aufgefasst. Unangenehme Fragen von der Tagesordnung zu streichen schadet eindeutig Russland. Aber es schadet Europa nicht minder, da damit in Frage gestellt wird, ob die europäischen Institutionen den europäischen Werten noch treu sind.

Der Preis, mit dem Sie uns heute auszeichnen, trägt die Bezeichnung „Für Gedankenfreiheit“.
Wie könnte es unfreies Denken geben, wer wollte diese Freiheit begrenzen und wie? Es gibt einen Weg – das ist die Angst, die zum Teil der Persönlichkeit eines Menschen wird und ihn zwingt, so zu denken und sogar zu fühlen, wie man es von ihm wünscht. Die Menschen haben nicht einfach nur Angst, sie sehen geradezu einen Ausweg darin, den „Großen Bruder zu lieben“, wie es George Orwell in seinem Roman „1984“ beschrieben hat. So war es, als in Russland Stalin an der Macht war und als Hitler in Deutschland herrschte. Das wiederholt sich jetzt in Tschetschenien unter Ramsan Kadyrov. Diese Angst kann sich in ganz Russland ausbreiten.
Was kann dieser Angst entgegenwirken? So paradox es sein mag, nur und ausschließlich die Freiheit des Denkens. Diese Qualität, die Andrej Sacharov in ungewöhnlichem Ausmaß besaß, war sein Schutzschild gegen die Angst, und sein Beispiel befreite auch andere davon.
Die Freiheit des Denkens ist die Grundlage aller anderen Freiheiten.
Deshalb ist die Bezeichnung „Für Gedankenfreiheit“ für den Andrej-Sacharov-Preis so treffend. Wir sind stolz darauf, ihn heute zu bekommen.
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