Momente aus der Gerichtsverhandlung

Die Verhandlung über ein Verbot von Memorial International in Russland, wie es die russische Generalstaatsanwaltschaft fordert, begann heute vor dem Obersten Gericht. Sie brachte noch kein Ergebnis und wird am 14. Dezember fortgesetzt.

Der Andrang vor dem Gerichtsgebäude war groß, es kamen Medienvertreter, Diplomaten, Beobachter, Privatpersonen und natürlich Mitglieder und Mitarbeiter von Memorial – weit über hundert Personen -, von denen aber nur die wenigsten dem Verfahren beiwohnen konnten.

Dem Antrag der Verteidigung, Vertreter von Memorial Perm sowie der ausländischen Mitgliedsverbände Memorial France und Memorial Tschechien zum Prozess zuzulassen, da sie als „Unterabteilung“ von einer Auflösung betroffen wären, wurde nicht stattgegeben. Lediglich der Vorsitzende Jan Raczynski und die Geschäftsführerin Elena Zhemkova wurden zugelassen.

Zunächst wurden alle Anklagepunkte vorgetragen – also die in der Klageschrift genannten Materialien im Internet und sozialen Netzen, auf denen seinerzeit (2019) die fehlende Kennzeichnung als „ausländischer Agent“ beanstandet worden war. Daraufhin wurden immense Geldstrafen verhängt, die mithilfe von Crowdfunding aus Privatspenden bezahlt wurden, und sämtliche Texte, Bilder usw. wurden markiert.

Rechtlich gesehen sind das - inzwischen längst beseitigte - Ordnungswidrigkeiten, die jetzt als vorsätzliche anhaltende Gesetzesverstöße gedeutet und als Vorwand für das Verbotsverfahren genutzt werden. Den Hinweis darauf konterte die Staatsanwaltschaft mit der Behauptung, der Vermerk sei, wenn er denn tatsächlich vorhanden sei, in kleiner Schrift und unter den Publikationen platziert und so schwer zu finden. Allerdings gibt es gerade bei Nichtregierungsorganisationen eben keine Vorschrift darüber, wo die Kennzeichnung stehen muss – anders als im analogen Fall bei Medien.

Aus den (seinerzeit) fehlenden Markierungen wird noch der Vorwurf abgeleitet, Memorial verstoße gegen etliche internationale Menschenrechtspakte, darunter auch die Kinderrechtskonvention, weil das Recht auf Information verletzt worden sei (gemeint ist hier wieder die fehlende Auskunft über den Agentenstatus). Diese Pakte beziehen sich jedoch auf Staaten, nicht auf Organisationen, wie die Juristin Tatjana Gluschkova betonte. Die Anwälte legten eine Liste mit zahlreichen Auszeichnungen vor, die Memorial seit seiner Existenz bekommen hat (die letzte übrigens erst gestern).

Elena Zhemkova präsentierte ihre Visitenkarte, die mit dem geforderten Vermerk versehen ist. Auf Nachfrage des Gerichts erklärte sie, seit Anfang 2021 werde er bei den Visitenkarten aller Mitarbeiter angebracht. Jan Raczynski betonte, dass staatliche Stellen Memorial selbst zu Tätigkeiten heranziehe, die als „politisch“ gelten; als Beispiele nannte er das staatliche Programm zum Gedenken an Opfer des Stalinismus sowie die Mitarbeit in der Rehabilitierungskommission. Und NGOs, die politisch tätig sind und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, und sei sie noch so gering, werden als "Agenten" gebrandmarkt.

Vor dem nächsten Gerichtstermin müsste am 10. Dezember die traditionelle Zusammenkunft mit dem offiziellen Menschenrechtsrat mit Präsident Putin stattfinden. Es ist zu vermuten, dass das Verfahren gegen Memorial dort zur Sprache kommt. Zu hoffen bleibt vor allem, dass die überwältigende Solidaritätswelle auch in Russland doch noch Gehör findet. Die in Russland zirkulierende Petition zugunsten von Memorial wurde bisher bereits von über 100.000 Personen unterzeichnet.

25. November 2021

 

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