MEMORIAL International verurteilt die Kampagne gegen Vladimir Lukin, den Ombudsmann für Menschenrechte der Russischen Föderation. Den Wortlaut der Erklärung finden Sie unter http://www.memo.ru/2010/07/13/lukin.htm
Am 16. Juli hat die russische Staatsduma in dritter und letzter Lesung den Gesetzentwurf angenommen, der die Vollmachten des Föderalen Sicherheitsdiensts FSB erweitert.
Der FSB erhält damit das Recht zu Vorbeugungsmaßnahmen gegen Verbrechen, deren Ermittlung in seine Zuständigkeit fallen. FSB-Mitarbeiter können den Bürgern offizielle Verwarnungen zukommen lassen im Hinblick auf die Unzulässigkeit ihrer Handlungen.
Viele Vertreter der russischen Zivilgesellschaft und der Opposition hatten gegen den Gesetzentwurf Stellung bezogen. Am 16. Juli wurden in Moskau drei Mitglieder von „Jabloko“ festgenommen, die eine ungenehmigte Kundgebung gegen die Erweiterung der Vollmachten des FSB durchführten.
Weitere Informationen in deutscher bzw.englischer Sprache finden Sie hier:
http://www.rightsinrussia.info/home/hro-org-in-english-1/fsb/memorial-statement
(06.03.2002)
Das Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation und MEMORIAL Moskau veröffentlichen CD-ROM zu Stalins "Erschießungslisten"
Mit der Veröffentlichung dieser CD-ROM werden Stalins sogenannte "Erschießungslisten" erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die 60 Jahre lang strengster Geheimhaltung unterlagen. Vor allem in den Jahren 1936 bis 1938 fällten Stalin und eine Gruppe ihm nahestehender Mitglieder des Politbüros systematisch Urteile über Erschießungen und Lagerhaft, die auf nichts weiter beruhten als auf vom Geheimdienst NKWD zusammengestellten Listen. Diese Listen erhielten keinerlei Informationen über die Verhafteten und die ihnen vorgeworfenen Vergehen, sondern lediglich deren Vor- und Nachnamen, Vatersnamen und Vorschläge des NKWD für das Strafmaß. Nach der Prüfung durch das Politbüro wurden die Listen an das Kriegskollegium des Obersten Gerichtshof der UdSSR übergeben und dort - nur noch eine Formalität - juristisch ausgefertigt. Auf diese Weise sind mehr als 40 000 Menschen erschossen oder in Lager geschickt worden.
Die Praxis der "Erschießungslisten" geht auf eine Verordnung zurück, die das Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare 1934 als Reaktion auf die Ermordung Kirovs erlassen hatten. In dieser Verordnung wurden bei Verdacht auf terroristische Tätigkeit Untersuchungsverfahren auf eine Dauer von höchstens 10 Tagen beschränkt. Gerichtsverhandlungen sollten ohne Anwesenheit der Angeklagten und ohne die Befragung von Zeugen vonstatten gehen, das Einlegen von Berufung und Begnadigungsgesuche waren nicht zugelassen. Todesurteile in solchen Fällen sollten so schnell als möglich vollstreckt werden.
Die ersten Versuche, dieses "vereinfachte" Verfahren in breitem Maßstab anzuwenden, gab es im Herbst 1936. Auf die Bitte des Volkskommissars für innere Angelegenheiten, Jeszov, beschloss das Politbüro die "Verurteilung" von 585 auf einer Liste aufgeführten Personen, denen die Mitgliedschaft in einer "trotzkistischen konterrevolutionären terroristischen Organisation" vorgeworfen wurde. 1937 begann dann die regelmäßige Bestätigung solcher Listen durch das Politbüro. Nach September 1938 wurde die Aburteilung von Personen anhand von Listen seltener. Noch fünf solcher Listen - die letzte aus dem April 1950 - mit insgesamt 1125 Namen fanden sich im Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation.
Die Arbeit des Obersten Gerichtshof war nach der Prüfung der Listen durch das Politbüro nur mehr bloße Formalität. Zwar sind die Protokolle der Sitzungen des Gerichts der Forschung leider immer noch nicht zugänglich, doch geht aus den erhältlichen Auszügen hervor, dass die Anhörung jedes Angeklagten nicht länger als fünf bis zehn Minuten gedauert hat.
Nicht alle Mitglieder des Politbüros, nur die engen Vertraute Stalins waren in die Prüfung dieser Listen einbezogen. Am häufigsten findet man unter den Listen die Unterschriften von Molotow und von Stalin selbst, die jeweils an der Überprüfung von über 350 solcher Listen beteiligt waren. Erhalten geblieben sind auch Randbemerkungen, die Stalin, Molotow oder andere auf die Listen gekritzelt haben.
Die Listen auf der CD-ROM sind mit einer Stichwortsuchfunktion versehen und - soweit es möglich war - durch biographische Daten über die Repressionsopfer ergänzt. Es bleibt zu hoffen, dass im Zuge dieser Veröffentlichung noch weitere ähnliche Dokumente in den Archiven ans Tageslicht kommen.
Mehr hierzu auf russisch: www.memo.ru/daytoday/sp.htm
(07.03.2002)
(ein Bericht aus der Zone des bewaffneten Konfliktes von Alexander Tscherkasow, einem Mitarbeiter des Zentrums für Menschenrechte "Memorial", vom 5.03.2002)Weiterlesen … Wohin "verschwinden" Menschen in Tschetschenien?
(18.03.2002)
aus dem Russischen übersetzt von Marlen Wahren
Die Arbeit der medizinischen Einrichtungen
Die Reparatur- und Wiederaufbauarbeiten der medizinischen Einrichtungen in der tschetschenischen Republik gehen sehr langsam voran. Die Lage in den zur Zeit funktionierenden 53 Krankenhäusern der Republik ist katastrophal. Über das Gesundheitsministerium gelangen kaum noch Medikamente oder medizinische Ausstattung in die Krankenhäuser. Schmerzlich zu spüren ist der Mangel an Fachkräften. In der ganzen Republik gibt es 2,5 mal weniger Ärzte und 1,7 mal weniger Krankenschwestern als notwendig wären.
In den meisten medizinischen Einrichtungen fehlt eine ausreichende Energieversorgung, was die Durchführung von schwierigen chirurgischen Operationen unmöglich macht. Deshalb bemühen sich die Angehörigen, Schwerkranke mit einer Überweisung des Gesundheitsministeriums auswärtig zu behandeln zu lassen (allein im letzten Monat (Februar 2002) wurden vom Gesundheitsministerium der Tschetschenischen Republik 817 Überweisungen ausgeschrieben). Diese Probleme resultieren aus der sehr schwachen Finanzierung des Gesundheitswesens der Tschetschenischen Republik.
Bis auf den heutigen Tag werden folgende Gebäude medizinischer Einrichtungen von militärischen Einheiten der Föderalen Streitkräfte genutzt: das Tuberkulosekrankenhaus der Stadt Grosnij, das Eisenbahnkrankenhaus des Bezirks Oktjabrskij der Stadt Grosnij, das Schatojsker Kreiskrankenhaus und das Krankenhaus der Siedlung Kargalinskaja im Bezirk Schaelkovskij. Der Schwerpunkt der Belastung in der Republik liegt heute auf dem 9. Krankenhaus der Stadt Grosnij, das seit dem 15. Oktober 2001 die Funktion der Nothilfestation erfüllt. Die Rekonstruktion des Gebäudes, in dem die Ärzte im Augenblick arbeiten müssen, geht praktisch nicht voran. Die Reparaturarbeiten an dem fünfstöckigen Komplex wurden begonnen, hier sollen zwei chirurgische, eine traumatologische, eine gynäkologische, eine neurochirurgische, eine otolaringologische Abteilung entstehen, sowie eine Sofortkardiologie, eine therapeutische und Rehabilitationsabteilung. Die Beendigung der Arbeiten war für Ende Mai 2002 geplant, dem Tempo der Arbeiten nach zu urteilen wird der Plan jedoch nicht eingehalten.
Die Energieversorgung des Krankenhauses erfolgt nicht kontinuierlich. So gab es im Januar drei aufeinander folgende Tage lang kein Licht, heute wird regelmäßig für einen Tag in der Woche der Strom abgestellt. Währenddessen nutzen die Ärzte einen autonomen Generator, der dem Krankenhaus vom Internationalen Roten Kreuz zu Verfügung gestellt wurde, dessen Leistung jedoch nur die Energieversorgung für Operation und Reanimation sicherstellen kann.
Für die Wasserversorgung des Krankenhauses sorgt eine polnische humanitäre Organisation. Mithilfe dieser Organisation wurden auf dem Gelände des Krankenhauses die sanitären Einrichtungen gebaut und werden die Krankenpflegerinnen bezahlt.
Nach den Angaben des stellvertretenden Chefarztes Naschchojev Rosambek Movsajevitsch funktionieren im Krankenhaus:
- zwei chirurgische Abteilungen, die laut Stellenplan auf 90 Betten ausgelegt sind
- eine traumatologische Abteilung mit 60 Betten
- eine gynäkologische Abteilung mit 60 Betten
- eine neurochirurgische Abteilung mit 30 Betten
- die Kiefer- und Gesichtschirurgie mit 15 Betten
- die Therapie mit 30 Betten
- die Reanimation mit 9 Betten.
Außerdem arbeitet die Notfallaufnahme, wo täglich bis zu 15 Menschen behandelt werden.
Neben dem 9. Krankenhaus funktioniert die Polyklinik, die allein in der vergangenen Woche (vom 18. bis 23. Februar) 623 Menschen aufnahm.
Die Arbeit des Zentrums für Blutspende ist noch nicht eingerichtet. Blut für die Kranken wird vor allem von ihren Verwandten gespendet. In extremen Situationen ist es oft notwendig sich mit dieser Bitte an die Mitarbeiter des ROVD (die örtliche Polizei) zu wenden, deren Stützpunkt sich neben dem Krankenhaus befindet.
Die hauptsächlichen Probleme des Krankenhauses sind nach den Angaben des Arztes Naschchojev:
- das Fehlen von diagnostischer Ausrüstung, insbesondere von neurochirurgischer und Endoskopieapparaten. Die Nutzung von kürzlich eingetroffener Ausstattung ist wegen ihrer Unvollständigkeit nicht möglich.
- das Fehlen von Fachspezialisten: in der gesamten Republik gibt es nur einen Spezialisten für Neurochirurgie; es gibt keinen einzigen Fluorographen.
- die Unsicherheit sowohl der Ärzte wie der Patienten.
Nach Beobachtungen der Ärzte häufen sich in der Republik Fälle von Tuberkulose-Erkrankungen (für Untersuchungen solcher Patienten gibt es im Krankenhaus nicht einmal die entsprechende Ausstattung), von Krebs- und Schilddrüsenerkrankungen, es gibt viele Fälle von gynäkologischen Krankheiten, ebenso wie von Herzgefäßpathologie, Lebererkrankungen (eine Folge der schlechten Ernährung), kardiologischen und neurologischen Erkrankungen und Diabetes. Viele Erkrankungen sind durch die schweren Verhältnisse in der Republik bedingt.
Sehr viele Menschen werden mit von Minen verursachten Verletzungen in die Krankenhäuser eingeliefert. Im 9. städtischen Krankenhaus werden im Durchschnitt 60 Menschen mit solchen Verletzungen im Monat aufgenommen. Allein an einem Tag, am 24. Februar, wurden 4 Patienten, die durch Minen verletzt wurden, im Krankenhaus eingeliefert.
Das Gehalt der Ärzte und des medizinischen Personals ist gering, es wird aber regelmäßig und pünktlich ausgezahlt.
Die Bildungseinrichtungen der Stadt Grosnij
Nach den Angaben des stellvertretenden Leiters des Departements für Bildung der Stadt Grosnij, Omarov Sultan Achmadovitsch, funktionieren derzeit 45 Schulen in der Stadt, von denen die Mehrzahl nicht wiederaufgebaut ist. Die Klassenräume, in denen die Kinder lernen, wurden mit vereinten Kräften von Lehrern, Eltern und den Schülern selbst in Ordnung gebracht, damit dort der Unterricht stattfinden kann. Nach dem föderalen Zielprogramm sollten im Jahr 2001 15 Schulen wiederhergestellt werden. Allerdings wurden in 12 von diesen Schulen, in denen mit Wiederaufbauarbeiten begonnen wurde, bis heute die Arbeiten nicht fertiggestellt. In den schon arbeitenden Schulen Nr. 34 und Nr. 50 und dem Internat Nr. 1 wurde der versprochene Wiederaufbau noch nicht einmal in Angriff genommen. In dem selben Programm ist für das Jahr 2002 die Wiederherstellung von 22 weiteren Schulen geplant. Vor dem Hintergrund all dieser Probleme freut es besonders, dass die Reparatur- und Wiederaufbauarbeiten in den Schulen vorangehen, die von internationalen Organisationen wiederhergestellt werden. So wird die Schule Nr. 16 von der Organisation "Dänischer Rat" und die Schule Nr. 7 von der tschechischen Organisation "Mensch in Not" wiederaufgebaut. Am ersten Januar dieses Schuljahres lernten in den arbeitenden Schulen der Stadt Grosnij 19718 Schüler und Schülerinnen.
Bis zum ersten Krieg im Jahr 1994 wurden in den Schulen der Stadt Grosnij 39797 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Im ersten Semester des Schuljahres 2001/2002 wurden 1709 Schüler und Schülerinnen in die Schulen der Stadt aufgenommen, während im selben Zeitraum 1909 Schülerinnen und Schüler abgingen, d.h. ihre Zahl verringerte sich um 200. Die Hauptprobleme in den Schulen sind das Fehlen von Unterrichtsmaterialien und der Mangel an Fachkräften.
Im Durchschnitt sind die ersten bis elften Klassen der Stadt Grosnij zu 31,5% bei einem Bedarf von 185150 Stück mit Lehrbüchern versorgt. Von den 82633 Lehrbüchern, die in den Jahren 2000/2001 zur Verfügung gestellt wurden, sind 19379 für die Arbeit nicht zu verwenden, aus dem einfachen Grunde, dass sie nicht dem Programm entsprechen. Es gibt praktisch keine Lehrbücher für den Muttersprach- und Literaturunterricht, was die Arbeit der Lehrer in den Klassen und die Erledigung der Hausaufgaben für die Kinder erschwert.
Die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer betrug zu Beginn des Schuljahres 1217, am Ende des ersten Halbjahres war sie auf 1394 Personen gestiegen. Den Anstieg der Zahl der qualifizierten Lehrer und Lehrerinnen, die eine Stelle annehmen, bringt der stellvertretende Leiter des Departements für Bildung, Omarov Sultan, mit der Erhöhung des Gehalts in Verbindung. Das Gehalt für Lehrerinnen und Lehrer wird seit Januar ausgezahlt, ebenso wie die gesamte Schuldenlast aus den Jahren 2000 bis 2002 getilgt wurde.
Die soziale Situation im Gebiet Urus-Martanovskij
Das Gebiet Urus-Martanovskij mit dem Kreiszentrum Urus-Martan liegt im Gebirgsvorland der tschetschenischen Republik. Seine Bevölkerung zählt um die 103000 Menschen. Das sind ungefähr 10% der Bevölkerung der Republik. In diesem Gebiet liegen die Siedlungen Alchan-jurt, Alchazurovo, Gechi, Gechi-tschu, Goj-tschu (das ehemalige Komsomolskoje), Gojskoje, Gojty, Martan-Tschu, Roschin-Tschu, Schalaschi, Tangi-Tschu, sowie die Niederlassungen namens Mitschirina und Krasnopartisanskij. Im Verlauf der Kriegshandlungen wurden fast alle Ortschaften zerstört. Am schwersten wurde die Siedlung Goj-tschu (das ehemalige Komsomolskoje) in Mitleidenschaft gezogen. Sie wurde vollständig zerstört. Schwere Zerstörungen gab es in der Kreisstadt Urus-Martan und in den Siedlungen Alchan-Jurt und Gechi-tschu. 1996 wurde auch die Ortschaft Gojskoje durch Kriegshandlungen vollständig zerstört. In den Jahren 1996 bis 1999 wurde sie teilweise wiederaufgebaut. Im gesamten Gebiet wurden nach den Angaben der Gebietsadministration 8253 Häuser zerstört. Von seiten der Obrigkeit wurden im Verlauf der Jahre 2000/2001 fast keine Arbeiten zum Wiederaufbau der zerstörten Unterkünfte durchgeführt. Hilfe wurde den Betroffenen allein vom Dänischen Flüchtlingsrat geleistet. Diese humanitäre Organisation verteilte in der Ortschaft Goj-tschu an ungefähr 300 Familien Baumaterial. Seit dem Herbst 2001 begann die Finanzierung des Wiederaufbaus von Wohnungen auch von seiten der staatlichen Organe - für die Direktion der Bau- und Wiederaufbauarbeiten wurden Mängellisten und Listen von Wohneigentum, das zur Wiedererrichtung bestimmt ist, zusammengestellt. Allerdings ist dieses Verzeichnis nicht sehr umfangreich. So werden in der Siedlung Gojskoje voraussichtlich 16 Häuser wiederaufgebaut. Seit Beginn des Jahres 2002 sind die Bauarbeiten unterbrochen, es ist geplant, die Arbeiten Anfang März vorzusetzen.
Das Gebiet Urus-Martanov ist ein landwirtschaftliches Gebiet. Hier gibt es keine großen industriellen Unternehmen. Die arbeitsfähige Bevölkerung ist mehrheitlich arbeitslos. Zum Ende des Jahres 2001 begann die Registrierung der Arbeitslosen, am 1. Februar 2002 waren bereits 4056 Menschen als arbeitslos registriert und noch ist die Registrierung nicht abgeschlossen. Wer sich als arbeitslos hat registrieren lassen, bekommt eine Unterstützung in der Höhe von 100 Rubel im Monat.
Im Gebiet Urus-Martanov gibt es 29 funktionierende Schulen, in denen 19224 Schüler und Schülerinnen unterrichtet werden. Während der Kriegshandlungen wurden Schulen in den Ortschaften Alchan-jurt, Goj-tschu und Gojskoje zerstört. Drei Schulen in diesen Siedlungen wurden nicht wiederaufgebaut und in dem Gebäude der Internatsschule befindet sich die Abteilung des Inneren des Gebietes Urus-Martanov.
Die Verwaltung des Rentenfonds des Gebietes Urus-Martanov hat die geschuldeten Renten für die gesamte vorangegangene Periode ausgezahlt. Die laufenden Auszahlungen erfolgen regelmäßig. Im Gebiet leben 17437 Pensionäre.
In den Siedlungen des Gebietes arbeiten fünf Krankenhäuser. In der Kreisstadt Urus-Martan befindet sich das zentrale Gebietskrankenhaus. Im Laufe der Kriegshandlungen wurde es nicht zerstört. Allerdings ist auch hier der Mangel an medizinischer Ausrüstung, Materialien und Medikamenten schmerzlich zu spüren. So steht wegen des Fehlens von Filmen das Röntgenkabinett oft still, obwohl nach den Angaben der Ärzte ungefähr 1 % der Bevölkerung an Tuberkulose erkrankt ist. Ebenso fehlt es an qualifizierten Ärzten.
In den Siedlungen des Gebietes Urus-Martanov gibt es viele Binnenmigranten, nach offiziellen Angaben sind 28870 Menschen als solche registriert. Es sind Einwohner der Ortschaft Goj-tschu, der Stadt Grosnij und anderer Siedlungen. Augenblicklich erhalten diese Menschen Hilfe vom Dänischen Flüchtlingsrat und vom Internationalen Roten Kreuz, aber diese Hilfe ist nicht ausreichend.
(11.04.2002)
Am 16. Mai 2002 gab der Ausschuss gegen Folter der Organisation der Vereinten Nationen "Schlussfolgerungen und Empfehlungen" hinsichtlich der Einhaltung des "Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe" durch die Russische Föderation bekannt, die vor allem verschiedene Aspekte der Menschenrechtslage in der Tschetschenischen Republik berühren. Dies ist nicht zuletzt auch auf den Beitrag der russischen nichtstaatlichen Organisationen, insbesondere von "Memorial" zurückzuführen.
Der UN-Ausschuss gegen Folter hatte vom 29. April bis zum 17. Mai 2002 in Genf getagt, und auf den Sitzungen am 13., 14. und 16. Mai war die Einhaltung des "Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe" durch die Russische Föderation erörtert worden.
Die Russische Föderation hatte dem Ausschuss rechtzeitig ihren dritten turnusmäßigen Bericht über die Einhaltung des Übereinkommens vorgelegt, der den Zeitraum 1996-2000 umfasst.
Russische nichtstaatliche Menschenrechtsorganisationen haben zu dem Bericht der Regierung Stellung genommen. Gleichzeitig haben einige internationale und auch russische Menschenrechtsorganisationen dem Ausschuss zusätzliches Material präsentiert. So hat die internationale Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" eine Denkschrift verbreitet, "Memorial" legte ein kurzes Referat über die Anwendung von Folter im militärischen Konfliktgebiet in Tschetschenien vor (das Referat wurde ins Französische übersetzt und vom internationalen Dachverband der Menschenrechtsorganisationen FIDH verbreitet).
Nachdem die UN-Menschenrechtskommission auf ihrer 59. Tagung die Annahme einer Resolution zur Lage in der Tschetschenischen Republik (mit sechzehn gegen fünfzehn Stimmen!) abgelehnt hatte, sind nunmehr "Schlussfolgerungen und Empfehlungen" durch ein offizielles Organ der Vereinten Nationen verabschiedet worden, die auf viele Aspekte der Menschenrechtssituation im nördlichen Kaukasus eingehen:
"7. Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Tschetschenien bringt der Ausschuss seine Besorgnis insbesondere über folgende Punkte zum Ausdruck:
a) nach wie vor gehen zahlreiche Mitteilungen ein über schwere Verletzungen der Menschenrechte und der Bestimmungen des Übereinkommen, darunter willkürliche Verhaftungen, Folter und Misshandlungen einschließlich der Erzwingung von Geständnissen, unrechtmäßiger Hinrichtungen, gewaltsamen Verschwindens, v. a. während "Spezialoperationen" oder "Säuberungen", und ebenso über zeitweilige Einrichtung illegaler Gefangenenlager, einschließlich "Filtrationslager". Ungewöhnlich häufig sind Beschwerden über brutale sexuelle Gewalt. Außerdem sind erneut militärische Einheiten in das Konfliktgebiet entsandt worden, die für ihre besondere Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung bekannt sind;
b) die in Tschetschenien eingesetzten militärischen Verbände unterstehen vielfach unterschiedlichen Behörden, was die Identifizierung derjenigen Soldaten erschwert, die für die oben genannten Verstöße verantwortlich sind;
c) die fehlende effiziente Umsetzung der oben genannten Befehle Nr. 46 und 80;
d) das duale Rechtssystem in Tschetschenien, das aus militärischen und zivilen Staatsanwälten und Gerichten besteht, was zu inakzeptabel langen Verzögerungen bei der Klageerhebung führt und einen Kreislauf in Gang setzt, in dem Informationen und Ermittlungskompetenzen von einer Stelle zur anderen und zurück verschoben werden, ohne dass die Strafverfolgung eingeleitet wird. Der Ausschuss stellt mit Besorgnis fest, dass die zivilen Staatsanwälte militärisches Personal nicht befragen dürfen und an Militärstandorten keine Ermittlungen zur Beweiserhebung durchführen dürfen, deren Ergebnisse erforderlich wären, um die Militärstaatsanwaltschaft zur Aufnahme der Strafverfolgung zu verpflichten. Zu Besorgnis gibt ferner die fehlende Unabhängigkeit der Militärgerichte, der Militärstaatsanwälte und -richter Anlass, wodurch nur in sehr wenigen Fällen gegen Militärangehörige, die eines Fehlverhaltens verdächtig sind, Anklage erhoben wird.
[…]
9. Im Hinblick auf die Lage in der Tschetschenischen Republik empfiehlt der Ausschuss ferner, dass die Russische Föderation
a) die justizielle Zuständigkeit für die Vorfälle in Tschetschenien klärt, deren Status derzeit unbestimmt ist, da der Ausnahmezustand nicht erklärt worden ist, obwohl nach wie vor ein bewaffneter Konflikt nicht-internationaler Art besteht. Eine solche Klärung würde den Opfern wirkungsvolle Mittel an die Hand geben, Schadenersatz für etwaige Rechtsverletzungen zu erhalten, und so verhindern, dass sie in einen Teufelskreis unterschiedlicher militärischer und ziviler Ressorts und Dienststellen geraten;
b) Obwohl in Tschetschenien eine Vielzahl von Mechanismen zur Prüfung von Beschwerden betreffend Menschenrechtsverletzungen geschaffen wurde, besitzt keine dieser Strukturen die Merkmale eines unabhängigen und unparteilichen Untersuchungsorgans. Der Ausschuss wiederholt seine Schlussfolgerung von 1996, in der die Regierung des Vertragsstaats aufgefordert wurde, einen glaubwürdigen, unparteilichen und "unabhängigen Ausschuss einzusetzen, der die Vorwürfe betreffend die Verletzung des Übereinkommens durch die Streitkräfte der Russischen Föderation und Tschetschenische Separatisten untersucht, um diejenigen zur gerichtlichen Verantwortung zu ziehen, die erwiesenermaßen an solchen Taten beteiligt oder mitschuldig waren";
c) die wirksame Umsetzung der Befehle Nr. 46 und 80 sicherstellt sowie klare Richtlinien für die Durchführung von "Säuberungen" verabschiedet;
d) die Kompetenzen des Sonderbeauftragten des Präsidenten der Russischen Förderation für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte in der Tschetschenischen Republik so erweitert, dass dieser Untersuchungen durchführen und Staatsanwälten Empfehlungen im Hinblick auf mögliche Strafsachen geben kann;
e) Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Streitkräfte ziviler Kontrolle unterliegen und dass das Verbot der Schikanierung sowie von Folter und Misshandlung innerhalb der Streitkräfte unter Wehrpflichtigen wie Offizieren praktisch eingehalten wird;
f) die Bildung einer aus Vertretern der Militär- und der Zivilstaatsanwaltschaft bestehenden gemeinsamen Ermittlungsgruppe vorsieht, solange nicht die Möglichkeit besteht, festzustellen, in wessen sachliche und richterliche Zuständigkeit eine Angelegenheit fällt."
Wir hoffen, dass die zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen diese "Schlussfolgerungen und Empfehlungen" entsprechend einbringen können.
(Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Koch)
(11.04.2002)
aus dem Russischen übersetzt von Agnes Gilka-Bötzow
Am 7. April 2002 wurde der internationalen historisch-aufklärerischen Menschenrechtsorganisation Memorial der Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschrechte 2002 verliehen. Die vom Lew-Kopelew-Forum gestiftete Auszeichnung erhielt die Organisation MEMORIAL "für ihre Verdienste um die Aufarbeitung der Stalin-Diktatur und ihren Einsatz zum Schutz der Menschenrechte". Bundespräsident Johannes Rau, der den Preis überreichte, bezeichnete MEMORIAL als einen der wichtigsten Pioniere der demokratischen Entwicklung in Russland. "Die Deutschen wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, die ganze Wahrheit über ihre totalitäre Vergangenheit zu sagen. Denn anders kann eine demokratische Erneuerung nicht gelingen.", mahnte Rau.
Fritz Pleitgen, Intendant des WDR, sieht in der Organisation MEMORIAL eine der wertvollsten Errungenschaften der neuen Epoche in Russland, da ihre Hauptaufgabe heute wie in der Vergangenheit der Schutz der Menschenwürde sei. "Memorial untersucht nicht nur die Verbrechen des Totalitarismus, sondern wendet sich auch heute mutig gegen Menschenrechtsverletzungen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. MEMORIAL setzt sich dafür ein, dass die Stimmen der Opfer von Menschenrechtsverletzungen bei UNO, Europarat und OSZE gehört und Verbrechen auf die Tagesordnung gesetzt werden", betonte Pleitgen.
Die Vertreter von MEMORIAL bei der Preisverleihung waren A. B. Roginskij (Vorsitzender), E. B. Schemkowa (geschäftsführende Direktorin) und A. J. Daniel (Vorstandsmitglied und Direktor des Programms "Die Geschichte des Andersdenkens in der UdSSR").
A. B. Roginskij erläuterte in seiner Rede den Zusammenhang zwischen dem Kampf des Dissidenten Lew Kopelew und der heutigen Tätigkeit von Memorial und erinnerte an die Aufgaben eines wahren Historikers. Das Wichtigste sei es, die Wahrheit über die Ereignisse der Vergangenheit herauszufinden. Der Historiker muss Fakten sammeln, verifizieren, systematisieren und analysieren, um sie dann der Öffentlichkeit vorzustellen. Die Aufgaben eines Menschenrechtlers seien im Grunde die gleichen, mit dem einzigen Unterschied, dass sie Ereignisse in der Gegenwart betreffen.
"Der Sinn unserer Tätigkeit liegt im Kampf für Wahrheit und Recht, für eine demokratische Zukunft unseres Landes.", sagte A. B. Roginskij. "Das ist der gleiche Kampf, den jahrzehntelang auch Lew Kopelew mit einer Handvoll gleichgesinnter Dissidenten führte. Wir setzen einfach die von ihm begonnene Arbeit fort. Wir machen weiter unter neuen Bedingungen natürlich, die weit weniger gefährlich aber wahrscheinlich nicht weniger schwierig sind."
Weiterlesen … MEMORIAL erhält den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2002
(19.06.2002)
Die Organisationen (u.a. Memorial, die Moskauer Helsinki-Gruppe, die Gesellschaft für russisch-tschetschenische Freundschaft, das "Echo des Krieges") erinnern in ihrem Schreiben an die im November vergangenen Jahres anlässlich des Bürgerforums getroffenen Vereinbarungen, die regelmässige Arbeitstreffen zwischen Vertretern des Staates und NGO`s zur Frage der Wahrung der Menschenrechte in der Tschetschenischen Republik vorsehen.
Zuständig für diese Treffen sind von staatlicher Seite der Präsidentenberater Jastreschembski sowie der Sonderbeauftragte des russischen Präsidenten für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte in der Tschetschenischen Republik Kalamanow.
Seit letzten Januar haben die Treffen regelmäßig in Tschetschenien stattgefunden, ein Treffen wurde in der Moskauer Präsidialverwaltung durchgeführt; ständige Kontakte bestanden zwischen den NGO`s und Vertretern der Staatsanwaltschaft, dem Sonderberater des russischen Präsidenten für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte in der Tschetschenischen Republik und den militärischen Befehlshabern.
Nach nunmehr sechsmonatigen Beratungen und Arbeitstreffen müssen die NGO`s jedoch zu ihrem tiefen Bedauern feststellen, dass ihre Arbeit im Wesentlichen ergebnislos blieb. Einzig sichtbarer Erfolg dürfte der Befehl Nr. 80 des Oberkommandierenden für den Nordkaukasus sein. Der Befehl regelt das Vorgehen der Streitkräfte bei der Durchführung von Spezialoperationen in Ortschaften und soll der Willkür und Gewaltanwendung gegenüber der Zivilbevölkerung Grenzen setzen.
Mehr als zwei Monate nach seiner Veröffentlichung zeigt sich jedoch, dass der Befehl allgemein und vorsätzlich durch die Streitkräfte missachtet wird. Eine Antwort auf die Frage, was konkret unternommen wird, um die Einhaltung des Befehls sicherzustellen, und wer für die gezielte Missachtung des Befehls bestraft wird, erfolgte nicht. Die Mehrzahl der Anfragen, die die NGO`s an die Staatsanwaltschaft richteten, blieb inhaltlich unbeantwortet. Damit wird der Gedanke eines "Gesprächsforums" über Menschenrechtsfragen in der Tschetschenischen Republik insgesamt diskreditiert.
Die Menschenrechtsorganisationen erklären deshalb, dass sie nicht bereit sind, an der Schaffung "potemkinscher Dörfer" mitzuwirken und dies auch in Zukunft nicht tun werden: "Wir möchten nicht, dass "die gemeinsame Arbeit der staatlichen Organe und der NGO`s zum Schutz der Menschenrechte in Tschetschenien" lediglich der Deckmantel ist, unter dem Willkür und Gewaltmissbrauch wie bisher praktiziert werden."
Die NGO`s äussern ihre Zweifel daran, ob die Fortsetzung der Arbeit im Rahmen der Gesprächsforen zur Wahrung der Menschenrechte in der Tschetschenischen Republik in der bisherigen Form noch sinnvoll und zweckmäßig sein kann. Die NGO`s haben daher vor dem planmäßigen Juni-Treffen einen Verfahrenskatalog für den gegenseitigen Informationsaustausch vorgeschlagen, der vorsieht, dass konkrete Anfragen am darauffolgenden Treffen durch die Vertreter der Staatsanwaltschaft nach bestimmten Vorgaben beantwortet werden. Ferner wurde Beispielmaterial für die gezielte Missachtung des Befehls Nr. 80 mit detaillierten Orts- und Zeitangaben in den Brief aufgenommen.
Weitere Information finden Sie in russischer Sprache auf der Website von Memorial Moskau unter www.memo.ru
Weiterlesen … Offener Brief russischer NGOs (Menschen- und Bürgerrechte in Tschetschenien)
(03.07.2002)
Übersetzt aus dem Französischen
Der Europarat in Straßburg veröffentlichte am 30. Mai 2002 die neuen Empfehlungen von Menschenrechtskommissar Gil-Robles zur Wahrung der Rechte des Einzelnen bei Festnahme und Inhaftierung anlässlich sog. "Säuberungsaktionen" in der Tschetschenischen Republik.
1. "Die Behörden sollten alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 46 des Generalstaatsanwalts der Russischen Föderation und des von General Moltenskoi erlassenen Befehls Nr. 80 bei der Überprüfung des gemeldeten Wohnsitzes (propiska) im Verhältnis zum Aufenthaltsort in der Tschetschenischen Republik, d.h. sog. "Säuberungsaktionen" der Streitkräfte, tatsächlich eingehalten und mögliche Verstöße gegen diese Bestimmungen streng bestraft werden.
2. Der Generalstaatsanwalt sollte nach Artikel 22 des Verfassungsgesetzes der Föderation (N 168-FZ vom 17. November 1995 über die Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation) Sorge tragen, dass die zivilen Staatsanwälte praktischen Zugang zu allen Einrichtungen, einschließlich militärischer Stellungen, erhalten, in denen Zivilisten inhaftiert sind, um sicherzustellen, dass die Bürger bei Festnahme und Inhaftierung einer Zivilperson durch Soldaten oder auf dem Gelände einer militärischen Stellung auch tatsächlich in den Genuss der verfassungsmäßig garantierten Rechte kommt.
3. Zur Umsetzung der genannten Empfehlungen und zur wirksamen Wahrung der Menschenrechte könnte der Generalstaatsanwalt im Rahmen seiner Regelbefugnis einen speziellen Mechanismus der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen zivilen und militärischen Staatsanwälten in Tschetschenien einrichten. So könnten z.B. gemischte Gruppen, die aus einem zivilen und einem militärischen Staatsanwalt bestehen, gebildet werden, die gemeinsam in einer militärischen Stellung auftreten, um bei einer Untersuchung miit den Inhaftierten zusammenzutreffen und gegebenenfalls auf der Grundlage ihrer jeweiligen Zuständigkeit ein rechtliches Verfahren gegen diese einzuleiten bzw. die strafrechtliche Verfolgung möglicher Verstöße der Soldaten bei der Festnahme von Zivilisten aufzunehmen.
4. Die materiellen und personellen Mittel der zivilen Staatsanwalt sollten verstärkt werden, damit diese ihre Kontroll- und Ermittlungssaufgaben ordnungsgemäß erfüllen kann.
5. Die notwendigen Maßnahmen sollten ergriffen werden, um den Angehörigen der Inhaftierten und gegebenenfalls auch den aktiv mit der Wahrung der Menschenrechte in Tschetschenien befasst NROs die Möglichkeit zu geben, sich über den Verbleib der bei Aktionen zur Überprüfung des gemeldeten Wohnsitzes (propiska im Verhältnis zum Aufenthaltsort in Tschetschenien festgenommenen und/oder inhaftierten Personen zu informieren."
Alvaro Gil-Robles
Kommissar für Menschenrechte des Europarats
Straßburg, den 30. Mai 2002
Weitere Informationen finden Sie auf der website des Europarats:www.commissioner.coe.int/docs/CommDH-Rec(2002)1_F.htm
(12.07.2002)
Auf dem Bürgerforum im November vergangenen Jahres wurden regelmäßige Arbeitstreffen zwischen Regierungsvertretern und NGO`s zur Frage der Wahrung der Menschenrechte in der Tschetschenischen Republik vereinbart.
Von staatlicher Seite waren Präsidentenberater Jastreschembski sowie der Sonderbeauftragte des russischen Präsidenten für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte in der Tschetschenischen Republik Kalamanow für diese Treffen zuständig. Seitens der NGO`s waren die Organisationen Memorial, die Moskauer Helsinki-Gruppe, die Gesellschaft für russisch-tschetschenische Freundschaft und das Tschetschenische Komité für nationale Rettung vertreten. Ein erstes Gespräch fand im Januar dieses Jahres statt.
Am 07. Juni 2002 richteten die NGO`s ein Schreiben an Jastreschembski und den Direktor des Büros des Sonderbeauftragten des Präsidenten für den Schutz der Bürger- und Menschenrechte in Tschetschenien und brachten ihre Enttäuschung über die seit Januar in diesen Treffen erzielten Ergebnisse zum Ausdruck. Gleichzeitig wurden Zweifel an Sinn und Zweck der Fortsetzung der Gespräche in der bisherigen Weise geäussert und konkrete Vorschläge formuliert, um die Arbeit künftig ergiebiger zu gestalten.
Am 08. Juli fand wiederum ein Treffen der Ständigen Arbeitsgruppe in Grosny statt, nach dessen Abschluss die NGO`s erklärten, dass ihre Teilnahme an den Gesprächen suspendiert würde. Sie erklärten im Einzelnen:
- Wir untersützen den Dialog zwischen Staat und Gesellschaft und möchten konstruktiv mit den staatlichen Organen an der so brennenden Frage der Menschenrechtssituation in der Tschetschenischen Republik zusammenarbeiten.
- Wir haben im Laufe der sechsmonatigen Treffen und Konsultationen den staatlichen Organen regelmäßig konkrete Informationen zur Situation der Menschenrechte vorgelegt, Vorschläge zur Verbesserung der Lage unterbreitet und waren bereit, den Dialog aufzunehmen.
- Leider sind die staatlichen Organe nicht bereit, einen ehrlichen und offenen Dialog mit den NGO`s zu führen. Auf unsere Fragen erhielten wir lediglich nichtssagende Antworten; die Frage nach der Bestrafung derer (einschließlich der Generäle), die den Befehl Nr. 80 nicht ausführten, und was die militärische Führung der Antiterroroperationen konkret gegen die fortgesetzte massenhafte Verletzung der Menschenrechte durch die Streitkräfte unternimmt, blieb unbeantwortet.
- Unter diesen Bedingungen sind wir der Auffassung, dass die Fortführung der Gespräche und Konsultationen zwischen NGO`s und staatlichen Organen in der bisherigen Form nicht nur sinnlos, sondern konterproduktiv ist.
- Wir behalten uns das Recht vor, mit einer Beschwerde an die Präsidialverwaltung und die Regierung der russischen Föderation als Mitorganisatoren heranzutreten.
(12.07.2002)
(Zusammenfassung aus dem Russischen / Quelle www. memo.ru)
Am 10.07.2002 hat der Föderationsrat dem Gesetz über den alternativen Wehrdienst zugestimmt, das eine Woche zuvor von der Staatsduma verabschiedet worden war. Es gibt wenig Zweifel daran, dass auch der Präsident Russlands das Gesetz unterzeichnen wird. Soweit bekannt, hat der Präsident bei einem Treffen mit den Fraktionschefs der Staatsduma das Gesetz gutgeheißen.
Diese Meinung weicht scharf von der Position russischer gesellschaftlicher Organisationen ab. In ihrer kürzlich verabschiedeten Erklärung hat die Gruppe der gesellschaftlichen Organisationen "Für einen demokratischen alternativen Wehrdienst" das von der Staatsduma verabschiedete Gesetzes als repressiv, unsozial, korrupt und einen den realen Interessen des Staates widersprechenden Akt bewertet.
Von allen denkbaren Varianten des alternativen Dienstes, die im Land mehr als 10 Jahre diskutiert wurden, hat der russische Staat die härteste und am wenigsten effiziente gewählt.
Selbst für den Laien ist erkenntlich, dass dieses System den Haushalt belasten, die gravierenden sozialen Probleme des Landes nicht lösen und die Rechte junger Leute nicht wahren wird. Dafür aber schützt das Gesetz durchaus die Interessen des Verteidigungsministeriums, d.h. nicht der russischen Armee und nicht der russischen Soldaten und Offiziere, sondern der militärischen Führung.
Dies ist ein eindrucksvoller Beweis ihrer völligen Unfähigkeit und ihres Unwillens, Reformen in den Streitkräften durchzuführen.
Das Gesetz über den alternativen Wehrdienst
- macht den alternativen Zivildienst faktisch wiederum zu einem Wehrdienst, da es zulässt, dass die Zivildienstleistenden auch ohne deren Einverständnis in Einrichtungen der Armee eingesetzt werden;
- schafft den in der Welt längsten Dienst, der gleichsam als Strafe abgeleistet wird;
- sieht den Einsatz überwiegend nach dem Grundsatz der Extraterritorialität vor, d.h. die Zivildienstleistenden bleiben für den Dienst nicht in ihrem Heimatort, sondern werden durch die Armee an anderen Orten eingesetzt;
- diskriminiert den Zivildienst, weil es von nichtvolljährigen Jugendlichen die Aufgabe ihrer Überzeugungen verlangt;
- bietet die Möglichkeit, den Dienst den Behörden zu unterstellen, die über bewaffnete Strukturen verfügen.
Die Verabschiedung des Gesetzes vollzog sich unter beispiellosem Druck des Generalstabs auf die gesetzgebende und ausführende Gewalt. Wir sind es schon gewöhnt, dass die Duma kremlfreundlich abstimmt.
Als neu erweist sich, dass auch die Regierung Russlands so offensichtlich, frech und erfolgreich über den Tisch gezogen wird.
Denn noch genau eine Woche, bevor das Gesetz die entscheidende zweite Lesung durchlief, fand sich die Mehrheit der Ministerien in Übereinstimmung mit dem Standpunkt der gesellschaftlichen Organisationen, die die Interessen der Zivilgesellschaft vertreten,
- dass die Dauer des Dienstes auf keinen Fall die des Wehrdienstes mehr als die Hälfte übersteigen dürfe;
- dass der Dienst am Wohnort geleistet werden soll und
- dass die jungen Leute auf jeden Fall das Recht haben müssen, nicht in Einrichtungen der Armee zu arbeiten.
Monate harter gemeinsamer Arbeit von Experten der gesellschaftlichen Organisationen und der Regierung wurden einem politischen Handel geopfert. Der Kreml hat die Interessen des Verteidigungsministeriums höher angesiedelt als die Interessen des gesamten Staates und der gesamten Gesellschaft. (…)
Die Art, wie das repressiven Gesetz über den alternativen Wehrdienst zustandegekommen ist, und die Tatsache, dass monatelange Gespräche geplatzt sind, stellen ein wichtiges Signal in der kurzen Geschichte des Dialogs zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft dar, der sich nach dem Bürgerforum entwickelt hatte.
Dieser Verlauf der Ereignisse wirft für die Zivilgesellschaft unvermeidlich die Frage auf, ob die weitere Fortsetzung des Dialogs und Entwicklung der Zusammenarbeit noch möglich und sinnvoll sind.
Zu den Unterzeichner der Erklärung gehören:
Historisch-aufklärende Menschenrechtorganisation Memorial
Moskauer Helsinki-Gruppe
Vereinigung der Komitees der Soldatenmütter Russlands
Zentrum für das Wachstum der Demokratie und Menschenrechte
Fonds zur Verteidigung der Glasnost
Humanitäres Zentrum "Mitgefühl"
Institut des nationalen Projektes "Gesellschaftlicher Vertrag"
Internationaler sozial-ökologischer Bund
Menschenrechtsinstitut
(30.07.2002)
Angehörige der russischen Streitkräfte sind am 18. Juli 2002 widerrechtlich in das Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial in Grosny eingedrungen.
Mitarbeiter der Organisation wurden bei diesem offensichtlichen Versuch, die unliebsamen Menschenrechtler einzuschüchtern, nicht verletzt. Lediglich ein Teil der Einrichtung wurde beschädigt.
Memorial unterrichtete die für innere Angelegenheiten zuständigen Stellen sowie die Kommandobehörde und die Staatsanwaltschaft Grosny über den Vorfall.
Die Kontaktstelle in Grosny wird ihre Arbeit wie bisher fortführen.
Weiterlesen … "Säuberungsaktion" in der Kontaktstelle von Memorial in Grosny
(20.10.2002)
In einem offenen Brief vom 5. Oktober 2002 bittet der Vorsitzende des Zentrums für Menschenrechte von MEMORIAL, O.P.Orlow, die georgische Regierung, keine tschetschenischen Kämpfer mehr an Russland auszuliefern. Das VN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe untersage die Auslieferung an Staaten, in denen gefoltert wird. Orlow verweist auf die kriminellen Ermittlungsmethoden der russischen Behörden und unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Terroranschläge und Straftaten durch kompetente und unparteiische Gerichte verfolgt und bestraft würden. In Russland könne jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die festgenommenen tschetschenischen Kämpfer in einem fairen Verfahren verurteilt würden.
Weitere Informationen auf der russischen Website.
(23.10.2002)
In seinem Antwortschreiben an das Zentrum für Menschenrechte von MEMORIAL vom 23.10.02 erklärt Schewardnadse, dass die wegen Grenzverletzung festgenommenen 5 Personen tschetschenischer Staatsangehörigkeit an die Russische Föderation ausgeliefert wurden, nachdem die russische Staatsanwaltschaft feste Garantien bezüglich der Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Rechte abgegeben hatte.
Die Angelegenheit acht weiterer Inhaftierter werde derzeit durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geprüft. Die georgischen Behörden würden den dort getroffenen Beschluss umsetzen.
(24.10.2002)
Erklärung gesellschaftlicher Organisationen
Gestern fand in Moskau eine massenhafte Geiselnahme friedlicher Menschen statt, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Dies ist ein Akt von unmenschlichem Terrorismus, ein Verbrechen, für das es eine Rechtfertigung weder gibt noch geben kann.
Wir müssen erneut erkennen, dass in Russland Krieg herrscht, und dass dieser Krieg in seine schrecklichste, grausamste Phase getreten ist – in einen Partisanenkrieg, in einen terroristischen Krieg. Terror gegen die Bevölkerung, der von den Föderalen Kräften [der russischen Armee und russischen Spezialeinheiten] in Tschetschenien verübt wird, erhöht nur die Unterstützung der [tschetschenischen] Kämpfer unter der dortigen Bevölkerung, schafft nur die Voraussetzungen für unmenschlichen Terrorakte.
Aber heute, da Hunderte von Menschen sich den Mündungen von Maschinengewehren gegenüber sehen, ist keine Zeit für Vorwürfe und Anschuldigungen.
Wir hoffen, dass die Führung der Russischen Föderation alles Mögliche zur Lebensrettung der Geiseln tun wird. Gerade das – der Schutz friedlicher Bürger vor Gewalt – soll die einzige Priorität in den Handlungen der Vertreter der Machtorgane sein. Dafür benötigt die Macht Weisheit und Zurückhaltung.
Wir rufen die Führung der Russischen Föderation und Moskaus dazu auf, es nicht zuzulassen, dass das Volk Tschetschenines die Tat einer Gruppe von Terrorsisten verantworten muss, es nicht zuzulassen, dass es zu wiederholten „ethnischen Säuberungen“ in Moskau und anderen Regionen Russlands kommt.
Unabhängig von den deklarierten Forderungen, persönlichen Motiven und subjektiven Absichten der Terroristen, kann die wahnsinnige Aktion in Moskau die Perspektiven einer friedlichen Regulierung in Tschetschenien, die in letzter Zeit realistischer schien als früher, ernsthaft untergraben. Wir rufen die Führung der Russischen Föderation auf, sich nicht auf die Provokation einzulassen und das Geschehene nicht als Beweis für die Unmöglichkeit einer friedlichen Lösung des Tschetschenienproblems anzusehen.
Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass der Konflikt in Tschetschenien ausschließlich auf dem Weg friedlicher Verhandlungen gelöst werden kann. Fragen, die mit der Beendigung der Kampfhandlungen, der „Säuberungen“ und der Terrorakte verbunden sind, kann und muss das Föderale Zentrum [die russische Regierung] unmittelbar mit den Führern der gegnerischen Seite besprechen, in erster Linie mit denen, die die legitim gewählte – aber von Russland nie anerkannte – ausführende und legislative Gewalt in Tschetschenien darstellen. Fundamentale Unstimmigkeiten, inklusive der Frage der Bestimmung des künftigen Status der Republik, können und müssen auf dem Weg einer späteren Ausweitung des Verhandlungsprozesses und der Einbeziehung von Vertretern des gesamten tschetschenischen gesellschaftlich-politischen Spektrums in diesen Prozess entschieden werden.
Die Gesellschaft „Memorial“
Die Moskauer Helsinki-Gruppe
Das Komitee „Bürgerhilfe“
Die Bewegung gegen Gewalt
Der Koordinationsrat der Hilfe für Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelte
Weiterlesen … Über die Geiselnahme in Moskau am 23. Oktober 2002
In einem Schreiben vom 25. Mai 2010 wendet sich der Vorstand der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL erneut an Präsident Medvedev, um eine adäquate juristische Bewertung der Verbrechen von Katyn herbeizuführen:
Anlass ist ein Schreiben der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft vom 09. April 2010, das MEMORIAL als Antwort auf ihren Brief an den Präsidenten vom 2. März d. J. erhalten hat und in dem weiterhin die alten Positionen vertreten werden: Es gebe keine Unterlagen, die die Ausübung „staatlicher Zwangsmaßnahmen“ gegen jeden der polnischen Kriegsgefangenen im Einzelnen belegten. Darüber hinaus werde den dafür Verantwortlichen des NKWD (deren Namen der Geheimhaltung unterliegen) lediglich Artikel 193-17 (b) des Strafgesetzbuches zur Last gelegt – Amtsmissbrauch mit schweren Folgen und unter erschwerenden Umständen. Die in diesem Fall nach 10 Jahren eintretende Verjährung schließe eine Wiederaufnahme des Verfahrens aus.
MEMORIAL macht auf die eklatanten faktischen und rechtlichen Fehler in diesem Schreiben aufmerksam: Es gebe hinreichend Beweismaterial nicht zuletzt aus den sowjetischen Archiven, unter anderem auch Namenslisten der polnischen Kriegsgefangenen, die das NKWD 1940 erstellt hatte. Die gegenteilige Behauptung der Staatsanwaltschaft zeige, dass sie nicht alle vorliegenden Beweise zur Kenntnis genommen habe. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens sei daher unumgänglich.
Vor allem sei aber die Qualifizierung der Verbrechen von Katyn nach Artikel 193-17 unhaltbar. Dieser Artikel betreffe ausdrücklich nur den Amtsmissbrauch führender Armeeangehöriger sowie gleichrangiger NKWD-Funktionäre. Die Partei- und Staatsführung und damit die eigentlichen Verantwortlichen wie Stalin und Molotow seien damit von vornherein ausgeschlossen. Um diese Qualifizierung zu revidieren, sei ebenfalls eine Wiederaufnahme des Erfahrens erforderlich, was die Militärstaatsanwaltschaft unter Hinweis auf die bei Art. 193-17 geltende Verjährungsfrist unterbinde.
MEMORIAL kämpft seit Jahren um die Wiederaufnahme der Ermittlungen in der „Strafsache Katyn“ und hatte bereits an den Präsidenten appelliert, dieses Anliegen vor allem dahingehend zu unterstützen, dass alle Opfer namentlich ermittelt und rehabilitiert sowie alle Verantwortlichen und Beteiligten festgestellt werden.
MEMORIAL bittet den Präsidenten, er möge den Generalstaatsanwalt deshalb zu einer Überprüfung der Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft zu veranlassen, „Wir sind sicher, dass eine gewissenhafte, vollständige und transparente Untersuchung der Verbrechen von Katyn nicht nur für die Normalisierung der russisch-polnischen Beziehungen unerlässlich ist, sondern vor allem auch, um zu verhindern, dass sich der Schatten der Stalinschen Verbrechen auf das heutige Russland legt.“
Vollständig im Original: http://www.memo.ru/2010/05/27/katyn_president.htm
(04.03.2002)
Kommersant - LeTemps.ch
Ou sont passes les combattants tchetchenes d`Al-Qaida?
Wohin sind die tschetschenischen Al-Quaida-Kämpfer verschwunden?
Retour sur une enigme
Das Geheimnis bleibt ungelöst
Samuel Gardaz
Russ. Übersetzung Fedor Kotrelev
Deutsche Übersetzung Marlen Wahren
Seit dem Fall des Taliban-Regimes im November vergangenen Jahres lässt eine Frage den westlichen Beobachtern keine Ruhe: Wohin verschwanden die Tschetschenen, die in den Reihen der Al-Quaida gekämpft haben? Es ist erstaunlich, aber unter Tausend ausländischen Söldnern, die im Laufe des Krieges gegen die Taliban gefangen genommen wurden, befindet sich kein einziger Tschetschene. Im Augenblick befinden sich ungefähr 500 Taliban-Kämpfer in amerikanischer Gefangenschaft, davon 300 im Lager in Guantanamo/ Kuba und 200 in Afghanistan. Weder dort, noch im Gefängnis von Schebargan (in der Nähe von Masari-Scharif) gibt es tschetschenische Häftlinge. In diesem Gefängnis, das General Abdul Rashid Dostum unterstellt ist, sind arabische Staatsangehörige, Pakistani, Franzosen, Briten und sogar österreicher inhaftiert, aber nicht ein Tschetschene.
Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass Tschetschenen in Afghanistan kämpften. Nach offiziellen russischen Informationen zu urteilen, waren es zwischen einigen hundert und einigen tausend. Allerdings muss man mit diesen Ziffern vorsichtig sein: Moskau ist sehr daran interessiert, die Tschetschenen einer Verbindung mit den Taliban und der Organisation von Osama bin Laden "Al-Quaida" zu beschuldigen. Die Tschetschenen selbst weisen diese Informationen kategorisch zurück und bezeichnen sie als eine Erfindung der russischen Propaganda. Die in Katar registrierte Internet-Seite www.kavkaz.org, das Sprachrohr der tschetschenischen Fundamentalisten, meldete noch im November vergangenen Jahres: "Weder die Amerikaner noch die NATO können auch nur einen einzigen gefangenen Tschetschenen als Beweis für die Teilnahme `hunderter oder tausender Tschetschenen`im Afghanistan-Krieg vorweisen."
Der französische Spezialist für Zentralasien und den Islam Oliver Roy geht davon aus, dass in Afghanistan eher sehr wenige Tschetschenen kämpften. Und es würde sich sehr einfach erklären: für die Tschetschenen wäre es nicht im geringsten von Vorteil auf der Seite der Taliban zu kämpfen. "Schließlich haben sie zuhause ihren eigenen Dschichad", sagt der Forscher, "aus diesem Grund waren auch nur wenige Palästinenser in Afghanistan. Außerdem hat der bewaffnete tschetschenische Kampf noch kein internationales Niveau erreicht." Der französische Wissenschaftler nimmt weiterhin an, dass die Mehrheit der Tschetschenen, die in Afghanistan kämpften, Ende November vergangenen Jahres in der Gegend um Kunduz gefallen sind. Diejenigen, die überlebten, versuchten Afghanistan in versiegelten Transportcontainern zu verlassen, aber die meisten von ihnen erstickten. Etwas später, während des Aufruhrs in der Festung Kala-i-Dschangi in der Nähe von Masari-Scharif, kamen hunderte Gefangene ums Leben. Und schließlich sind die letzten überlebenden Tschetschenen möglicherweise in den Kämpfen um Tora-Bora im Dezember ums Leben gekommen. Dieses Gebiet ist bekanntermaßen stark bombardiert worden.
Andererseits ist die genaue Ziffer der überlebenden Tschetschenen auch deswegen schwer zu bestimmen, weil das Wort "Tschetschene" selbst mehrdeutig geworden ist. In Afghanistan zum Beispiel kann jeder, der aus der früheren UdSSR stammt, als Tschetschene bezeichnet werden: Kaukasier genauso wie Tataren und Baschkiden. In dem im Dezember von der Organisation Human Rights Watch veröffentlichten Bericht über das Schicksal der Familien ausländischer Söldner wird das Wort "Tschetschene" nur mit größter Vorsicht verwendet. Noch ein Beispiel für die Mehrdeutigkeit des Wortes gibt das Interview mit dem "amerikanischen Taliban-Kämpfer" John Walker Lindh, der im Gefängnis Kala-i-Dschangi inhaftiert war. Als er die Fragen des Journalisten Robert Young Pelton beantwortete, hatte er große Schwierigkeiten, die Nationalität "Tschetschene", der er in Afghanistan begegnet ist, genauer zu bestimmen.
Die Verwirrung über die nationale Zugehörigkeit derjenigen, die man als Teschetschenen bezeichnet, führte dazu, dass westliche humanitäre Organisationen, die in Afghanistan arbeiten (wie das Rote Kreuz, CICR), Alarm schlugen:
Warum befindet sich unter den Gefangenen kein einziger Tschetschene?
Hält man sie irgendwo versteckt?
Werden die Genfer Konventionen verletzt?
Oder, noch schlimmer, haben ihre Aufseher sie an die usbekische Regierung verkauft?
Tatsächlich sind es die humanitären Organisationen selbst, die solche Gerüchte verbreiten. Hier erinnert man sich daran, dass während der Einnahme von Kunduz Islamabad eine richtige Luftbrücke einrichtete, um die pakistanischen Taliban-Kämpfer auszufliegen. Daraus ergibt sich, dass man die Besorgnis darüber äußert, dass die am Leben gebliebenen tschetschenischen Söldner vom usbekischen Präsidenten, Islam Kamirov, am Ende an Moskau übergeben worden sein könnten. Dort würde man sie zu allen Einzelheiten der antirussischen Stimmung im Kaukasus befragen. Kann es sein, dass es so ist? Schließlich muss Moskau die von den Kämpfern entführten Russen befreien. Eine solche Praktik fand noch im ersten tschetschenischen Krieg 1994-1996 breite Anwendung.
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(29.10.2002)
Sehr verehrter Herr Präsident,
Erleichterung und Trauer prägen heute das Land.
Erleichterung, weil der Alptraum im Kulturhaus "Kristall" ein Ende gefunden hat. Trauer, weil der Erfolg der Befreiungsaktion überschattet wird durch die Tatsache, dass so viele Geiseln bei dieser Aktion zu Tode gekommen sind.
Gestern war für uns alle der Tag tiefer Trauer. Heute sind wir aufgerufen nachzudenken und das Geschehene zu bewerten.
Um das, was in diesen 57 Stunden geschehen ist, ernsthaft analysieren zu können, ist die Gesellschaft noch zu wenig informiert. Das, was bekannt ist, erscheint jedoch widersprüchlich genug. Wir hoffen, dass die staatlichen Behörden so rasch wie möglich detaillierte und wahrheitsgemäße Antworten auf die unzähligen Fragen geben werden, die die Bürger sich im Zusammenhang mit der Geiselnahme in Moskau und deren Befreiung stellen (z.B. Wie konnte geschehen, was geschah? Musste man bei dieser Aktion auf ein so gefährliches Mittel wie Gas zurückgreifen, das Terroristen und Geiseln gleichermaßen traf? Und viele weitere Fragen). Wir sind sicher, dass die Ereignisse der vergangenen Woche eine ernsthafte und eingehende Diskussion in der Gesellschaft auslösen werden - über die Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck im Kampf gegen den Terrorismus, die Prioritäten des Staates in Krisensituationen, in denen Menschenleben auf dem Spiel stehen, den Preis, der für eine erfolgreiche Aktion gegen die Terroristen gezahlt werden darf, usw.
Die Tragödie in dem Moskauer Theater ist bereits Geschichte. Jetzt müssen wir für die Zukunft daraus lernen. Eine dieser Lehren ist die Notwendigkeit einer unverzüglichen Lösung des Tschetschenienkonflikts.
Dass dieser Konflikt mehr als eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Föderation und Separatisten auf einem winzigen Flecken Erde unseres Landes ist, steht nunmehr ausser Frage. Die furchtbare Lehre aus "Nord-Ost" lautet sicherlich, dass die schwärende Wunde Tschetschenien ganz Russland erfasst hat.
"Memorial" hat immer wieder öffentlich darauf hingewiesen, dass der Tschetschenienkonflikt nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden kann. Jedenfalls nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln. Das jetzige militärische Vorgehen in Tschetschenien führt in die Sackgasse. Es ist sinnlos, einen Ausweg durch militärische Gewalt zu suchen: gegen Partisanen und Sabotage gibt es keine "militärisch überlegene Macht", und Staatsterror gegen die Bevölkerung als Antwort auf Sabotageakte führt nicht zum Ziel, sondern fördert nur die Unterstützung für die Kämpfer.
Wir kennen die aktuelle Situation in Tschetschenien und sind überzeugt von der Sinnlosigkeit der pseudolegitimen Inszenierung von "Wahlen" und "Volksabstimmungen"; wie sie noch kürzlich vorgeschlagen wurden. In einem Land, das sich im Krieg befindet, kann man damit niemanden täuschen, sondern höchstens die ohnehin angespannte Lage weiter verschärfen. Neue Rebellenführer von Schlage eines Barajew oder Basajew verhindert man so nicht.
"Memorial" ist überzeugt, dass es als ersten Schritt aus der Sackgasse zu einer bilateralen Vereinbarung zwischen Separatisten und der Föderation über die Einstellung sowohl der Militäraktionen und "Säuberungen" als auch der Sabotage- und Terrorakte kommen muss.
Wir verstehen, dass ein solcher Schritt von Ihnen großen politischen Mut verlangt. Wir verstehen, was die "Falken", die eine "endgültige Lösung für das Tschetschenienproblem" nur durch Waffengewalt fordern, jetzt von Ihnen erwarten. Aus dem Medienecho kann man schließen, dass auch ein gewisser Teil der Öffentlichkeit diese Meinung teilt.
Dennoch ist gerade jetzt, nach der Lösung des Geiseldramas, das politische Klima und die Stimmung in der Gesellschaft einzigartig günstig für Schritte in Richtung Frieden. Gerade jetzt wird niemand wagen zu behaupten, die russische Regierung sei von bewaffneten Banditen zu diesem Schritt gezwungen worden oder eine Geste in Richtung Frieden sei eine nationale Schande für Russland. Heute kann sich der russische Staat mehr denn je ein vernünftiges und verantwortungsvolles Herangehen an das Tschetschenienproblem leisten.
Außerdem wäre eine friedliche Lösung des Problems ein wirkungsvoller Schlag gegen den Terrorismus.
Gestatten Sie, dass wir Ihnen kurz die Haltung von "Memorial" zu den Grundzügen einer potentiellen Lösung des Tschetschenienkonflikts darstellen.
Am Ende der ersten Etappe einer solchen Lösung könnten Vereinbarungen zwischen den unmittelbar am Konflikt Beteiligten stehen.
Der Verzicht auf separatistische Forderungen kann ebenso wenig eine Vorbedingung sein wie die Annahme solcher Forderungen durch Russland als ein Apriori. Diejenigen Separatisten, die nicht in Terrorakte gegen Zivilisten verwickelt waren und bereit sind, den bewaffneten Widerstand zu beenden und gewaltlose und legale Methoden zur Verwirklichung ihrer Vorstellung für die Zukunft Tschetschenien anzuwenden, dürfen nicht als Verbrecher und Banditen betrachtet werden. Es darf nur eine einzige "Vorbedingung" geben: die Beendigung sowohl des Terrors von Militär und Polizei gegen die Bevölkerung wie auch des Partisanenterrors gegen die Truppen der Föderation, die Staatsbediensteten und lokalen Beamten und die Gegner des Separatismus in Tschetschenien selbst - und natürlich die kategorische Verurteilung von Terrorakten außerhalb des tschetschenischen Gebiets. Militärische Mittel dürfen nur gegen jene eingesetzt werden, die den Verhandlungsweg ablehnen und auf der Anwendung von Gewalt bestehen.
An solchen Vorgesprächen zur Beendigung von Gewalt und Blutvergießen würden als Verhandlungspartner führende politische und militärische Vertreter der Russischen Föderation einerseits und die Führer der tschetschenischen Separatisten andererseits teilnehmen, in erster Linie die Vertreter der 1997 gewählten tschetschenischen Gremien (Russland hatte diese Wahlergebnisse seinerzeit anerkannt).
Heute ist ein eventueller Verhandlungsprozess dadurch erschwert, dass sich der führende Politiker und offizielle Kommandierende der Separatisten Aslan Maschadow während der Moskauer Tragödie schwer kompromittiert hat. Einmal abgesehen von Barajews Behauptung, sein verbrecherischer Akt sei angeblich mit Maschadow abgestimmt gewesen (andere Argumente, die für diese These angeführt wurden, sind in unseren Augen kaum beweiskräftig), kommen wir nicht umhin zu bemerken, dass sein Verhalten in diesen Tagen unwürdig und mehr als zweideutig gewesen ist. Bis zu jenem Moment, als das Ergebnis der Erstürmung des Kulturhauses "Kristall" bekannt wurde, hatte Maschadow nicht den Mut, den barbarischen Terrorakt und die Ausführenden deutlich zu verurteilen oder die sofortige bedingungslose Freilassung der Geiseln zu fordern. Mehr noch, aus einigen der Erklärungen, die A. Sakajew in Maschadovs Namen abgegeben hat, spricht zwar nicht Unterstützung, doch zumindest Verständnis für die Terroristen. Bis heute hat er sich nicht zu einer klaren Verurteilung der Barajew-Leute und ihrer Aktion durchringen können.
Dennoch gehen wir davon aus, dass Maschadow weiterhin ein wichtiger potentieller Partner in Verhandlungen über eine Beendigung des Widerstands in Tschetschenien ist, und sei es allein deshalb, weil ihm der Wahlsieg von 1997 eine gewisse Legitimität verleiht. Dafür sprechen auch pragmatische Überlegungen: erstens kontrolliert er weiterhin einen gewissen (einigen Angaben zufolge einen bedeutenden) Teil der bewaffneten Separatisten, zweitens ist er immer noch eine Autorität für große Teile der tschetschenischen Bevölkerung, und drittens halten ihn die meisten Beobachter für den gemäßigtsten Vertreter aus dem Lager der tschetschenischen Separatisten, mit dem überhaupt verhandelt werden kann.
Natürlich wären diese Vorgespräche nur ein erster Schritt hin zu einer Lösung. Grundlegende Probleme wie die Frage nach dem zukünftigen Status von Tschetschenien müssten angegangen werden, indem man den Verhandlungsprozess ausweitet und das gesamte politische und gesellschaftliche Spektrum in Tschetschenien, Befürworter wie Gegner des Separatismus, einbezieht. Für die zweite Etappe wäre eventuell eine "Friedensversammlung", wie sie von einigen russischen Politikern vorgeschlagen wurde, die günstigste Lösung. Die Modalitäten für die Einberufung einer solchen Versammlung könnten Thema der ersten Verhandlungsetappe sein, direkt nach der Beendigung von Partisanenkrieg und Gewalt auf beiden Seiten.
Wir sind uns bewusst, dass unsere Vorschläge nicht die einzig mögliche Vorgehensweise sind. Doch es erscheint uns außerordentlich wichtig, dass Sie unverzüglich und öffentlich wenigstens die Absicht der russischen Regierung bekunden, eine friedliche Lösung zu suchen. Wir sind überzeugt, dass mit einem solcher Schritt des russischen Staatsoberhauptes eine neue Epoche nicht nur der Geschichte des Tschetschenienkonfliktes, sondern der Geschichte Russlands beginnen würde.
Der Vorstand "Memorial"
(10.11.2002)
Am 9. und 10. November 2002 tagte in Moskau die Internationale Konferenz "Für die Beendigung des Krieges und Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien", an der russische und tschetschenische Menschenrechtsorganisationen teilnahmen, darunter das Menschenrechtszentrum von Memorial, das Andrej-Sacharow-Zentrum, das russische PEN-Zentrum, das Komitee der Soldatenmütter, das Tschetschenische Komitee der Nationalen Rettung, der Tschetschenische Antikriegskongress und das Komitee für Tschetschenisch-Russische Freundschaft. Auch Vertreter verschiedener Parteien und Institutionen waren gekommen, unter ihnen der Vorsitzende der Jabloko-Partei Grigorij Jawlinski sowie die Duma-Abgeordneten Sergej Kowaljow und Jurij Rybakow.Auf der Konferenz wurden Fragen im Zusammenhang mit einer Beendigung des Krieges in Tschetschenien und Möglichkeiten einer friedlichen Beilegung des Konflikts erörtert.
Es folgt die auszugsweise Wiedergabe der
- Rede des Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums von Memorial, O. Orlow
- eines Beschlusses
- einer Resolution
- eines Memorandums
- und eines Appells an die EU-Staats- und Regierungschefs.
Die Konferenz beauftragte in einem Beschluss das Russländische Interethnische Komitee "Für die Beendigung des Krieges und Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien" mit der Einsetzung einer internationalen Kommission, die eine rechtliche Bewertung des Vorgehens der Konfliktparteien vornehmen soll. Mitglieder der Kommission sollen Juristen und Experten aus der Russsischen Föderation und anderen Staaten sein, in jedem Fall aber auch Juristen und Experten, die in Tschetschenien tätig sind. Außerdem soll das Komitee bekannte Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft, Politik und Kultur zu einem Engagement gegen den Krieg ermutigen und eine Reise dieser Personen in das Konfliktgebiet organisieren.
In einer Resolution stellten die Teilnehmer der Konferenz fest, dass die Versuche der russischen Regierung, mit Gewalt das Problem des tschetschenischen Separatismus zu lösen, Tod und Leid für Hunderttausende von Menschen gebracht und die Region in eine humanitäre Katastrophe gestürzt haben. Eine Fortsetzung des Krieges würde noch mehr Elend sowohl für Tschetschenien als auch für Russland bedeuten. Die Konferenz begrüßte das Engagement vieler Gruppen für eine Beendigung des Krieges und hob die Notwendigkeit einer Koordinierung der Antikriegsbewegung hervor. Alle gesellschaftlichen und politischen Organisationen, die sich für demokratische und humanistische Prinzipien, Menschenrechte und -freiheiten und die Stärkung der Zivilgesellschaft in Russland einsetzen, wurden aufgerufen, sich daran zu beteiligen. Mit den organisatorischen Aspekten der Koordinierung der Antikriegsbewegung wurde das Interethnische Russländische Komitee "Für die Beendigung des Krieges und Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien" beauftragt.
Zusammenfassung der Rede von Oleg ORLOW auf der Internationalen Konferenz "Für die Beendigung des Krieges und die Herstellung von Frieden in der Republik Tschetschenien"
Orlow (O.) führte zunächst aus, dass er auf dieser dem Schutz der Menschenrechte - aber nicht nur diesem - gewidmeten Konferenz eine Reihe von Aspekten des Tschetschenien-Konfliktes berühren wolle, die in der Regel von den Menschenrechtsorganisationen nicht behandelt würden.
Als erstes bezweifelt O. die Daten der kürzlichen Volkszählung an, nach denen in Tschetschenien (Tsch) 1,88 Mio Menschen lebten. Um auf diese Zahl zu kommen, hätten nicht nur alle tschetschenischen Flüchtlinge nach Tsch. zurück kehren müssen, sondern auch sämtliche Flüchtlinge der 90-er Jahre anderer Volkszugehörigkeit. Darüber hinaus sei auch noch ein erheblicher Bevölkerungszuwachs nötig, um auf diese Zahl zu kommen - angesichts zweier Kriege und des Zusammenbruchs auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet eine Absurdität.
Gleichermaßen unwahr seien andere offizielle Zahlenangaben über Tsch., so die Zahl der Angehörigen illegaler bewaffneter Einheiten (Kämpfer), Angaben über Verluste derselben und über konkrete Militäraktionen. O. stellt die offiziellen Zahlen den mit Kräften seiner Organisation vor Ort gesammelten Daten gegenüber und führt anhand von Fakten schlüssig den Beweis für die Falschheit der Ersteren.
O. fürchtet um die Sicherheit des Landes, wenn sich dessen Führung in ihren Aktionen von derartig falschen Angaben leiten ließe. Auch der Anführer der Geiselnehmer von Moskau Barajew sei vor seinem Auftauchen in Moskau schon zweimal offiziell tot gemeldet gewesen.
Ähnlich sehe es hinsichtlich des möglichen Eindringens tsch. Kämpfer aus Georgien aus. Die föderalen Kräfte behaupteten, ein solches Eindringen sei unmöglich - im September sei das Gegenteil der Fall gewesen.
Bezüglich der Kämpfer - oder wie immer man die Gegner der föderalen Kräfte nennen wolle - sei die Situation nicht viel anders. Entgegen mehrfacher Ankündigungen sei es nicht zu einer militärischen Großaktion im Frühling oder Sommer 2002 und somit auch nicht zu einer grundlegenden Änderung der militärischen Lage in Tsch. gekommen.
Eine militärische Lösung des Konflikts erweise sich mehr und mehr als unmöglich. Die politische und militärische Führung Russlands setze daher auf seine "Tschetschenisierung" - die Tschetschenen sollten untereinander kämpfen und die föderalen Kräfte würden sich allmählich zurück ziehen. (Beweis: Einrichtung von tschetschenischen Milizstrukturen, Behörden für Inneres und Sondertruppen (OMON). Diese tsch. Einheiten versuchten oft, Grausamkeiten gegenüber der Zivilbevölkrung durch russ. Einheiten zu verhindern und würden dafür von Letzteren oft bestraft. Man müsse sich dann fragen, ob diese Kräfte noch eine Hilfe für die Föderalen sein würden. Andererseits gebe es auch Übergriffe von seiten der neu eingesetzten tsch. Milizbehörden, was letztlich zu neuen Konfrontation der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen führen müsse.
Ein weiteres Problem sei die Durchsetzung der Milizeinheiten mit "Kämpfern" und die Tätigkeit der Ersteren mit Billigung der Letzteren. Dies führe zu Aktionen der tsch. Miliz gegen eigene und föderale Einrichtungen und zu Hilfestellungen der Miliz zugunsten der Kämpfer.
All dies zeige, dass eine "Tschetschenisierung" nicht den gewünschten Effekt haben könne und dass eine fortgesetzte militärische Lösung des Konflikts allein Sache der föderalen Kräfte sein werde.
Dies bedeute aber auch die andauernde Belastung der Zivilbevölkerung, die der Gewalt von jeder Seite ausgesetzt sei. Sie sei das Hauptobjekt der Aktionen der sich gegenüberstehenden Kräfte des Konflikts.
O. beschreibt weiter detailliert Beispiele von Gewalt und Terror gegen die Zivilbevölkerung vonseiten der Kämpfer in Tsch. aber auch in anderen Teilen Russlands.
Die russische Führung versuche, die Bekämpfung solcher Gewaltakte als Teil des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus darzustellen. Die föderalen Kräfte beantworteten diesen Terror mit genau den gleichen Terroraktionen (Ermordung von Zivilisten, Zerstörung ganzer Dörfer, sog. Säuberungen von Ortschaften, die von großangelegten Verhaftungen, Verprügelungen und Morden begleitete seien, illegale Filtrationslager, in denen Willkür jeglicher Art ausgeübt werde).
Die russische militärische Führung versuche zwar durch entsprechende Befehle, Terror und Gewalt im Zuge dieser Säuberungen zu verbieten, die föderalen Einheiten hielten sich aber demonstrativ nicht an solche Befehle, was beweise, dass sie letzlich nicht mehr steuerbar seien und sich mehr und mehr der Befehlsgewalt von oben entzögen. Dies sei eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands.
Putin habe das Ende von großangelegten Sonderoperationen der föderalen Kräfte angekündigt, doch es falle schwer, an diese Worte zu glauben. Auch zielgerichtete Operationen seien ein Mittel des Terrors der Föderalen. Die Anzahl der "Verschwundenen", die man später z.T. tot und mit Foltermerkmalen wieder finde, gehe in die Tausende, es handele sich um einen Terror, der innerhalb der föderalen Truppen erfolge und den man mit Fug und Recht mit dem von Stalin vergleichen könne.
Die Zahl der wegen Gewalthandlungen eingeleiteten Strafverfahren sei äußerst gering, die der Verurteilungen gleich Null.
Gleichzeitig müsse gesagt werden, dass dieser Terror nicht für alle Angehörigen der föderalen Einheiten charakteristisch sei, es gebe auch Beispiele der Rettung von Zivilisten durch einzelne Angehöriger der Föderalen. Die Anzahl der Terrorbeispiele überwiege jedoch.
Die tsch. Bevölkerung habe vor drei Jahren den Einmarsch der föderalen Einheiten mit der Hoffnung auf ein Ende von Gewalt und Banditentum begrüßt. Terror und Gewalt der Föderalen hätten dieses positive Verhältnis ins Gegenteil verkehrt.
Und was bedeuten die Gewaltakte der Angehörigen der föderalen Einheiten für Russland? Als was für Menschen kehren die jungen Soldaten und Milizionäre in ihre Heimat zurück, nachdem sie ungestraft Gewalt in jeder Form anwenden durften?
All dies führe in eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg gebe, wenn man weiter auf Gewalt setze und - besonders nach der Moskauer Geiselnahme - eine politische, friedliche Lösung ausschließe.
Das Gegenteil sei richtig. Gerade jetzt, nachdem der Präsident Festigkeit gezeigt habe - für welchen Preis, wolle O. hier nicht erörtern - , nachdem er der Erpressung nicht nachgegeben habe, sei der Moment gekommen, den Konflikt in Tsch. vernünftig anzugehen und dem Terrorismus den Boden zu entziehen.
"Memorial" sei immer für eine friedliche Konfliktlösung eingetreten - das letzte Mal in einem offenen Brief an den russischen Präsidenten am Tag nach dem nationalen Trauertag. Frieden sei der schlimmste Schlag gegen den Terrorismus und die würdigste Art, die umgekommenen Geiseln zu ehren.
In einem Memorandum erklärten die Konferenzteilnehmer, dass die unverzügliche Aufnahme von Gesprächen die Grundvoraussetzung aller Bemühungen um eine friedliche Lösung sei. Dabei dürfe die Aufnahme dieser Gespräche an keine Vorbedingungen geknüpft werden.
Die Haltung der westlichen Staats- und Regierungschefs käme nach Auffassung der Konferenzteilnehmer einer Duldung der gravierenden und massenhaften Verletzung der grundlegenden Menschenrechte in Tschetschenien gleich.
Die Fortsetzung des Krieges führe in der gesamten Russischen Föderation zu einer Verletzung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen sowie zu erhöhter Kriminalität und Korruption; sie schade dem internationalen Ansehen Russlands, berge die Gefahr einer Ausweitung der Auseinandersetzung auf andere Regionen des Landes und leiste dem Terrorismus Vorschub.
Die Konferenzteilnehmer kamen überein, möglichst rasch eine Folgekonferenz zu veranstalten und mit deren Ergebnis an die Verantwortlichen in der Russischen Föderation und in Tschetschenien und darüber hinaus an die Weltöffentlichkeit heranzutreten. Dabei würden u.a. folgende grundlegende Fragen behandelt:
- das Format, in dem die Gespräche geführt werden sollen
- die Internationalisierung des Friedensprozesses (Entsendung internationaler Beobachter, Einbeziehung der VN, Einsatz von Friedenstruppen usw.)
- der künftige Status und die politische Ordnung für Tschetschenien.
Die Konferenzteilnehmer erinnerten in einem Appel an die EU-Staats- und Regierungschefs anlässlich des bevorstehenden Treffens mit Präsident Putin an den seit Jahren andauernden bewaffneten Konflikt in Tschetschenien, der eine humanitäre Katastrophe in der Region ausgelöst habe.
Der Europäische Rat wird aufgefordert, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um dem Krieg ein Ende zu setzen, die Achtung der Menschenrechte zu unterstützen und eine friedliche Lösung im nördlichen Kaukasus zu fördern.
Die Konferenzteilnehmer vergleichen die mit dem Tschetschenienkonflikt verbundenen Gefahren und menschlichen Tragödien mit dem Nahostkonflikt und sind der Auffassung, dass eine Friedenslösung im Kaukasus die gleiche Aufmerksamkeit wie dem Frieden für Palästina zukommen müsse.
Sie sind der Überzeugung, dass es keine Friedenslösung ohne politische Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien geben kann und appellieren an die Staats- und Regierungschefs, die zwangsweise Rücksiedlung Vertriebener nach Tschetschenien nicht zuzulassen, solange die Situation dort nicht vollständig stabil sei und Krieg und Unterdrückung ein Ende gefunden haben.