Schlusswort Oleg Orlovs vor Gericht

 

Auf der Grundlage einer gekürzten Übersetzung von Dekoder veröffentlichen wir das vollständige Schlusswort von Oleg Orlov, das er am 26. Februar vor Gericht vorgetragen hat. Sein Schlusswort zum vorgangegangenen Verfahren finden Sie hier.


Am Tag, als die Verhandlungen für diesen Prozess begannen, wurden Russland und die Welt von der furchtbaren Nachricht vom Tod Aleksej Navalnyjs erschüttert. Diese Nachricht erschütterte auch mich. Ich zog sogar in Erwägung, ganz auf das Schlusswort zu verzichten – ist es einem heute nach Worten zumute, wo wir alle noch unter dem Schock dieser Nachricht stehen? Aber dann überlegte ich es mir anders: Schließlich sind alle Vorgänge Glieder einer Kette – der Tod, genauer die Ermordung Aleksejs, die gerichtlichen Abrechnungen mit anderen Regimekritikern, darunter auch mit mir, die Erstickung der Freiheit im Land, die Invasion russischer Truppen in der Ukraine. Und ich beschloss, mich doch zu Wort zu melden.

Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich werde für einen Zeitungsartikel verurteilt, in dem ich das bestehende Regime in Russland als totalitär und faschistisch bezeichne. Der Artikel wurde vor über einem Jahr verfasst. Damals meinten einige meiner Bekannten, ich zeichnete ein zu düsteres Bild.

Aber inzwischen ist deutlich geworden, dass ich mitnichten übertrieben habe. Der Staat in unserem Land kontrolliert nicht nur das öffentliche, politische und wirtschaftliche Leben, sondern beansprucht auch die vollständige Kontrolle über Kultur und Wissenschaft sowie über das Privatleben. Er durchdringt alles.

Im Laufe von nur wenig mehr als vier Monaten, die seit dem Ende meines ersten Verfahrens vor diesem Gericht vergangen sind, ist viel passiert, das zeigt, wie schnell unser Land immer tiefer in dieser Finsternis versinkt.

Ich werde einige Vorgänge anführen, die sich im Hinblick auf Ausmaß und Dramatik unterscheiden.

- In Russland werden Bücher etlicher zeitgenössischer russischer Schriftsteller verboten.

- Die „nichtexistierende“ LGBT-Bewegung wurde verboten, was in der Praxis bedeutet, dass sich der Staat in das Privatleben seiner Bürger einmischt,

- In der Hochschule für Wirtschaft wird Studenten verboten, „ausländische Agenten“ zu zitieren. Jetzt müssen Abiturienten und Studenten vor allem erst einmal die Listen der „ausländischen Agenten“ studieren.

- Der bekannte Soziologe und linke Publizist Boris Kagarlizkij wurde zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt, weil er einige Worte zum Krieg in der Ukraine gesagt hatte, die nicht mit der offiziellen Linie übereinstimmen.

- Jemand, den Propagandisten als „nationalen Führer“ bezeichnen, kommentiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs öffentlich mit folgenden Worten: „Dennoch haben die Polen ihn gezwungen, sie haben es zu weit getrieben und Hitler gezwungen, den Zweiten Weltkrieg gerade mit ihnen zu beginnen. Warum hat der Krieg gerade mit Polen angefangen? Polen war nicht bereit zu kooperieren. Hitler blieb gar nichts anderes übrig, als bei der Umsetzung seiner Pläne eben mit Polen anzufangen.“

Wie soll man eine politische Ordnung nennen, in der all das geschieht, was ich gerade ausgezählt habe? Die Antwort lässt in meinen Augen keinen Zweifel zu. Leider hatte ich in meinem Artikel recht.

Verboten sind nicht nur öffentliche Kritik, sondern jegliches unabhängige Urteil. Man kann sogar für Dinge bestraft werden, die anscheinend gar nichts mit Politik oder Kritik an der Regierung zu tun haben. Es gibt keinen Bericht der Kunst, wo freie künstlerische Artikulation möglich wäre, es gibt keine freien Geisteswissenschaften, und es gibt kein Privatleben mehr.

Jetzt noch ein paar Worte zu den Anschuldigungen, die gegen mich und in vielen analogen Prozessen gegen jene erhoben wurden, die wie ich gegen den Krieg protestiert haben.

 

 Aufschrift auf dem Plakat Orlovs: UdSSR 1945 - ein Land, das den Faschismus besiegt hat. Russland 2022 - ein Land, in dem der Faschismus gesiegt hat


"Der durchgeknallte Putin treibt die Welt ein einen Atomkrieg"

 

Zu Beginn der Verhandlungen im jetzigen Verfahren gegen mich habe ich mich geweigert, mich daran zu beteiligen und hatte daher die Möglichkeit, während der Verhandlungen Kafkas Roman „Der Prozess“ zu lesen. Tatsächlich gibt es Gemeinsamkeiten in unserer heutigen Lage und der Situation, in die Kafkas Protagonist gerät – es ist eine Absurdität und Willkür, kaschiert durch die formale Einhaltung einiger pseudorechtlicher Prozeduren.

Man beschuldigt uns der Diskreditierung, ohne zu erklären, was das ist und worin sie sich von einer legitimen Kritik unterscheidet. Man beschuldigt uns, bewusst falsche Informationen zu verbreiten, ohne sich mit dem Beweis abzugeben, dass sie überhaupt falsch sind. Genauso ist die Sowjetmacht verfahren, die jegliche Kritik zur Lüge erklärte. Unsere Nachweise, dass eine Information zutrifft, werden zu einem Straftatbestand deklariert. Man beschuldigt uns, die Ansichten und die Weltanschauung nicht zu unterstützen, die die Führung des Landes als die richtigen verkündet – und das, obwohl es in Russland keine Staatsideologie geben darf. Wir werden schuldig gesprochen, weil wir bezweifeln, dass der Überfall auf ein Nachbarland dem Weltfrieden und der Sicherheit dient.

 

Absurdität

Kafkas Protagonist weiß bis Ende des Romans nicht einmal, wessen er bezichtigt wird. Dennoch wird er schuldig gesprochen und hingerichtet. Uns in Russland wird formal eine Anklage bekannt gegeben, aber wenn man darauf besteht, in rechtlichen und logischen Kategorien zu denken, ist es unmöglich, sie zu verstehen.

Im Unterschied zu Kafkas Held verstehen wir übrigens, weshalb man uns tatsächlich festnimmt, vor Gericht stellt, inhaftiert, verurteilt, ermordet. Man bestraft uns dafür, dass wir uns erlauben, die Machthaber zu kritisieren. Im heutigen Russland ist das kategorisch untersagt.

Abgeordnete, Ermittler, Staatsanwälte und Richter sagen dies nicht offen. Sie verbergen es hinter absurden und unlogischen Formulierungen neuer so genannter Gesetze, Schuldsprüche und Urteile. Aber es ist so.

Derzeit werden Aleksej Gorinov, Aleksandra Skotschilenko, Igor Baryschnikov, Vladimir Kara-Mursa und viele andere in Strafkolonien und Gefängnissen langsam getötet. Man beschuldigt sie, gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert zu haben und sich zu wünschen, dass Russland ein demokratischer, prosperierender Staat wird, der für seine Umgebung keine Gefahr darstellt.

In den letzten Tagen wurden Menschen einzig und allein deshalb festgenommen, bestraft und inhaftiert, weil sie zum Gedenken an den ermordeten Aleksej Navalnyj Blumen an Denkmälern für Opfer politischer Verfolgungen niedergelegt hatten. Navalnyj war ein großartiger Mensch, unerschrocken und aufrichtig. Er hat unter den extrem schweren eigens für ihn geschaffenen Haftbedingungen den Optimismus und Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht verloren. Natürlich handelt es sich hier um Mord, unabhängig von den konkreten Umständen seines Todes.

Die Machthaber kämpfen auch noch gegen den toten Navalnyj, sie haben sogar vor dem Toten Angst – und das mit Recht. Daher zerstören sie die spontan zu seinem Gedenken improvisierten Mahnmale.

Wer das tut, hofft darauf, den Teil der russischen Gesellschaft zu demoralisieren, der sich weiterhin für das Land verantwortlich fühlt.

Möge diese Hoffnung vergeblich sein.

Wir erinnern uns an den Aufruf Aleksejs: „Gebt nicht auf“. Von meiner Seite ergänze ich: „Und lasst den Mut nicht sinken, bewahrt euch den Optimismus. Die Wahrheit ist auf unserer Seite. Jene, die unser Land in diesen Abgrund geführt haben, in dem es sich jetzt befindet, repräsentieren das Alte, was brüchig geworden ist und sich überlebt hat. Sie haben keine Vorstellung von der Zukunft und von der Vergangenheit nur irrige Vorstellungen, Chimären von einer „imperialen Größe“. Sie treiben Russland zurück, in eine Dystopie, die Vladimir Sorokin in den „Der Tag des Opritschniks“ beschrieben hat. Aber wir leben im 21. Jahrhundert, Gegenwart und Zukunft sind mit uns, und das ist die Chance für unseren Sieg.

 

Wer heute an Verfolgungen mitwirkt, wird später zur Verantwortung gezogen werden

Abschließend möchte ich, vielleicht für viele unerwartet, mich an jene wenden, die jetzt die Repressionsschraube weiterdrehen. An Regierungsbeamte, Mitarbeiter der Sicherheitsorgane, Richter, Staatsanwälte.

Sie verstehen das alles sehr gut. Und längst nicht alle von Ihnen sind davon überzeugt, dass politische Verfolgungen unumgänglich sind. Mitunter bedauern Sie, was sie tun müssen, aber sagen sich: „Was kann ich tun? Ich führe nur Anweisungen von Vorgesetzten aus. Gesetz ist Gesetz.“

Ich wende mich an Sie, Euer Ehren, und an die Vertretung der Anklage. Haben Sie selbst denn keine Angst? Ist es nicht erschreckend zu sehen, was aus unserem Land wird, das auch Sie doch wahrscheinlich lieben? Ist es nicht schrecklich, dass in diesem absurden Zustand, in dieser Dystopie, nicht nur Sie und ihre Kinder, sondern vielleicht auch noch Ihre Enkel leben müssen?

Drängt sich Ihnen nicht der Gedanke auf, dass die Repressionswelle eines Tages auch jene treffen kann, die sie in Gang gesetzt und vorangetrieben haben? Das ist in der Geschichte schon viele Male geschehen.

Ich wiederhole, was ich schon im letzten Verfahren gesagt habe.

Gesetz ist Gesetz. 1935 wurden in Deutschland die so genannten Nürnberger Gesetze verabschiedet. Und nach dem Sieg 1945 wurden diejenigen, die diese Gesetze ausführten, zur Verantwortung gezogen.

Ich bin nicht völlig davon überzeugt, dass die derzeitigen Urheber und Vollzieher der russischen unrechtmäßigen, verfassungswidrigen Gesetze persönlich gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aber die Strafe wird unvermeidlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen zu sagen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gearbeitet haben. So wird es auch denen ergehen, die jetzt Befehle ausführen und Verbrechen in der Ukraine begehen. Das ist die schlimmste Strafe – und sie ist unausweichlich.

Für mich ist eine Strafe ebenfalls unausweichlich, weil unter den derzeitigen Umständen ein Freispruch bei einer solchen Anklage nicht möglich ist.

Jetzt werden wir sehen, wie das Urteil ausfällt.

Ich bedaure jedenfalls nichts und bereue nichts.

 

26. Februar 2024

 

 

 

 

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