Im Herbst 2017 wurde in Pensa ein Verfahren gegen eine angebliche Terror-Gruppe eingeleitet; im Zusammenhang damit wurden in Pensa fünf und St. Petersburg drei Personen festgenommen (darunter Arman Sagynbaev, der dann nach Pensa verbracht wurde). Sie sollen der Organisation „Set“ (Netz) angehören und Anschläge geplant haben. Inzwischen wurde bekannt, dass den Festgenommenen Waffen untergeschoben und sie massiv gefoltert wurden.

Darüber berichteten u. a. Jekaterina Kosarevskaja und Jana Teplizkaja, Mitglieder der Öffentlichen Beobachtungskommissionen, die die Gefangenen in der Haft besucht hatten. Am 15. April wurde in dem berüchtigten Fernsehkanal NTV eine Propaganda-Sendung ausgestrahlt, in der diese beiden Kommissionsmitglieder sowie weitere Menschenrechtsaktivisten, darunter auch Mitglieder von Memorial, in der dort üblichen Manier verleumdet wurden.

Das Ermittlungskomitee hat sich geweigert, wegen der Foltervorwürfe eines der Häftlinge, Viktor Filinkov, ein Verfahren zu eröffnen.

Im Februar hatte der russische Menschenrechtsrat (nicht mit dem von Michail Fedotov geleiteten Menschenrechtsrat beim Präsidenten zu verwechseln) zu diesem Fall nachstehende Erklärung veröffentlicht.
 

Seit November 2017 wurden vom Russischen Inlandsgeheimdienst FSB acht Aktivisten der Antifaschistischen Bewegung verhaftet. In St. Petersburg drei Personen: Viktor Filinkov, Igor Schischkin und Arman Sagynbaev, in Pensa fünf Personen: Dmitrij Ptschelinzev, Ilja Schakupskij, Jegor Zorin, Vasilij Kuksov, Andrej Tschernov. Die meisten von ihnen haben ein Geständnis abgelegt und alle wurden wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung angeklagt (§ 205.4 (2) StGB RF).

In der Folge stellte sich heraus, dass die Aussagen unter Folter zustande gekommen waren. Gemäß den Erklärungen der Verhafteten wurden sie in einen Wald gebracht, geschlagen, mit dem Kopf nach unten aufgehängt und mit Elektroschocks gefoltert. Ilja Kapustin, Zeuge im Verfahren, erklärte ebenfalls, gefoltert worden zu sein. Diese Aussagen werden durch Zeugenaussagen, durch Gutachten der Mitglieder der Öffentlichen Beobachtungskommission St. Petersburg und durch veröffentlichte Fotografien bestätigt. Einige Zeit verweigerte man den Anwälten den Zugang zu ihren Mandanten. Faktisch wurden die Personen von der Straße weg entführt, danach „verschwanden“ sie für einen Zeitraum von bis zu 48 Stunden, und in dieser Zeit wurden sie gefoltert, um Geständnisse zu erpressen. De facto handelte es sich um Entführungen. In die Städte Russlands haben Methoden Einzug gehalten, die zuvor im Rahmen von Anti-Terror-Operationen im Nordkaukasus in breitem Maßstab praktiziert wurden und sich in den letzten Jahren auch auf der Krim ausgebreitet haben.

Wir bestreiten nicht die Notwendigkeit, eine tatsächlich existierende terroristische Bedrohung zu bekämpfen. Im vorliegenden Fall allerdings wird ein Strafverfahren auf Grund von fabrizierten Beweisen konstruiert, unter grober Verletzung der Rechte der Verhafteten sowie der russischen Gesetzgebung.

Wir fordern die Einstellung des Strafverfahrens, das auf unzulässigen Beweisen aufgebaut ist. Wir fordern die Entfernung der Mitarbeiter, die ungesetzliche Methoden angewendet haben. Wir fordern eine effiziente Untersuchung der Folterungen. Zur öffentlichen Kontrolle der Untersuchung rufen wir die Menschenrechtsbeauftragte der RF sowie den Menschenrechtsrat beim Russischen Präsidenten dazu auf, alle ihre Möglichkeiten zu nutzen – insbesondere eine gemeinsame Kommission einzusetzen. Der Menschenrechtsrat Russlands wird eine sorgfältige öffentliche Kontrolle aller Umstände des Verfahrens durchführen.

 

Der Menschenrechtsrat Russlands

Ljudmila Alekseeva, Vorsitzende Moskauer Helsinki-Gruppe

Valerij Borschtschev, Vorstandsvorsitzender „Sozialnoe Partnerstvo“, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe

Svetlana Gannuschkina, Leiterin Flüchtlingshilfsorganisation Bürgerunterstützung „Grashdanskoe Sodejstvie“, Mitglied des Menschenrechtszentrums Memorial, Vorstandsmitglied Memorial International

Igor Kaljapin, Vorsitzender Komitee zur Verhütung von Folter („Komitet po predotvraschtscheniju pytok“)

Grigorij Melkonjanz, „Golos“ (Bewegung zum Schutz der Wählerrechte)

Oleg Orlov, Menschenrechtszentrum Memorial, Vorstandsmitglied Memorial International

Lev Ponomarev, Vorsitzender „Bewegung Für Menschenrechte“ („Sa prava tscheloveka“), Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe

Natalja Taubina, Direktorin Public Verdict („Obschtschestvennij verdikt“)

Aleksandr Tscherkassov, Vorstandsmitglied Memorial International, Vorstandsvorsitzender Menschenrechtszentrum Memorial

 

24. April 2018

 

Neben der Staatsanwaltschaft hat auch die Großmutter der Pflegetochter Jurij Dmitrievs gegen den Freispruch beim Obersten Gericht der Republik Karelien Berufung eingelegt. Im Telefongespräch mit einem Korrespondenten der unabhängigen Nachrichtenwebsite „7x7“ bestätigte die Frau, Berufung bei einem höheren Gericht eingereicht zu haben, weigerte sich allerdings, die Gründe darzulegen und schaltete das Telefon ab.

Wie eine den Sicherheitsorganen nahestehende Person der Redaktion von „7x7“ mitteilte, werden in naher Zukunft Journalisten eines überregionalen Presseorgans die Großmutter des Mädchens aufsuchen, um ein Interview mit ihr aufzuzeichnen. Ihre Auffassung, Dmitriev habe in Bezug auf das Kind ein Verbrechen begangen, könnte zum Ausgangspunkt eines erneuten Verfahrens im Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen werden. Dmitrievs Anwalt Viktor Anufriev hält dies für eine Provokation, das Oberste Gericht solle mit ungesetzlichen Methoden unter Druck gesetzt und beeinflusst werden. „Dmitriev selbst ruft seine Tochter Natascha derzeit weder an noch trifft er sie, da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, und sie gehen mit derart ungesetzlichen Methoden vor,“ sagt Anufriev.

Seiner Meinung nach befindet sich die Großmutter des Mädchens unter irgendwessen Einfluss. Zu diesem Schluss kam er nach ihrem Auftritt vor Gericht: In ihrer Aussage hatte sie gesagt, Dmitriev habe mit dem, was er mit dem Kind getan habe, ihre ganze Familie entehrt. Auf die Frage des Anwalts , was Dmitriev denn konkret getan habe, antwortete sie allerdings, das wisse sie nicht. Anufriev ist ebenfalls der Meinung, dass Natascha dem Einfluss der Großmutter ausgesetzt sei, die versuche, sie gegen Jurij Dmitriev einzunehmen.

Die Pflegetochter des Leiters von Memorial Karelien lebt nunmehr seit mehr als einem Jahr bei ihrer leiblichen Großmutter. Diese hatte sie seinerzeit in ein Heim gegeben, und Dmitriev hatte sie im Alter von drei Jahren zu sich genommen.

 

17. April 2018

Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial

„Am 28. März 2018 wurde der Leiter des Menschenrechtszentrum Memorial in Machatschkala Sirashutdin Daziev von einem Unbekannten überfallen. Gegen 9:30 Uhr am Morgen verließ Daziev sein Haus in der S. Aruchov Straße in Machatschkala, um zur Arbeit zu gehen. Nicht weit von seinem Haus stand ein Wagen der Marke Lada Priora mit abgedunkelten Fenstern. Als er an dem Auto vorbeiging, hörte er von hinten Schritte, dann verspürte er einen festen Schlag auf den Kopf mit einem unbekannten Gegenstand. Er stürzte, konnte jedoch – obwohl er das Bewusstsein nicht verlor – den Kopf nicht heben, so dass er den Angreifer nicht sah. Eine zufällige Zeugin erzählte Daziev später, dass aus dem Lada mit den abgedunkelten Fenstern ein Mann herausgesprungen sei, ihn eingeholt und auf den Kopf geschlagen habe, dann zu dem Wagen zurückgelaufen, eingestiegen und weggefahren sei. Daziev gelangte selbständig nach Hause. Der dorthin gerufene Rettungswagen brachte ihn in die Neurochirurgische Abteilung des Klinischen Krankenhauses der Republik.

Wir sind der Meinung, dass der Überfall auf Sirashutdin Daziev in Zusammenhang mit seiner beruflichen Aktivität steht.

Wir erinnern, dass in der Nacht auf den 23. Januar 2018 das Auto der Vertretung von Memorial in Machatschkala angezündet wurde und an dem Tag selbst auf dem Mobiltelefon der Vertretung ein Telefonanruf und eine SMS eingingen, in denen man drohte, die Memorial-Mitarbeiter zusammen mit dem Büro anzuzünden.“

Das Menschenrechtszentrum Memorial hat sich in Zusammenhang mit dem Angriff auf Daziev an die Ermittlungsbehörden der Republik Dagestan gewendet. Memorial ersucht die Behörden, den Überfall, die vorhergehenden Drohungen und die In-Brandsetzung des Wagens der Vertretung zu untersuchen, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und Maßnahmen zum Schutz der Memorial-Mitarbeiter in Dagestan zu ergreifen.

Der Menschenrechtskommissar des Europarats Nils Muižnieks hat den Angriff auf Daziev bereits entschieden verurteilt und die russische Regierung aufgefordert, sofortige Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechtler zu ergreifen.

 

30. März 2018

 

 

 

 

Das Stadtgericht Petrozavodsk hat am 5. April Jurij Dmitriev vom Vorwurf der Pornographie freigesprochen, ihn jedoch wegen unerlaubtem Waffenbesitz zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Unter Anrechnung der in Untersuchungshaft verbrachten Zeit steht Dmitriev nun damit noch faktisch drei Monate unter gerichtlicher Aufsicht und muss nicht ins Gefängnis zurück. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft neun Jahre Haft (in strengem Regime) wegen angeblicher Kinderpornographie beantragt. Dmitriev wurde das Recht auf Rehabilitation zuerkannt.

Wir erinnern daran, das Dmitriev seit vielen Jahren die Geschichte des sowjetischen Terrors in Karelien erforscht. Seiner Arbeit ist es zu verdanken, dass die Namen von über 13.000 Opfern ermittelt und in einem Gedenkbuch verzeichnet wurden. Sein Name ist außerdem vor allem mit der Gedenkstätte Sandormoch bei Medvezhegorsk verbunden, wo während der Zeit des Großen Terrors Tausende von Menschen erschossen wurden.

 

6. April 2018

Ein Bericht von Katya Akopyan und Christina Riek

 

Im Oktober und November letztes Jahres fand unsere deutsch-russische Jugendbegegnung gegen Antiziganismus "Vorurteile ins Abseits!" in St. Petersburg und Berlin statt. Zwanzig Jugendliche aus beiden Ländern diskutierten über die Entstehung von Vorurteilen, Stereotypen und Formen der Diskriminierung. Außerdem beschäftigten sie sich mit der Situation von Sinti und Roma in Russland und Deutschland. Andrei Jakimow (Ethnologe aus St. Petersburg) hielt einen Vortrag über die Geschichte und soziale Lage der Roma in Russland. Mit Anastasia Nekosakowa (Memorial St. Petersburg) wurde darüber diskutiert, wie die Lebensumstände von Roma in Russland verbessert werden können. Maria Musatowa vom Roma Education Fund stellte das Stipendienprogramm ihrer Stiftung für Studierende vor. Mit StipendiatInnen konnten sich die TeilnehmerInnen über das Studium und generell über die Situation russischer Roma unterhalten. Im Rahmen eines Workshops konnten die Jugendlichen ihre eignen Projekte entwickeln und sich Maßnahmen zur Unterstützung von Roma überlegen. Außerdem besuchten die TeilnehmerInnen die gemeinnützige Organisation „Nochlezhka“, die obdachlose Menschen in Sankt Petersburg unterstützt und sich für ihre Rechte einsetzt. Hier diskutierten die TeilnehmerInnen mit Mitarbeiterinnen der Organisation über Diskriminierung und Ausgrenzung, die Personen erfahren, die ohne festes Zuhause leben. Zum Abschluss dieser intensiven Woche lernten die TeilnehmerInnen Petersburg auch noch von der Newa aus kennen und lieben!

In der Jugendbildungsstätte Kaubstraße in Berlin nahmen die TeilnehmerInnen dann die deutsche Gesellschaft unter die Lupe und diskutierten, wie Vorurteile entstehen. In unterschiedlichen Übungen lernten die Jugendlichen, wie und warum bestimmte Gruppen diskriminiert werden.

Sie besuchten das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas und befassten sich in der Gedenkstätte Sachsenhausen intensiv mit dem Völkermord. Mit Georgi Ivanov (Amaro Foro e.V.) und Hannah Neumann (Die Grünen) diskutierten die TeilnehmerInnen über aktuell notwendige Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von v.a. aus Südosteuropa kommenden Roma. Dotschy Reinhardt (Landesrat der Roma und Sinti RomnoKher Berlin-Brandenburg e.V.) las aus ihrem Buch "Everybody's Gypsy" und berichtete im Anschluss über den Rassismus, der ihr als Sinteza immer wieder widerfährt. Am vorletzten Tag der Begegnung waren die Jugendlichen im Jüdischen Museum, wo sie sich mit jüdischer Kultur und Geschichte sowie mit Migration und Diversität in Deutschland auseinandersetzten. Im Rahmen der Begegnung entstand eine im Studio der "Alten Feuerwache" produzierte Radiosendung, an der alle TeilnehmerInnen begeistert mitarbeiteten. Der Besuch der Kuppel des Reichstagsgebäudes mit Blick über das abendliche Berlin war eines der vielen Highlights dieser spannenden Begegnung!

Die Radiosendung wird gesendet am Ostermontag, 2. April und am Montag, 9. April jeweils um 14 Uhr über Radio Alex und im Live-Stream (https://www.alex-berlin.de/radio/livestream.html).

Das Projekt wurde in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Austausch und Deti Peterburga durchgeführt und von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" und der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch gefördert.

 

30. März 2018

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